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Weltstadt São Paulo

 

 

 

 

CHRISTOPH HAASE

92-115-062

 

 IM NOVEMBER 2000

 

SEMINARARBEIT IM HAUPTFACH ETHNOLOGIE

an der Universität Bern

 

Eingereicht bei Prof. W.Marschall,

betreut von lic.phil. Angela Stienen

 

 

 

Inhalt:                                                           

 

Einleitung und Fragestellung                                                     

 

1.      Die Weltstadt                                                                            

1.1.   Globalisierung der Stadt                                                           

1.2.   Global City                                                                                        

1.3.   Globale Peripherie                                                                  

 

2.      São Paulo                                                                               

2.1.   Historische Entwicklung                                                         

2.2.   Stadtplanung                                                                           

2.3.   Lebensqualität und Umweltprobleme                                    

 

3.      Segregation                                                                              

3.1.   Die Peripherie                                                                         

3.2.   Befestigte Enklaven                                                                  

 

4.      Die wirtschaftliche Grossregion São Paulo                           

 

         Schlussbemerkungen                                                              

 

Bibliographie                                                                         

 

 

 

Einleitung und Fragestellung

 

 

Die Übungsveranstaltung ‚Wem gehört die Stadt?‘ an der Universität Bern im Sommersemester 2000 lenkte mein Interesse auf Fragen der städtischen Entwicklung in einem globalisierten Umfeld, insbesondere auf die strukturellen Zwänge die aus diesem Umfeld heraus entstehen und die Stadtentwicklung stark beeinflussen. Mit der zunehmenden weltweiten wirtschaftlichen Verflechtung im Zuge der Globalisierung sind in den Grossstädten der dritten Welt die städtischen und sozialen Probleme noch grösser geworden. Strukturelle Abhängigkeiten und Problemursachen sind noch viel weniger auf das lokale Umfeld zurückzuführen, sondern bedingen das Verstehen eines Kontextes, der erweiterte politische, wirtschaftliche und soziale Gegebenheiten miteinbezieht.

Andererseits wuchs auch mein Interesse an Fragen, die sich bereits Vertreter der Chicago School of Sociology in den zwanziger und dreissiger Jahren gestellt haben, nämlich wie das städtische Zusammenleben vonstatten geht,  wie das menschliche Verhalten von räumlichen Umständen beeinflusst wird, wie Segregation und Enklavenbildung entstehen. Daneben gilt es Fragen zu berücksichtigen, welche sich auf den Zusammenhang von Konflikten und Machtstrukturen beziehen und die Klassen- und Rassenunterschiede behandeln.

 

Die oben gennanten Problemstellungen führten dazu, dass ich mich eingehender mit São Paulo, der grössten Stadt Brasiliens, beschäftigte. Alle oben genannten Fragestellungen lassen sich direkt auf São Paulo anwenden. Es geht mir nun darum, die Stadtentwicklung São Paulos in den letzten Jahrzehnten zu verstehen und die heutigen Probleme und besonderen Merkmale São Paulos anhand obiger Fragen aufzuzeigen.

 

Mein Interesse gilt einerseits einer makroökonomischen Sichtweise der Weltstädte, welche auch Rückschlüsse auf die Stärken und Schwächen São Paulos im internationalen Kontext erlaubt. Andererseits ist es mir wichtig aus historischer Sicht die Bedeutung von Stadtplanung und Migration in Bezug auf die nationale Wirtschaftsentwicklung Brasiliens aufzuzeigen. Daraus folgend sollen soziale Probleme angesprochen werden; im besonderen geht es darum wie Gewalt, Segregation und Enklavenbildung sich auf die Lebens- und Verhaltensweisen der Menschen in der Stadt auswirken und welche Implikationen sich daraus für die Stadtentwicklung ergeben.

Mein Anliegen ist es durch das Erklären struktureller ökonomischer und sozialer Zwänge die Verhaltensweisen der städtischen Bevölkerung und die Richtung, in welche die städtische Entwicklung São Paulos geht, besser zu verstehen.

 

In der ethnologischen Stadtforschung wird seit den 80er Jahren auch der Einbezug des politisch-ökonomischen Gesamtkontextes gefordert, um den Blickwinkel der urbanen Forschung zu erweitern (Kokot 1990:6). Deshalb geht es in dieser Arbeit zuest darum, die hierarchische Position São Paulos als Weltstadt näher zu untersuchen. Im ersten Kapitel werden generell die Funktionen und Besonderheiten einer Weltstadt in einem globalisierten Umfeld bestimmt, um in der Folge mit verschiedenen Indikatoren eine Hierarchie der Weltstädte festzulegen. Die hieraus gezogenen Erkenntnisse zeigen zugleich Chancen und Beschränkungen der einzelnen Städte auf. Das Verstehen makroökonomischer Zusammenhänge erachte ich als eine wichtige Voraussetzung, um anschliessend die historische Entwicklung und die sozialen Phänomene einer konkreten Stadt, São Paulo, verstehen zu können.

 

Im zweiten Kapitel soll eine Darlegung der Entwicklung São Paulos im 19. und 20. Jahrhundert dazu dienen, die Ursachen der heutigen Probleme aufzuzeigen. Im besonderen geht es dabei um drei Aspekte:

-                        die Stadtplanung,  welche die geographische Ausdehnung in sozial stratifizierten, konzentrischen Kreisen vom Zentrum zur Peripherie hin begünstigte,

-                        den engen Zusammenhang zwischen Industrialisierung,  Migrationsschüben und Arbeitsformen

-                        die Folgen, welche Umweltverschmutzung und Verkehrsdichte auf die Lebensqualität haben.

 

Im dritten Kapitel geht es darum, einige besondere städtische Probleme São Paulos genauer zu untersuchen. Es geht dabei um die Ursachen der gesellschaftlichen Segregation, wie die Segregation vonstatten geht und welches ihre Folgen sind. Dabei werden folgende Thesen vertreten:

-                        die soziale Ungleichheit führt zu einer räumlichen Trennung der Wohngebiete; dies wirkt sich in der Entwicklung der Region São Paulo in verschiedener Weise aus.

-                        Segregation geht von der Oberschicht aus und führt zu völlig getrennten Lebenswelten, was nachhaltig das Verhältnis der reichen Eliten zu den Armen beeinflusst, und auch zu einer neuen Betrachtungsweise des öffentlichen Raumes führt und neue Verhaltensweisen und Wertvorstellungen mit sich bringt.

 

Im vierten Kapitel geht es in einem letzten Schritt um die grosse wirtschaftliche Bedeutung der Stadt São Paulo für den südamerikanischen Kontinent und damit auch darum, die in Kapitel drei angesprochenen Aspekte der städtischen Kultur wieder in Beziehung zum makroökonomischen Kontext zu setzen.  Wichtig ist mir dabei aufzuzeigen, dass die Probleme São Paulos und ihre Folgen in direktem Zusammenhang mit der Art und Weise der Integration in den Weltmarkt und dem Verhalten der städtischen Elite zusammenhängen. Die eigentlichen Ursachen der städtischen Probleme können deshalb durch eine Bekämpfung der Symptome gar nicht angegangen werden.

 

 

1.     Die Weltstadt

 

1.1.        Globalisierung der Stadt

 

Ein Städtesystem entsteht dann, wenn sich die Interessen und Aktivitäten bestimmter Gruppen in einigen Städten über einen gewissen Zeitraum hinweg decken oder komplementär sind. Seit Ende des 19. Jahrhunderts besteht ein solches Städtesystem, das sich im Zuge der Industrialisierung ergeben hat. Möglich gemacht wurde dies durch technische Innovationen wie die Eisenbahn, Dampfschiffe, Elektrizität und organisationelle Veränderungen der Arbeit (Korff in Feldbauer 1997:22).

Allgemein wird angenommen, dass die globalen Verbindungen über ein Städtesystem vonstatten gehen, wobei einige Städte wichtige Knotenpunkte bildnen; diese Städte erfüllen Kontrollfunktionen in der Organisation des Weltsystems. Demnach sind Weltstädte diejenigen Städte mit spezifisch global relevanten Funktionen.

Die heutigen Probleme der grossen Städte und Agglomerationen sind überall ähnlich; das deutet darauf hin, dass dies mehr mit der Dynamik des internationalen Städtesystems zu tun hat, als mit dem Umfeld im eigenen Land.

Früher waren Regionen über die Städte miteinander verbunden; die Städte waren weltweit vernetzte Kontrollzentren in einem regionalen Kontext. Mit der Globalisierung hat sich aber eine relative Loslösung der Städte von den sie umgebenden Regionen und gleichzeitig eine engere Verbindung untereinander ergeben. Dabei wird die Position solcher Städte im natinoalen Kontext gestärkt, denn die globalen Informationsflüsse brauchen eine umfassende Infrastruktur zur Kontrolle und Verarbeitung (Sassen in Hitz 1995:47f).

Der Prozess der Globalisierung wird hierbei verstanden als internationaler Verflechtungsprozess von Kapital, Arbeitsmärkten, Handel, Verkehr und Kommunikation (Bronger in Feldbauer 1997:51).

In den Städten werden weltweite Beziehungen verstärkt zu einem globalen Stadtsystem. Traditionelle Einheiten und Hierarchien wie der Nationalstaat und die nationale Wirtschaft verlieren an Bedeutung, während neue Formen der Integration und transnationale Organisationsformen in Wirtschaft und Politik wichtiger werden (Kipfer/Keil in Hitz 1995:68). Es ergibt sich dabei aber keine neue globale Hierarchie, sondern es besteht ein Nebeneinander verschiedener Ordnungen und Vergemeinschaftungsformen.

Die Globalisierung gründet einerseits auf neuen Transport- und Informationstechnologien, andererseits sind die Transformationen in der Industrieproduktion eng an die Internationalisierung der Kapitalmärkte gekoppelt.

Erst die beginnende Transnationalisierung der Wirtschaft hat somit eine Situation der globalen Konkurrenz überhaupt ermöglicht. Hierbei spielen nun die Weltstädte eine entscheidende Rolle als Orte, wo Aktivitäten, Funktionen und Informationen konzentriert und wo transnationale Akteure miteinander verbunden sind.

Städte, die aufgrund ihres ökonomischen und technologischen Wandels an Bedeutung gewannen, sind auch Zentren der Migration geworden. Es lässt sich über grosse Entfernungen hinweg eine quantitative Zunahme an Migrationsbewegungen feststellen; dies betrifft sowohl die hohen Einkommensgruppen als auch die Armutsmigranten.

In der Folge führt dies in den Weltstädten zu einer kulturellen Diversifizierung, zu einer Koexistenz verschiedener Kulturen im städtischen Kontext. Durch die starke Verbreitung der Massenmedien in den Weltstädten kommt zur realen Koexistenz auch noch eine virtuelle Koexistenz der verschiedenen Kulturen hinzu (Korff in Feldbauer 1997:25). Die Globalisierung der Kultur führt dazu, dass Waren, Informationen und Symbole, losgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext, mit unterschiedlichsten Konnotationen und neuen Bedeutungen ausgestattet werden.

Es ergibt sich daraus einerseits eine selektive globale Integration in eine internationale Gesellschaft und andererseits eine lokale Abgrenzung, die der eigenen Identitätsfindung dient, sowie eine Fragmentierung sozialer und kultureller Grenzen innerhalb der Stadt. Fragmentierung bedeutet, dass die Stadtbewohner wenig gemein haben und in Anonymität und gegenseitiger Ignoranz leben (Korff in Feldbauer 1997:33).

Globalisierung bedeutet somit keine Integration der gesamten Erde in ein Weltsystem, sondern eine globale Verknüpfung von verschiedenen Netzwerken, die nebeneinander existieren. Städte sind dabei die Knotenpunkte und Kontrollzentren einer vernetzten globalen Gesellschaft. Gerade im Bereich der Integration liegt das Konfliktpotential der modernen städtischen Gesellschaft.

 

Im Zuge der Globalisierung hat sich der Trend hin zu einer Konzentration des tertiären Sektors in den Zentren der Städte verstärkt. In den Innenstädten siedeln sich neben Verwaltung, Dienstleistungsbetrieben und Handel auch die Zentralen und das Management der Unternehmen an. Die Industrieproduktion wird dezentralisiert und in die städtische Peripherie ausgelagert (Sassen in Hitz 1995:51ff), zusehends aber auch in periphere Regionen der Metropolen der neuindustrialisierten Länder der dritten Welt, was in der Folge in vielen Industriestädten der ersten Welt zu grossen Problemen führte.

Mit der Konzentration von Dienstleisungs- und Managementfunktionen in den Innenstädten geht auch die Ausweitung der Niedriglohnarbeit und des informellen Sektors einher (Kipfer/Keil in Hitz 1995:82). Die unterschiedlichen Gruppen konkurrieren im städtischen Raum um Zugang zu Arbeitsplätzen und zunehmend teurerem Wohnraum. Die soziale Polarisierung wird durch die Globalisierung in den Weltstädten zusehends verstärkt.

 

 

1.2.        Global City

 

Es soll nun zuerst die begriffliche Abgrenzungvon Weltstadt zu Metropole und Megastadt gemacht werden. Ich finde die von Bronger (in Feldbauer 1997:37) gemachte Unterscheidung sinnvoll; er definiert eine Metropole als eine Stadt mit mehr als 1 Million Einwohnern, und eine Megastadt als eine Stadt mit mehr als 5 Millionen Einwohnern.

Das Kriterium der Einwohnerzahl ist für die Definition einer Weltstadt nicht von entscheidender Bedeutung; andere qualitative Wirtschaftsfaktoren spielen dabei eine entscheidendere Rolle. Allerdings gibt es in der Literatur keine Einigkeit und keine vollends befriedigende Lösung der Definition einer Weltstadt.

 

Den Unterschied zwischen einer Megastadt in einem Industrieland und einem Entwicklungsland sieht Bronger im Ausmass ihrer funktionalen Vorherrschaft im eigenen Land (Bronger in Feldbauer 1997:41). Diese ‚funktionale Primacy‘ ist in den Megastädten und Metropolen der dritten Welt viel ausgeprägter als in den Megastädten der Industrieländer; zudem ist das Qualitätsgefälle von Einrichtungen im Gesundheits- und Bildungswesen zwischen Stadt und Peripherie in den Entwicklungsländern viel grösser. Verstärkt wird die funktionale Hegemonie der Megastädte der Entwicklungsländer noch dadurch, dass ein Grossteil der internationalen Konzerne, Banken und Organisationen ihre Aktivitäten in diesen Megastädten konzentrieren.

 

Welches sind die besonderen Merkmale einer Global City ?

Für die Forscher der Chicago School of Sociology ging es darum, den Einfluss räumlicher Faktoren auf die städtische Sozialorganisation herauszufinden; die Grossstadt galt als ein heterogenes, weitgehend strukturloses Gesamtgebilde, das durch entremdete, zweckgebundene Beziehungen seiner Bewohner gekennzeichnet ist. Weltstädte wurden als  nationale Zentren von Wirtschaft und Politik verstanden. Wirths Definition der Stadt aus den dreissiger Jahren anhand der drei Kriterien Grösse, Dichte und Heterogenität vermag der heutigen Komplexität städtischer Phänomene nicht mehr gerecht zu werden; auch das von Redfield in den vierziger Jahren vorgelegte Konzept eines Kontinuums zwischen städtischer und ländlicher Gesellschaft belässt es bei der Untersuchung von Problemen und Prozessen auf der lokalen Ebene (Kokot 1990:3f). Obwohl die Untersuchung der gesellschaftlichen Mikroebene weiterhin eine Stärke des ethnologischen Ansatzes ist, nimmt die Bedeutung von Erklärungen auf der Makroebene für die Stadtforschung weiter zu.

Deshalb setzt Clark ganz auf wirtschaftliche Faktoren um eine Weltstadt von einer anderen Grossstadt zu unterscheiden. Er sagt, dass eine Weltstadt derjenige Ort ist, wo diejenigen Schlüsselpersonen, -institutionen und -organisationen ansässig sind, die den Kapitalismus weltweit managen, manipulieren und diktieren. Aus diesem Grunde sind solche Städte von herausragender Bedeutung, was Status und Macht anbelangt, dass sie die Bezeichnung ‚Weltstädte‘ verdienen (Clark 1996:137).

Weltstädte sind diejenigen Orte, wo die wichtigen Entscheide der Weltwirtschaft gefällt werden; es sind Orte, wo das Kapital akkumuliert  und seine Verteilung organisiert und kontrolliert wird. Die Funktion dieser Städte ist das wichtigere Kriterium als ihre Grösse.

 

Die Entscheidungs- und Kontrollfunktion dieser Städte zeigt sich anhand der Geschäftsaktivitäten in solchen Städten. Diese umfassen Unternehmensmanagement, Bankgeschäfte, Anwaltskanzleien, Beratungsfirmen, Telekommunikation, internationaler Transport, Forschung und Hochschulbildung. Was die Weltstädte von anderen Grossstädten unterscheidet ist, dass diese Dienstleistungen auf den Weltmarkt ausgerichtet sind und nicht auf den einheimischen Markt.

 

In den Weltstädten konzentrieren sich die Hauptquartiere der global tätigen Unternehmen. Dort fliessen Informationen und Daten zusammen, dort werden diese kontrolliert und weitergeleitet. Diese Befehls- und Koordinationsfunktion ist gerade durch die Entwicklung in der Telematik noch verstärkt worden. Einst separate und weit verstreute Aktivitäten können jetzt funktional integriert und konzentriert werden. Die bisherigen verzögernden Konstanten von Zeit und Raum können viel leichter überwunden werden. Das globale Netzwerk der Wirtschaft ist den Fortschritten in der Telematik zu verdanken, die Funktion und Bedeutung der Weltstädte ist dadurch noch verstärkt worden. Dementsprechend stehen Neuerungen im Telematikbereich auch zuerst in den Weltstädten zur Verfügung bevor sie ihre weitere Ausdehnung erfahren.

 

Weltstädte sind auch wichtige Zentren für internationale Organisationen und Verwaltungen, sowie der Ort, wo internationale Kongresse und Konferenzen abgehalten werden. Die Wichtigkeit und Besonderheit dieser Aktivitäten zeigt sich auch in der architektonischen Gestaltung von Büro- und Kongressgebäuden.

Die Präsenz solcher Funktionen und Institutionen macht die Weltstädte einander ähnlich; sie haben mehr miteinander gemeinsam als mit anderen städtischen Zentren im eigenen Land.

Ihre Stärke und Verbindung zeigt sich auch darin, dass diese Städte für den Reisenden untereinander leichter zu erreichen sind als weniger bedeutende Zentren im eigenen oder im Nachbarland. Die starke Transportanbindung zeigt sich zum Beispiel darin, dass es zwischen den Weltstädten mehr Flüge gibt als zu den jeweiligen regionalen Zentren.

 

Die Anzahl der Städte, die von globaler Bedeutung sind, variiert je nachdem, welche Kriterien verwendet werden.

 

Thrifts Einteilung (in Clark 1996:140) von 1989 unterscheidet 3 verschiedene Ebenen bei den Weltstädten:

-                     die globalen Zentren, wo die Hauptquartiere der grossen Unternehmen und Banken angesiedelt sind und wo die weltweiten Geschäfte getätigt werden,

-                     die Gebietszentren (zonal centres), welche wichtige Verbindungsorte im internationalen Geschäftssystem sind,

-                     die Regionalzentren, in welchen viele Unternehmen und Banken tätig sind, die aber für die weltweiten Geschäftsaktivitäten nicht von essentieller Bedeutung sind.

 

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Globale Zentren                   Gebietszentren                     Regionalzentren

 

New York                              Paris                                       Sydney

London                                  Singapur                                Chicago

Tokyo                                    Hong Kong                            Dallas

                                               Los Angeles                           Miami

                                                                                              Honolulu

                                                                                              San Francisco

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Quelle: Thrift in Clark 1996:140

 

 

 

 

Friedman (in Clark 1996:140) stellte 1986 eine hierarchische Liste von 30 wichtigen Städten zusammen, aufgeteilt nach primären und sekundären Zentren in den industriellen Kernländern und in den semiperipheren Ländern. Die dabei verwendeten Kriterien sind:

-                     der Status als Finanz-, Manufaktur- und Transportzentrum,

-                     die Anzahl der Hauptquartiere transnationaler Unternehmen,

-                     die Anzahl der internationalen Organisationen,

-                     die Wachstumsrate der Geschäftsdienstleistungen,

-                     die Grösse der Bevölkerung.

 

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            Kernländer                                            semiperiphere Länder

 

Primär                        sekundär                    primär                        sekundär

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EUROPA:

London                      Brüssel

Paris                           Mailand

Rotterdam                 Wien

Frankfurt                   Madrid

Zürich

 

AMERIKA:

New York                  Toronto                     São Paulo                  Buenos Aires

Chicago                     Miami                                                            Rio de Janeiro

Los Angeles               Houston                                                        Caracas

                                   San Francisco                                               Mexico City

 

ASIEN:

Tokyo                         Sydney                       Singapur                    Hong Kong

                                                                                                          Taipei

                                                                                                          Manila

                                                                                                          Bangkok

                                                                                                          Seoul

 

AFRIKA:

                                                                                                          Johannesburg

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Quelle: Clark 1996:140

 

Die Megastädte Indiens und Chinas, sowie des ehemaligen Ostblocks bleiben dabei unberücksichtigt, da sie nur schwach in die Weltwirtschaft integriert sind.

 

Obwohl die beiden Listen unterschiedlich zusammengesetzt sind, zeigt sich doch die Vorherrschaft von New York, London und Tokyo.

Diese Städte weisen trotz ihrer funktionalen Ähnlichkeit auch Besonderheiten auf, die auf ihre Geschichte, ihre geographische Lage und die Bedeutung ihrer nationalen Ökonomie begründen.

 

New York ist der zentrale Ort besonders vieler transnationaler Unternehmen, sowie das Zentrum der globalen politischen Macht. Zudem wird von hier aus ein ansehnlicher Teil der globalen Produktion und des globalen Verbrauchs kontrolliert.

 

London ist eine Weltstadt wegen der starken Rolle als Anbieter von Dienstleistungen im Finanzbereich und für Unternehmen; diese Position hat sich aus der Rolle als zentrale Drehscheibe für das britische Empire ergeben.

 

Tokyo hat sich seinen Status als Weltstadt zum grossen Teil selbst geschaffen, durch die Stärke der japanischen Wirtschaft und durch die Vormachtsstellung im einheimischen Markt.

 

Paris ist als Unternehmens- und Finanzzentrum etwas weniger bedeutend; Paris ist aber der Ort, wo verschiedene internationale Organisationen ihre Hauptquartiere haben und dient als internationales Kongresszentrum.

 

Diese Global Citiy Definitionen anhand der Wirtschaftsfaktoren ist jedoch nicht völlig befriedigend; die Bedeutung und das Ausmass der Macht, die von den Weltstädten ausgeht, leicht überschätzt, denn sie selbst werden auch von globaler Wirtschaft und Politik beeinflusst. Dies lässt die Frage offen, inwieweit die heutige Welt als wirtschaftliches und städtisches System zusammenhängt und inwiefern dieses System von ein paar kapitalistischen Knotenpunkten dominiert wird (Clark 1996:142). Es gibt noch immer viele Länder und Gebiete gibt, deren Wirtschaftssystem nicht oder nur marginal in die Weltwirtschaft eingebunden ist. 

Der verschärfte Wettbewerb auf dem globalen Markt setzt Produktions- und Lohnkosten unter Druck. Zunehmend steht eine kleine Schicht hochbezahlter und -qualifizierter Spezialisten einer grösser werdenden Schicht von Niedriglohnarbeitern und Arbeitslosen gegenüber; man spricht bereits von einer ‚20:80-Gesellschaft‘, von einer Marginalisierung eines grösseren Anteils der Bevölkerung (Bronger in Feldbauer 1997:51).

 

Obwohl die wirtschaftliche Verflechtung noch nicht den gesamtenn Globus umspannt, bin ich der Meinung, dass man dennoch bei einigen Städten wohl zurecht von Global Cities spricht, zum einen wegen der Zunahme der Grösse und Bandbreite des globalen Finanzkapitals und seiner Konzentration an wenigen Orten, zum andern wegen der weltweiten Erreichbarkeit dank moderner Transport- und Telekommunikations-systemen.

 

Ein weiteres wichtiges Merkmal von Global Cities wird von Feagin & Smith  (in Clark 1996:147ff) vorgebracht: die Zunahme der internationalen Produktion ist nur dank einem hochkomplexen globalen Finanzsystem möglich geworden. Dieses System ist dabei auf eine elaborierte Unternehmensverwaltung angewiesen. Die Hauptquartiere solcher Verwaltungen konzentrieren sich dabei auf einige wenige Städte.

In nur zehn Städten konzentrieren sich die Hauptquartiere von 242 der 500 grössten transnationalen Unternehmen, 156 davon in den ersten vier Städten. Die restlichen 344 Hauptquartiere verteilen sich auf 47 andere Städte.

 

 

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Stadt               Anzahl Firmen-                     Metropolitane Bevölkerung                                                                                              hauptquartiere                                 (in Tausend)

                                  

1.         New York                  59                                           17 082

2.         London                      37                                           11 100

3.         Tokyo                         34                                           26 200

4.         Paris                           26                                            9 650

5.         Chicago                     18                                             7 865

6.         Essen                          18                                             5 050

7.         Osaka                         15                                           15 900

8.         Los Angeles               14                                           10 519

9.         Houston                     11                                             3 109

10.      Pittsburgh                  10                                             2 171

11.      Hamburg                   10                                             2 250

12.      Dallas                           9                                             3 232

13.      St.Louis                        8                                             2 228

14.      Detroit                         7                                             4 315

15.      Toronto                       7                                             2 998

16.      Frankfurt                     7                                             1 880

17.      Minneapolis                 7                                             2 041

18.      San Francisco              6                                             4 920

19.      Rom                             6                                             3 115

20.      Stockholm                   6                                             1 402

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Quelle: Feagin & Smith in Clark 1996:148

 

 

 

Es zeigt sich, dass alle Städte mit 10 oder mehr Hauptsitzen transnationaler Unternehmen in den Industrienationen USA, England, Japan, Frankreich und Deutschland liegen. Verglichen mit der Liste der grössten Städte der Welt (siehe unten) zeigt sich, dass die Grösse einer Stadt nicht mit deren weltwirtschaftlicher Bedeutung korreliert.

Was eine Weltstadt ausmacht, ist also nicht ihre Grösse, sondern die Konzentration wirtschaftlicher Entscheidungs- und Kontrollmacht.

 

 

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Stadt               Metropolitane Bevölkerung            Anzahl Firmen-                                                                                                                   (in Tausend)                          hauptquartiere         

 

1.         Tokyo                         26 200                                               34

2.         New York                  17 082                                               59

3.         Osaka                         15 900                                               15                                

4.         Mexico City               14 600                                                 1

5.         São Paulo                  12 700                                                 0

6.         Seoul                          11 200                                                 4

7.         London                      11 100                                               37

8.         Kalkutta                     11 100                                                 0

9.         Buenos Aires             10 700                                                 1

10.      Los Angeles               10 519                                               14

11.      Bombay                       9 950                                                 1

12.      Paris                             9 650                                               26

13.      Beijing                          9 340                                                 0

14.      Rio de Janeiro             9 200                                                 1

15.      Cairo                            8 500                                                 0

16.      Shanghai                      8 300                                                 0

17.      Chicago                       7 865                                               18

18.      Delhi                            6 889                                                 0

19.      Philadelphia               5 254                                                 2

20.      Essen                            5 050                                               18

 

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Quelle: Feagin & Smith in Clark 1996:149

 

           

Sechs der 20 grössten Megastädte und 75% der 162 Millionenstädte in der Welt haben kein transnationales Hauptquartier.

 

Eine ähnliche Rangordnung zeigt sich bei der Hierarchie der Finanzinstitutionen in den Weltstädten:

 

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Supranationale Finanzzentren erster Ordnung:

London                      New York

 

Supranationale Finanzzentren zweiter Ordnung:

Amsterdam                Frankfurt                   Paris                           Tokyo

Zürich

 

Internationale Finanzzentren erster Ordnung:

Basel                          Bombay                     Brüssel                       Chicago

Düsseldorf                 Hamburg                   Hong Kong                Madrid

Melbourne                Mexico City               Rio de Janeiro           Rom

San Francisco            São Paulo                  Singapur                    Sydney

Toronto                     Wien

 

Internationale Finanzzentren zweiter Ordnung:

Bahrain                      Buenos Aires             Kobe                          Los Angeles

Luxemburg                Mailand                     Montreal                    Osaka

Panama City              Seoul                          Taipei

 

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Quelle: Clark 1996:150

 

 

Auf der höchsten Ebene sind die Städte mit den Hauptquartieren der grossen international tätigen Banken; von dort aus gelangt das Investitionskapital in den Rest der Welt, Organisations- und Operationsnormen für Finanzgeschäfte werden hier festgelegt. New York und London sind die führenden Finanzzentren der Welt.

Amsterdam, Frankfurt, Paris, Tokyo und Zürich sind auch Finanzplätze supranationaler Bedeutung, mit geringerem Einfluss auf globaler Ebene.

Auf der dritten Ebene sind 18 Städte, in denen viele internationale Banken tätig sind, wo sich aber nur wenige Hauptquartiere von Banken angesiedelt haben. Diese Orte sind auf regionaler Ebene von grosser Bedeutung, aber weniger wichtig was die internationalen Bankgeschäfte anbelangt. Auf der vierten Ebene sind diejenigen Städte, die im internationalen Finanzsystem eine untergeordnete Rolle spielen.

Auch im Finanzbereich zeigt sich wieder deutlich, was eine Global City ausmacht, nämlich die internationale Ausrichtung der Geschäfte; bei den regionalen Zentren ist diese Ausrichtung eher auf den einheimischen Markt fokussiert.

 

Bronger (in Feldbauer 1997:55ff) versucht mit einer Kombination verschiedener Faktoren eine breiter abgestützte Rangliste der Weltstädte zu erreichen. Seine Indikatoren beinhalten die Hauptsitze der 500 grössten transnationalen Unternehmen, die Hauptverwaltungen der 50 grössten Banken, die grössten Börsen, das Verkehrsaufkommen der internationalen Flughäfen, die führenden Seehäfen und die Anzahl Sitze bedeutender internationaler Institutionen in einer Stadt.

Auf den ersten Rängen finden wir Tokyo, New York, London und Paris, mit Abstand folgen Osaka, Frankfurt, Chicago und Los Angeles. Dass sich in den ‚Top 30‘ nur Städte der Industrieländer wiederfinden, legt die Schlussfolgerung nahe, dass die Megastädte der Entwicklungsländer im Globalisierungsprozess lediglich als Produktionszentren fungieren und dass sich ihre Verteilungsfunktion auf die nationale Ebene beschränkt. Dies gilt auch für Städte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern wie Buenos Aires, Mexico City, Kairo, Manila, São Paulo, Jakarta, Bombay und Kalkutta. Keine dieser Städte ist also eine Global City, da sie alle nur eine dominante Stellung im nationalen oder regionalen Einflussbereich innehaben. Darin liegt auch der Unterschied zu den Metropolen der ersten Welt, denn in diesen sind die Hauptquartiere transnationaler Konzerne, Banken und Organisationen angesiedelt.

 

Welches sind nun die Vorteile, die eine Weltstadt den Unternehmen und Organisationen bietet?  Die Weltstädte sind aufgrund verschiedener Faktoren ideale Standorte um globale Aktivitäten zu kontrolliern: weil der Zugang zu Geschäftsinformationen leichter ist, weil andere Firmen von ähnlicher Grösse und Ausrichtung auch da sind, weil eine gute Erreichbarkeit gegeben ist und weil der Standort attraktiv und prestigeträchtig ist.

Die physische Nähe zu Regierungsstellen und -organisation, zu Börsen, zu anderen Unternehmen und Dienstleistungen bedeutet näher an wichtigen Informationen dran zu sein. Weltstädte sind nicht in erster Linie Produktionsstätten, sondern Zentren der Informationsflüsse und des Informationsaustausches. Die Stärke und Komplexität solcher Verbindungen sind bedeutsam und bieten diesen Städten weitere Standortvorteile für die Zukunft (Clark 1996:138f).

 

Weltstädte unterscheiden sich also nicht durch ihre Grösse oder ihre Bedeutung als nationale Hauptstadt, sondern durch ihre Befehls- und Kontrollfunktion im System des globalen Kapitalismus.

Trotzdem bleibt es bei keiner befriedigenden Definition, was Label und Kriterien für eine Weltstadt anbelangt; dies bleibt weiterhin Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion.

 

 

1.3.   Globale Peripherie

 

Wenn in den Megastädten der dritten Welt die Komplexität und Diversifizierung zunimmt, ist dies auch ein Ausdruck ihrer steigenden Einbindung in die globale Hierarchie der Megastädte.

Ein Merkmal der Globalisierung ist die Internationalisierung der Gesellschaft und der Kultur in den Megastädten. Die Einbindung einer Stadt in die globale Wirtschaft und Gesellschaft erfolgt aber nie vollständig; nicht die Stadt, ihre Bevölkerung und Wirtschaft als Ganzes werden erfasst, sondern nur ganz bestimmte räumliche, soziale und wirtschaftliche Teile davon. Dies führt zu einer zunehmenden sozialen Polarisierung innerhalb der Megastädte; auf der einen Seite gibt es eine gutausgebildete, mobile und hochbezahlte Elite, die kosmopolitisch ausgerichtet ist, auf der anderen Seite gibt es eine schlecht ausgebildete und schlecht bezahlte Arbeiterklasse. Diese Bevölkerungsgruppe setzt sich zu einem beachtlichen Teil aus MigrantInnen zusammen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Städte gezogen sind. Weil diese Zuwanderung sehr stark ist, vermag die staatliche und städtische Politik kaum den Anforderungen im Bereich der Infrastruktur- und Sozialpolitik gerecht zu werden; dies auch deshalb nicht, weil die Ausrichtung der Stadtpolitik immer stärker an den Bedürfnissen der konsumorientierten Oberschicht und den Interessen der ökonomischen Wachstumsbranchen orientiert ist.

Auch in den peripheren Megastädten sind die lokalen Eliten wegen der zunehmenden Weltmarktintegration einer Internationalisierung unterworfen; mit ihrer zunehmenden Beteiligung am Weltmarkt erfolgt ihre Orientierung zusehends an diesem. In der Folge sinkt das Interesse an einer umfassenden Stadtpolitik und den sozialen Bedürfnissen eines Grossteils der städtischen BewohnerInnen wird kaum Rechnung getragen, beispielsweise mit der Vernachlässigung des öffentlichen Verkehrs.

 

Lopes de Souza (1993:115) sieht in den Merkmalen der Unterentwicklung - Mangel an Geldressourcen, Fehlplanungen, falsche Prioritätensetzung - das hauptsächliche Problem der Stadtverwaltungen, um mit den Problemen, die eine gewaltige und schnelle Migration in die Städte mit sich bringt, klarzukommen. Des weiteren sind auch verschiedene exogene Faktoren daran beteiligt. Besonders erwähnenswert sind hierbei:

-                     die Strukturanpassungen, die vom IWF verlangt werden, um die Zahlungsfähigkeit der Schuldnerländer zu gewährleisten,

-                     die Kosten des Technologietransfers,

-                     der hohe Gewinntransfer ausländischer Konzerne.

Auch Korruption und Ineffizienz der Verwaltung, sowie die schlecht geregelte Verteilung der Macht und Kompetenzen zwischen Staat, Bundesstaat und Stadtverwaltung ihren Teil dazu bei, die Lösung städtischer Probleme zu verzögern.

 

Wichtig ist festzuhalten, dass die Armut in den Grossstädten der dritten Welt sowohl quantitativ als auch qualitativ viel grösser ist als in Städten der ersten Welt. Der Befriedigungsgrad der grundlegenden Bedürfnisse (wie Nahrung, Wohnung, Kleidung, sanitäre Einrichtungen) ist ungleich geringer, der Mangel ungleich grösser. Auch der Befriedigung der nichtmateriellen Grundbedürfnisse (wie gute Arbeitsbedingungen, Freizeit, soziale Sicherheit, persönliche Freiheiten) stehen ungleich grössere Schwierigkeiten gegenüber als in der ersten Welt (Lopes de Souza 1993:30f).

Die Schaffung von Arbeitsplätzen kann mit der starken Zuwanderung nicht Schritt halten. Die armen MigrantenInnen bleiben auch in der Stadt marginalisiert, wenn sie keine Arbeit finden. Wegen der starken Nachfrage nach Arbeitsplätzen können die Löhne von den Arbeitgebern niedrig gehalten werden, denn es steht immer eine Reservearmee an potentiellen Arbeitskräften zur Verfügung. Trotzdem sind die Arbeitsplätze und Lebensbedingungen in den Grossstädten im allgemeinen besser als auf dem Lande. Viele der Zugewanderten können aber aus strukturellen Gründen gar nicht vom industriellen Sektor absorbiert werden und bleiben dysfunktional für das kapitalistische System (Lopes de Souza 1993:71). Die Folgen davon sind Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Kriminalität.

Andererseits snd die modernen Industrien ihrerseits auch abhängig von ausländischen Investitionen und kapitalintensiven Technologien und angewiesen auf gutausgebildete ArbeiterInnen.

 

Lopes de Souza (1993:41) bezeichnet die Segregation als das durchdringendste Merkmal der heutigen Verstädterung, nämlich die Segregation von ethnischen Minderheiten, von Einkommensgruppen, im Bereich der Landnutzung und der persönlichen Aktivitäten. Die Stadt selbst wird, wie Wirth sie beschrieben hat (in Kokot 1990:3), geprägt von Oberflächlichkeit und Anonymität, die städtischen sozialen Beziehungen haben vorübergehenden Charakter. Es entstehen in der Stadt räumlich getrennte und kulturell homogene Viertel, die als funktionale, aber separate Bestandteile der Stadt angesehen werden.

Bronger (in Feldbauer 1997:58) spricht deshalb von ‚Zitadelle und Ghetto‘. Der Zitadelle entsprechen die Pracht- und Luxusbauten der Stadt; es sind dies die entstehenden internationalen Räume, wie Hotels, Bürohochhäuser, Appartementhäuser, Kongresszentren, die Teile einer globalen Gesellschaft sind; Wohngebiete werden gentrifiziert, das bedeutet, dass durch eine entsprechende Bau- und Mietpreispolitik die ärmere Bevölkerung vertrieben wird und die Wohnviertel dadurch für die vermögende Mittel- und Oberschicht homogenisiert werden. Dem Ghetto entsprechen die verarmten, marginalisierten Bevölkerungsschichten, deren Wohnviertel oft, obwohl zentral gelegen, kaum in die übrige Stadt integriert sind und die zu einem gewissen Grad dysfunktional für die Wirtschaft und gesellschaftlich abgekoppelt von der übrigen Stadt sein können. Die quantitative Dimension ist dabei erschreckend; so geht man in einigen afrikanischen und asiatischen Städten davon aus, dass über 50% der Bevölkerung in marginalisierten Armutssiedlungen leben.

 

Mit globaler Peripherie ist auch gemeint, dass ganze Ökonomien nationalen Ausmasses im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft peripherisiert werden. Auch die Megastädte der dritten Welt partizipieren  heute kaum am Globalisierungsprozess; sie sind weiterhin auf ihre nationale Rolle beschränkt und ihre Abhängigkeit hat wohl eher noch zugenommen.

 

Obwohl São Paulo als semiperiphere Metropole (Friedman in Clark 1996:140) für den südamerikanischen Raum von überregionaler Bedeutung ist, bleibt die brasilianische Wirtschaft als Ganzes stark vom Weltmarkt abhängig. Kein einziges der 500 grössten Unternehmen der Welt hat seinen Hauptsitz in São Paulo. Die Einbindung  São Paulos in die Weltwirtschaft ist nur partiell, und viele der oben genannten Entwicklungen im städtischen und sozialen Bereich sind für São Paulo zutreffend und sollen im folgenden eingehend untersucht werden.

 

 

 

2.       São Paulo                                                         

 

Gross-São Paulo ist eine Megastadt, die heute aus 39 Stadtbezirken besteht. Das städtische Gebiet erstreckt sich über 80 Kilometer von Osten nach Westen, und 40 Kilometer von Norden nach Süden. São Paulo ist nicht nur das Wirtschaftszentrum Brasiliens, sondern hat sich auch als Weltstadt etabliert. Ohne dass die Industrie an Bedeutung verlor, hat sich São Paulo als Dienstleistungszentrum etabliert.

Santos bezeichnet das heutige São Paulo nicht mehr als eine Industriestadt, sondern als eine transitionale Metropole, deren Funktionen und Wichtigkeit nicht mehr vom Fluss materieller Güter abhängt, weil sie jetzt diese Flüsse selbst organisiert, dank ihrer Entscheidungsmacht und Informationskontrolle (Santos in Gilbert 1996:4).

 

 

Quelle: Santos in Gilbert 1996

 

Anhand einiger Zahlen sollen die Dimensionen der städtischen Probleme São Paulos aufgezeigt werden: Die Bevölkerung der Stadt São Paulo erreicht die 10 Millionen Marke, sie wächst jedes Jahr um 100'000 Einwohner. Davon sind 60% auf natürliches Wachstum und 40% auf Immigration zurückzuführen. Viele der Zugewanderten kommen aus verarmten ländlichen Gebieten und leben auch in der Stadt in tiefster Armut.

 

 

Downtown São Paulo

 

Die Metropolitanregion São Paulo hat etwa 16 Millionen Einwohner, die jährliche Zunahme liegt bei einer Viertelmillion Menschen. Die Metropolitanregion wird von 39 Stadtverwaltungen geleitet; daneben gibt es eine Anzahl staatlicher, bundesstaatlicher und lokaler Verwaltungen, mit unzähligen horizontalen und vertikalen Verbindungen untereinander. Die Folge davon ist, dass Zuständigkeiten und Verantwortung nicht geklärt sind und dass deshalb die Metropolitanregion als unregierbar bezeichnet werden kann, weil flächenübergreifende Probleme, wie das Verkehrsaufkommen oder die Umweltverschmutzung, nicht effizient in Angriff genommen werden können.

 

 

2.1. Historische Entwicklung

 

Eine kurze geschichtliche Betrachtung soll den Aufstieg zur grössten Metropole Südamerikas veranschaulichen. Vom sechzehnten bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte die Stadt vor allem lokale Funktionen erfüllt, dann aber führte ein massives Bevölkerungswachstum und eine rapide wirtschaftliche Entwicklung zu einer dominierenden Rolle in Südamerika.

 

Quelle: Novy in Feldbauer 1997:261

 

 

In diesem Abschnitt geht es darum, die historischen Zusammenhänge aufzuzeigen, welche entscheidende Voraussetzungen für eine starke Segregation der Gesellschaft geschaffen haben, nämlich

-                     die von der Oberschicht initiierte Vertreibung der Arbeiter aus dem Zentrum an die Peripherie São Paulos, 

-                     die Landreform von 1850, die bestimmte Bevölkerungsgruppen benachteiligte und nur den Grossgrundbesitzern diente.

Als weitere wichtige Entwicklung gilt es zu begründen, wie sich São Paulo zu einer so grossen Industriemetropole entwickeln konnte; dabei wird angenommen, dass die starke Zuwanderung von Arbeitskräften eine Grundvoraussetzung für die industrielle Expansion war. Es wird die These vertreten, dass in der Folge die Löhne in São Paulo niedrig gehalten wurden wegen der grossen Anzahl MigrantInnen, die eine Reservearmee an potentiellen Arbeitskräften bildeten und dass sich deshalb der Sektor der informellen Arbeit so stark entwickeln konnte; dies soll anhand entspechender Zahlen für São Paulo belegt werden.

 

Die portugiesische Kolonisation im 16. Jahrhundert beschränkte sich vor allem auf die Besiedlung und Kontrolle der Küstenregionen. Erst mit der Zeit überwanden die Portugiesen das steile Küstengebirge und drangen ins Hinterland vor. São Paulo wurde 1554 offiziell zu einem Dorf; lange Zeit aber blieb das Gebiet isoliert, da die Produktivität der Zuckerrohrplantagen dort nicht besonders hoch war; die Leute betrieben Subsistenzwirtschaft und erst im 17. Jahrhundert wurde Weizen für den Export angebaut.

Im 18. Jahrhundert wurde São Paulo zu einer wichtigen Ausgangsbasis für die Bandeirantes, welche im Hinterland Raubzüge durchführten und IndianerInnen als Arbeitskräfte und Sklaven für die Zuckerrohrplantagen im Küstentiefland verschleppten. Dies brachte den ersten Wohlstand für São Paulo. Die Bevölkerung São Paulos stieg im Verlauf des 18. Jahrhunderts auf 8000 an. Die Verelendung und Ausrottung der Indianer aber zeichnete sich damals bereits ab.

São Paulo entwickelte sich langsam zu einer Stadt, blieb aber bis 1870 mit 28000 Einwohnern relativ unbedeutend.

 

Im 19. Jahrhundert begann von Rio de Janeiro her über das Vale de Paraíba auch in der Region São Paulo die grossangelegte Kaffeeproduktion. Kaffee war zum wichtigsten Exportprodukt Brasiliens geworden und die Nachfrage auf dem Weltmarkt verhalf der Region São Paulo zum ökonomischen Aufschwung.

Die Kaffeeproduktionstieg von 0,3 Mio Säcken 1820 auf 2,6 Mio Säcke 1860 und weiter auf 7,3 Mio Säcke 1890 (Novy in Feldbauer 1997:262). Ebenso stiegen in dieser Zeit die finanziellen Verflechtungen und Kredite auf ein Vielfaches. Der Exporthafen Santos lag in günstiger Nähe und Infrastrukturmassnahmen in den Bereichen Strom, Gas und öffentlicher Verkehr wurden vorangetrieben und zahlreiche neue Eisenbahnlinien erstellt. Diese Voraussetzungen begünstigten den wirtschaftlichen Aufschwung durch den Kaffee-Export und stellten eine gute finanzielle Basis für die beginnende Industrialisierung dar. Zugleich wurde die landwirtschaftliche Expansion und Diverisfizierung vorangetrieben; wichtigste agrarische Produkte sind neben dem Kaffee Zuckerrohr, Soyabohnen, Mais, Weizen, Bananen und Orangen.

 

Das neue Landrecht von 1850 erlaubte erstmals den Privatbesitz von Grundstücken. Infolge von Spekulationen stiegen die Bodenpreise in São Paulo markant, so dass immer wieder neues Land in Besitz genommen wurde. Das Land, auf dem die Kleinbauern und Indios lebten, wurde, wenn diese keine Landrechte besassen, als Staatseigentum betrachtet und als solches an die Kaffeeproduzenten abgegeben, was oft zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Bewohnern dieser Gebiete führte.

Neben diesen wirtschaftlichen Veränderungen brachte die Einführung der Monarchie im Jahre 1822 auch eine politische Modernisierung; Brasilien entwickelte sich von einer ländlich dominierten zu einer städtisch-bürgerlichen Gesellschaft, die Macht der Grossgrundbesitzer wich derjenigen der Banken und der Händler. 1827 wurde die erste Universität gegründet und ab Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen die ersten Zeitungen und verschiedene Vereine bildeten sich.  1888 wurde die Sklaverei abgeschafft und ein Jahr später auch die Monarchie.

 

 

Stadtteil Bras

 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahmen sowohl das Bevölkerungswachstum als auch die industrielle Produktion stark zu, gleichzeitig wurde die Infrastruktur weiter ausgebaut und die Aktivitäten von Banken und Handel verstärkten sich.

São Paulo steigerte seinen Anteil an der nationalen Industrieproduktion von 16% 1907 auf 41% 1941 (Novy in Feldbauer 1997:263). Neben der Konsumgüterindustrie wurde in den zwanziger Jahren vermehrt auch die chemische Industrie und die Metall- und Papierindustrie gefördert. Die Stadt São Paulo dominierte dabei den gesamten Bundesstaat. Wegen geringer Transportkosten und hoher Produktivität wirkte sich die Stärke der Region São Paulo negativ auf weniger konkurrenzfähige Regionen Brasiliens aus. Während 1910 noch über 80% der Produkte (hauptsächlich Kaffee) exportiert wurden, gingen nun zunehmend Industrieprodukte aus São Paulo in andere Regionen Brasiliens. 1960 wurden nur noch 16% der Waren exportiert während die Bedeutung des Binnenmarktes stark zugenommen hat (Novy in Feldbauer 1997:264).

 

Der Binnenmarkt, gestärkt durch die Kaufkraft von Ober- und Mittelschicht, ermöglichte das Wachstum der nationalen Industrie. Der Bundesstaat São Paulo stärkte seine Position als Industriezentrum Brasiliens von 32% 1919 auf 58% 1970 (Novy in Feldbauer 1997:266). Die Industrie verbesserte und differenzierte sich in dieser Zeit weiter. Einhergehend mit dem industriellen Wachstum ging die Entwicklung São Paulos zum Finanz- und Handelszentrum Brasiliens voran. Bereits 1978 hatten auch 60% der in Brasilien tätigen ausländischen Unternehmen ihren Sitz in der Region São Paulo.

 

Die erste Volkszählung von 1872 ergab 32‘000 Einwohner in São Paulo; 1890 wurden bereits 65‘000 gezählt. Mit der Abschaffung der Sklaverei begann die Regierung als Ersatz die Einwanderung von Nicht-Afrikanern zu fördern. 65% der Einwanderer zwischen 1880 und 1900 waren Italiener, welche vor allem in der Industrie und der Landwirtschaft beschäftigt wurden. Um 1900 waren 90% der Einwohner im Bundesstaat São Paulo Ausländer (Novy in Feldbauer 1997:264). Dies führte zu einer ausländerfeindlichen Haltung unter der übrigen Bevölkerung. Diese Entwicklung gipfelte im ‚Zwei-Drittel-Gesetz‘; dieses schrieb vor, dass zwei Drittel der Arbeiter in einem Betrieb Brasilianer sein mussten. Als Folge davon begann eine starke Einwanderung von Migranten aus dem Nordosten und später aus dem Südosten des Landes. Deren Hoffnung war einen Arbeitsplatz in der expandierenden Industrie oder der Baubranche zu finden. 1920 hatte sich die Einwohnerzahl auf 580000 erhöht, 1934 wurde die erste Million erreicht und 1950 stieg die Einwohnerzahl auf 2 Millionen.

 

Die grosse strukturelle Veränderung dieses Jahrhunderts in Brasilien ist die Verstädterung, die ihren Anteil von 31,2% 1940 auf 75,5% 1991 gesteigert hat. São Paulo ist 1994 mit 16,3 Millionen Einwohnern nach Mexico City und Tokyo die drittgrösste Metropolitanregion der Welt (Kohlhepp 1997:2f).

 

Tabelle 1:   Bevölkerungswachstum der Stadt São Paulo zwischen

 1940 und 1991

 

Jahre

Gesamt-

bevölkerung

Bevölkerungs-wachstum

pro Jahrzehnt

absolut (relativ)

Vegetatives Wachstum

pro Jahrzehnt absolut (relativ)

Migratorisches Wachstum

pro Jahrzehnt absolut (relativ)

1940

1'326‘261

 

 

 

1950

2'198‘096

871‘835  (5.18)

242‘810   (1.5)

629‘025    (4.1)

1960

3'666‘071

1'468‘605  (5.25)

667‘459   (2.5)

801‘146    (3.8)

1970

5'924‘615

2‘257‘914  (4.92)

972‘571   (2.7)

1'285‘343    (3.2)

1980

8'493‘226

2‘568‘611  (3.67)

1‘424‘665   (2.2)

1'143'946    (1.8)

1991

9'626‘894

1‘133‘668  (1.15)

1‘889‘633 (1.84)

-755'965 (-0.84)

Quelle:  Novy in Feldbauer 1997:271

 

Zwischen 1940 und 1980 hat die Bevölkerung rapide zugenommen, allein zwischen 1950 und 1960 wuchs die Bevölkerung um 65%, wobei  50% davon MigrantInnen waren (Novy in Feldbauer 1997:270).

‚Push-Faktoren‘ für die Migration vom Lande sind dabei vor allem mangelnde Zukunftsperspektiven, die feudalen Bodenbesitzverhältnisse, Hunger, Armut  und Gewalt. ‚Pull-Faktoren‘ São Paulos andererseits sind die Arbeitsplätze in der Industrie, die moderne Kultur, die vielfältigen Ausbildungsmöglichkeiten und die Hoffnung auf ein besseres Leben.

Nach 1960 hat sich die Migration verlangsamt, aber die absoluten Bevölkerungszahlen stiegen weiter an.

1991 sind erstmals mehr Menschen aus São Paulo abgewandert als zugewandert. Auch die Zuwanderung in den Bundesstaat São Paulo war 1970 noch sechsmal höher als 1991.

 

Tabelle 2:   Bevölkerungsentwicklung der Stadt São Paulo, von

 Gross-São Paulo und dem Bundesstaat São Paulo

 zwischen 1920 und 1991

 

Jahr

Stadt São Paulo

Gross-São Paulo

Bundesstaat São Paulo

Stadt/Land

1920

579‘033

 

4'592‘188

0.126

1940

1'326‘261

1'568‘045

7'180‘316

0.185

1950

2'198‘096

2'662‘786

9'134‘423

0.241

1960

3'666‘701

4'739‘406

12'823‘806

0.285

1970

5'924‘615

8'139‘730

17'771‘948

0.333

1980

8'493‘226

12'588‘745

25'040‘712

0.339

1991

9'626‘894

15'416‘416

31'546‘473

0.305

Quelle: Novy in Feldbauer 1997:271

 

In den neunziger Jahren sind fast zwei Drittel der Beschäftigten in São Paulo Migranten. Sie werden vorwiegend in Industriebetrieben beschäftigt und nicht im Dienstleistungsbereich. Die Arbeiter können aber ihre Lohnforderungen gegen die Arbeitgeber nicht durchsetzen, da diesen stets eine potentielle Reservearmme an Arbeitsuchenden zur Verfügung steht,  die nur auf einen freien Arbeitsplatz warten; die Arbeitslosenrate liegt bei 20,6%. Das Problem der  Arbeitslosigkeit ist dabei in der Peripherie deutlich grösser als im Zentrum; Schwarze sind überdurchschnittlich häufig arbeitslos.

Die Armut lässt sich aufgrund geringer Werte (7.6%) auch nicht auf eine dauerhafte Unterbeschäftigung zurückführen, sondern liegt in den niedrigen Löhnen begründet. Markante Unterschiede gibt es dabei im Einkommen weisser und schwarzer Familien, welche auf das unterschiedliche Bildungsniveau zurückzuführen sind (Novy in Feldbauer 1997:268).

Im Jahr 1985 verdienen die 25% der Bevölkerung mit den niedrigsten Einkommen nur 5.8% der Lohnsumme, während sich die 25% mit den höchsten Einkommen 61,4% der Lohnsumme aneignen (Novy in Feldbauer 1997:267).

 

Die hohe Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhne einerseits und die starke Zuwanderung andererseits führen dazu, dass viele einer ungeregelten Arbeit nachgehen. Diese zunehmende Informalisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten ist ein weit verbreitetes Phänomen der Megastädte der globalen Peripherie. Der informelle Sektor ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor geworden, der vielen Arbeitsplätze bietet. Der informelle Sektor ist aber kein Randbereich der Wirtschaft, sondern deren integraler Bestandteil. Es bestehen vielfältige Beziehungen zwischen der formellen und der informellen Ökonomie; so kommt es oft vor, dass Teile der Produktion eines Betriebes in den Bereich der ungeregelten und unterbezahlten Arbeit ausgelagert werden. Dies soll anhand einiger Zahlen für São Paulo belegt werden:

Um als Arbeitnehmer versichert und geschützt zu sein, braucht es eine vom Arbeitgeber unterschriebenen Arbeitskarte. Vor allem bei Minderjährigen und Arbeitern in Kleinstbetrieben fehlen bei über 60% die unterschriebenen Arbeitskarten. Im Dienstleistungsbereich ist jeder Zweite, im Handel jeder Dritte nicht versichert; auch bei den Hausangestellten sind 30% nicht versichert. Wer versichert ist, vor allem in der Industrie oder im öffentlichen Dienst, verdient im Durchschnitt mehr als dreimal so viel wie jemand ohne unterschriebene Arbeitskarte. Der Sektor der informellen Arbeit dient den Arbeitgebern zur Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, andererseits ist er für sehr viele Personen die einzige Möglichkeit etwas Geld zu verdienen, das zum Überleben notwendig ist.

Die in Brasilien ausgeprägte kapitalistische Ausbeutung der Arbeitskraft, die Vernachlässigung von sozialen  Problemen und Umweltschutz führt Toledo Silva (1997:181f) hauptsächlich auf ein entsprechendes Verhalten der früheren Kolonialmacht zurück. Dieses Verhalten war geprägt von Gewalt, sozialem Ausschluss und Ausbeutung der Armen. Während sich die Reichen eine luxuriöses Umgebung leisteten, lebte die Mehrheit der Bevölkerung unter unmenschlichen Bedingungen. Für Toledo Silva ist dieser geschichtliche Hintergrund eine grundlegende Voraussetzung um heute verstehen zu können, dass das Elend und die Armut grosser Bevölkerungsteile von der herrschenden Oberschicht als natürlich oder schicksalsgegeben betrachtet wird. So fehlt denn der Elite einerseits ein Bewusstsein für die Anerkennung der gleichen Grundrechte für alle Menschen und andererseits ein Verständnis um einen Sozialvertrag für die gesamte Gesellschaft.

 

 

2.2.   Stadtplanung

 

Bis in die 1920er Jahre hinein war São Paulo eine stark durchmischte Stadt, die Wohnviertel der Reichen und die Mietskasernen der Armen lagen nahe beeinander. Erst im Zuge der Industrialisierung begann ein Prozess der räumlichen Segregation, der von der Oberschicht initiiert wurde und dazu führte, dass die Wohnviertel der Mittel- und Oberschicht von denen der Arbeiterklasse getrennt wurden.

Im Stadtzentrum bildeten sich die Wohnviertel der vermögenden Bevölkerungsschichten um die auf einem Hügel gelegene Prachtstrasse Avenida Paulista heraus, während die Armen die Gebiete bei den Flussbecken im Tal besiedelten. Fast jeder Vermögende hatte sein eigenes Haus, versorgt mit der nötigen Infrastuktur (Wasser, Strom, Kanalisation), während die in der Nähe der Fabriken errichteten Mietskasernen der Armen überfüllt waren und ohne die nötige Infrastruktur auskommen mussten.

Im Zentrum fand eine eigentliche Haussmannisierung  statt: Häuser wurden modernisiert, grosse Aveniden wurden gebaut und saubere Wohnviertel entstanden (Sennett 1994); die Innenstadt wurde dadurch aufgewertet. BettlerInnen, StassenverkäuferInnen, MieterInnen und Prostituierte wurden vertrieben. Diese Modernisierung und Säuberung der Innenstadt wurde gegen den Willen der Arbeiter durchgeführt. Den deshalb aufkommenden sozialen Spannungen begegnete die Stadt mit einer Politik der Peripherisierung. Um das historische Zentrum herum entstanden Wohnviertel für die Mittelschicht und gross angelegte Durchgangsstrassen. Mit der Umsiedlung der Arbeiter in ländliche Randgebiete dehnte sich die Stadt immer mehr nach allen Seiten aus und die unteren Schichten wurden marginalisiert.

 

Die andauernde starke Zuwanderung nach São Paulo führte zu einem Mangel an Infrastruktureinrichtungen und zu grossen Wohnungs-problemen. Auf politischer Ebene wurden in den fünfziger und sechziger Jahren die Wünsche der Bevölkerung über den Gemeinderat an die Politiker herangetragen. Die Politiker wollten sich auf lokaler Ebene profilieren und verteilten die staatlichen Mittel willkürlich im Tausch gegen Wählerstimmen, die durch Nachbarschaftsvereine organisiert wurden. Diese personenbezogenen Klientelbeziehungen der Politiker zu ihrem Wahlkreis waren von grösserer Bedeutung als die vorhandenen Stadtentwicklungspläne, wenn es darum ging auf lokaler Ebene Verbesserungen herbeizuführen dabei.

 

Mit der Machtübernahme der Militärs 1964 wurde die städtische Planung der nationalen Planung untergeordnet. Mittel und Entscheidungsmacht lagen nun bei der Zentralregierung, die ihre Prioritäten beim Ausbau des städtischen Verkehrsnetzes (U-Bahn, Durchgangsstrassen) setzte, soziale

 

Avenida Paulista

 

Infrastrukturmassnahmen waren dabei zwietrangig. Stadtplanung diente den Militärs als Ersatz für die fehlende demokratische Legitimation und wurde dementsprechend aufgewertet.

Die verbreitete populistische Willkür der Politiker und ihre Klientelbeziehungen wurden von den Technokraten des Militärregimes unterdrückt. Mit der Rückkehr zur Demokratie in den 80er Jahren hat sich zwar die Situation in bezug auf politische Rechte gebessert, aber dabei nicht gerechtere und effizientere Mechanismen im sozialen Bereich geschaffen.

 

Mit dem ‚plan real‘ von 1994 wurde zwar die brasilianische Währung stabilisiert, aber auch das wirtschaftliche Wachstum gebremst, was sich wiederum negativ auf Konsum und Arbeitsbedingungen auswirkte, sowie eine verbesserte redistributive Stadtpolitik unrealistisch erscheinen lässt.

 

 

2.3.   Lebensqualität und Umweltprobleme

 

Es wird hier die These vertreten, dass aufgrund zweier Faktoren, die die Entwicklung São Paulos ausserordentlich stark beeinflussten, nämlich die starke Industrialisierung und das explosive Bevölkerungswachstum, die Investitionen im öffentlichen Bereich, beim Wohnungsbau und im Transportwesen weitgehend ausblieben oder in viel zu geringem Masse umgesetzt wurden und Umweltschutzprobleme vernachlässigt wurden.

 

Für die Mehrheit der Bevölkerung wird es zusehends schwieriger ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, und weil über die öffentlichen Gelder nicht auf lokaler Ebene bestimmt wird, sinkt das Interesse der Bevölkerung an der lokalen Entwicklungspolitik, was wiederum zu einer verstärkten Zentralisierung der Entscheidungen führt.

Der Graben, der zwischen der Wirtschafts- und Sozialpolitik und den Bedürfnissen der Bevölkerung besteht, führte zu bei der Bevölkerung zu Skepsis und Zynismus, die demokratische Kontrolle der Politik durch das Volk hat an Gewicht verloren. Die Politik wird autokratischer und zugleich nimmt die Fähigkeit zu regieren ab.

 

Mit der Senkung der Autopreise und dem Ausbau der Strassen wurde der Individualverkehr massiv gefördert. Dies führte in der Folge zu einem starken Anstieg des Autoverkehrs, zu alltäglichen Staus auf den Strassen, zu erhöhter Luftverschmutzung und dadurch zu einer Verminderung der Lebensqualität. Der öffentliche Verkehr mit seinen 8500 Bussen spielt im Vergleich zu den 4 Millionen Autos eine untergeordnete Rolle. Die U-Bahn ist nur 42 Kilometer lang, verglichen mit 10'000 Kilometern Strasse.

 

 

Ibirapuera Park

 

Deshalb werden auch immer mehr Autos gekauft, was die Situation weiter verschlimmert; die Durchschnitts-geschwindigkeit auf den Strassen beträgt gerade noch 12 Kilometer pro Stunde!

Der Individualverkehr stieg innert zehn Jahren um 5% auf 43,1% (1987), während der Anteil der öffentlichen Busse um über 10% zurückging auf 42,7%. Das Busnetz wurde 1994 privatisiert (Novy in Feldbauer 1997:274).

 

Die städtische Politik kümmert sich zuwenig um ökologische und soziale Probleme; zudem ist zuwenig Problembewusstsein vorhanden, um Stadtverwaltung und –planung bürgernahe zu gestalten. Die staatlichen Angestellten wurden dazu trainiert, den Reichen zu dienen und die Armen zu kontrollieren (Dowbor 1992:4).

Dies wirkt sich in den einzelnen Wohngebieten auch auf die Ausstattung mit der notwendigen Infrastruktur aus. Anhand der Karte unten lässt sich am Beispiel der an die Kanalisation angeschlossenen Gebiete gut erkennen, dass die städtische Infrastruktur in Wohngebieten der Mittel- und Oberschicht eher vorhanden ist. Dazu kommt dass die Qualität der Infrastruktur in diesen Gebieten ebenfalls besser ist als in den armen Gegenden.

 

 

Quelle: Santos in Gilbert 1996

 

Einerseits wird die Lebensqualität durch Lärm, Abgase, schlechtes Wasser und Umweltverschmutzung beeinträchtigt, andererseits ist die städtische Infrastruktur besser als auf dem Lande; fast alle Einwohner verfügen über elektrischen Strom, über 90% der Bevölkerung hat einen Wasseranschluss und die Müllabfuhr erfasst 65% São Paulos (Novy in Feldbauer 1997:273).

In São Paulo werden täglich 12‘000 Tonnen Abfall eingesammelt, viele Mülldeponien sind übervoll, die Auswirkungen auf das Grundwasser und die lokale Bevölkerung werden nicht untersucht. Neue Deponien ausserhalb der Stadtgrenzen bedeuten aber auch erhöhte Kosten; bereits jetzt werden monatlich 12 Millionen Dollar für die Müllbeseitigung ausgegeben (Dowbor 1992:3).

 

Auch im Bereich des menschlichen Umfeldes lässt sich die Grössenordnung der Probleme erkennen: so werden 20% der Haushalte von Frauen geführt, die sich nebst ihrer Arbeit auch noch um das Aufziehen ihrer Kinder kümmern müssen. Der Trend zur Kleinfamilie führte auch dazu, dass über eine Million ältere Menschen in dramatischen Umständen leben müssen, ohne öffentliche Unterstützung und ohne dass sich jemand um sie kümmert.

Die Erosion des sozialen, familiären Lebens führt auch bei vielen jungen Menschen zu einem Mangel an Geborgenheit und Sicherheit, was in der Folge zu Bandenkriminalität und Drogenkonsum führen kann.

 

Da São Paulo nicht über eine metropolitane Regierungsinstanz verfügt, haben sich folgende Schwierigkeiten bei der Stadtentwicklung ergeben:

-                     das Fehlen oder Fehlschlagen von Leitlinien und Direktiven zur Stadtplanung führte dazu, dass jede Kommune ihre eigenen Prioritäten bei Investitionsentscheiden und Aktivitäten setzt;

-                     wenn sich politische Wechsel ergeben, werden Vorhaben der politischen Vorgänger über den Haufen geworfen, was zu einer permanenten Frustration in der Bevölkerung führt (Barreto 1999:22).

-                     Programme zur Aufwertung von Quartieren und der Legalisierung von Siedlungen werden nur punktuell umgesetzt; es gibt keine längerfristigen Strategien.

-                     Die öffentlichen Unternehmen im Transport-, Elektrizitäts- und Bauwesen entwickeln ihre Programme unabhängig von sozialen Interessen, was mit der Privatisierung wohl nicht besser werden dürfte (Barreto 1999:22).

 

Für Interessen, die über die Grenzen der einzelnen Kommune hinausgehen, wie zum Beispiel der öffentliche Verkehr, der Umweltschutz oder der Sozialwohnungsbau, gibt es keine effiziente Organisation, die sich dieser annimmt; der Bundesstaat São Paulo ist dazu nur beschränkt fähig. Die Regel ist eher die Konkurrenz unter den staatlichen Organisationen und das Bündnis mit nichtstaatlichen Akteuren. Die schwerfällige Bürokratie ist zu stark zentralisiert, ungenügend ausgebildet und reagiert nur langsam auf wichtige Anliegen (Barreto 1999:21ff). Ohne eine neue administrative Kultur können die grossen städtischen Probleme kaum erfolgreich bewältigt werden.

 

 

3.     Segregation

 

In diesem Kapitel geht es darum, die These zu untermauern, dass soziale Ungleichheit zu einer räumlichen Trennung der Wohngebiete führt, und das sich dieser Prozess in der Entwicklung der Region São Paulo unterschiedlich auswirkt.

Im weiteren geht darum, wie und von wem Segragation organisiert und gestaltet wird. Der Autor vertritt die These, dass die Segregation von der Oberschicht ausgeht, als eine Art der Selbstsegregation und, als Schutzmechanismus deklariert, zu völlig getrennten Lebenswelten führt. Es  soll untersucht werden, wie der Kontakt zwischen den sozialen Schichten vor sich geht und wie die Medien und die Werbung die Fremdzuschreibung von Eigenschaften beeinflussen.

Es geht auch darum, den Zusammenhang der Enklaven der Oberschicht mit der gesamten Stadtentwicklung aufzuzeigen und die Folgen, die sich daraus für das öffentliche Leben ergeben zu benennen. Aufgrund der vorhandenen Literatur kommt dabei vor allem die Perspektive der Oberschicht zum Tragen.

 

 

3.1.   Die Peripherie

 

Der Anteil der Stadtbevölkerung im Bundesstaat São Paulo hat von 1920 (12.6%) bis 1970 (33,3%) kontinuierlich zugenommen und ist erst in den 80er Jahren wieder leicht gesunken. Innerhalb der Stadt São Paulo hat sich das Bevölkerungswachstum vom Zentrum hin zur Peripherie verschoben; insgesamt schwächt sich das Wachstum ab.

 

Im Verlaufe dieses Jahrhunderts wurde an der Peripherie Wohnraum geschaffen, um die Wohnungsprobleme im Zentrum zu beheben und sozialen Spannungen vorzubeugen. Die Peripherie wird dabei negativ definiert, als Nicht-Zentrum, als Nicht-Vorhandensein von Infrastruktur-einrichtungen, Schulen, Verkehrsmitteln und Freizeitangeboten.

 

Das wirtschaftliche Wachstum und die starke Bevölkerungszunahme führten dazu, dass in den peripheren Gebieten in den Bereichen Häuserbau, öffentlicher Verkehr und öffentliche Einrichtungen praktisch keine Investitionen getätigt wurden.

Bodenspekulanten hatten daraufhin in peripheren Gegenden grosse Flächen aufgekauft und dann einen kleinen Teil davon an Wohnungssuchende weiterverkauft. Diese begannen in eigener Regie und langwieriger Kleinarbeit den Bau ihrer Häuser und organisierten sich, um von der Stadt die Bereitstellung notwendiger Infrastruktur, wie zum Beispiel Schulen, Krankenhäuser oder Kanalisation, sowie die Legalisierung ihres Landbesitzes zu fordern. Infolge dieser oftmals erreichten Legalisierung wurde das ganze Bauland aufgewertet, und konnte so mit grösserem Gewinn veräussert werden. Einige wenige Spekulanten aus der Oberschicht konnten sich dabei stark bereichern, aber auch für viele einfache Leute ist der Traum vom Eigenheim in Erfüllung gegangen.

 

Die Stadtstruktur São Paulos ist aber nicht bei dieser konzentrischen Entwicklung (die Reichen im Zentrum, die Mittelschicht im näheren Umfeld und die Armen an der Peripherie) stehen geblieben. Aufgrund des ausgebauten Strassennetzes ziehen viele Leute aus der Mittelschicht, die ein Auto besitzen, in periphere Gegenden und heben dort das Einkommensniveau an. Gleichzeitig ziehen aber wieder viele Arme in die innerstädtischen Mietskasernen, um den täglichen Arbeitsweg zu verkürzen.

 

Im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise in den 80er Jahren sind aber auch am Stadtrand die Preise für Bauland stark gestiegen, wodurch die Anzahl der Favelas (illegale Barackensiedlungen auf öffentlichem Grund) stark zugenommen hat. Von diesen existierten in den 70er Jahren erst einige wenige im Stadtzentrum, aber nun verbreiten sie sich ausschliesslich in den peripheren Regionen.

 

 

                          Quelle: Barreto 1999

 

1973 lebte nur 1,1% der Bevölkerung São Paulos in Favelas, 1980 waren es 2,2%,  1987 bereits 8,8% und 1993 stiegerte sich deren Anteil auf 19,4%, was etwa 1,9 Millionen Menschen entspricht (Caldeira 1996:305). Diese illegalen Siedlungen auf besetztem öffentlichem Grund, in Parkanlagen oder an Flussufern werden aus Mangel an Alternativen geduldet. Die Gesetzgebung zum Schutz der Wasserreservoirs der Stadt vor der Besiedlung der Gebiete in der Nähe dieser Reservoirs hat versagt, geschütztes Land wurde illegal besetzt und trägt massgeblich zum peripheren Wachstum der Stadt bei. Die Trinkwasserprobleme der Stadt werden in der Folge weiter zunehmen. Die kommunalen Direktiven zur Stadtentwicklung seit den 70er Jahren zeigten einerseits keinen Einfluss auf das Wachstum der illegalen Siedlungen und konnten andererseits auch wichtige Investitionsentscheide nicht beeinflussen.

65% des städtischen Wohnraums sind auf illegale Weise entstanden, an der Peripherie sogar bis zu 90%, vor allem durch die Besetzung von öffentlichem Boden (Santos in Gilbert 1996:7).

 

Die Bedeutung eines Eigenheimes für die ärmere Bevölkerung liegt darin, dass der Haushalt, der die grundlegende Organisationseinheit ist, auch als Ort der Tauschwertproduktion im informellen Arbeitssektor genutzt wird, (als handwerkliche Werkstätte oder als Küche für den Strassenverkauf, etc).

 

Quelle: Santos in Gilbert 1996

 

 

Da die Distanzen zwischen Zentrum und Peripherie immer mehr zunehmen, ist die ärmere Bevölkerung in den peripheren Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus oder den Favelas stark auf ein funktionierendes Transportsystem angewiesen um in erträglicher Zeit zu ihrem Arbeitsplatz im Zentrum zu gelangen. Der durchschnittliche Arbeitsweg in Gross-São Paulo beträgt 2,5 Stunden pro Tag (Kohlhepp 1997:15).

Als Alternative dazu bleiben für die Armen nur die grossen Mietskasernen (cortiços) im Zentrum, die ein Leben auf engstem Raum und bei fehlenden sanitären und Kücheneinrichtungen bedeuten.

 

 

3.2.   Befestigte Enklaven

 

Befestigte Enklaven (condomínios exclusivos) haben sich in São Paulo wie anderswo in Grossstädten auf der Welt herausgebildet und die Art des Lebens verändert. Caldeira bezeichnet befestigte Enklaven als privatisierte, eingezäunte und überwachte Räume, welche zum Wohnen und Arbeiten genutzt werden und in denen man konsumiert und die Freizeit verbringt (Caldeira 1996:303). Sie stellen den bisher vollkommendsten Ausdruck der Selbstsegregation dar.

 

Welche Faktoren begünstigten diese Entwicklung der Selbstsegregation der vermögenden Schichten in São Paulo?

Die ungleiche Einkommensverteilung, die in Brasilien besonders stark ist, hat sich durch die Wirtschaftskrise in den 80er Jahren noch verstärkt.

 

Einkommensverteilung der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung:

 

Brasilien

1960

1970

1980

50% der Armen

17,4%

14,9%

12,7%

20% der Reichsten

54,8%

61,9%

66,1%

10% der Reichsten

39,6%

46,7%

51,0%

Quelle: Dowbor 1992

 

Das reichste Prozent der Bevölkerung erreichte 1988 15% des gesamten Einkommens, während die ärmeren 50% der Bevölkerung gerade mal 13% des Einkommens erwirtschafteten (Dowbor 1992:2).

 

Sichtbar gemacht werden die Einkommensunterschiede durch die räumliche Trennung von Arm und Reich. Hohe Mauern und Zäune, Wachmannschaften, sowie neue Überwachungstechnologien dienen dazu, die Armen, die von den Reichen als eine mögliche Bedrohung wahrgenommen werden, fernzuhalten.

 

Die Zahl der gemischten Wohngegenden hat zwischen 1977 und 1987 um über 50% von 33 auf 56 zugenommen, während sich die Anzahl reicher Wohngegenden von 13 auf 11 und diejenige armer Wohngegenden von 34 auf 25 verringerte (Novy in Feldbauer 1997:272). Die Wohnviertel der Mittelschicht hingegen verschwanden gänzlich; die Mittelschicht verarmte zusehends und vermischte sich mit der Unterschicht.

 

 

Jardins District

 

Für die Mittelschichten wurde der Erwerb eines Eigenheimes im Zentrum immer schwieriger; deshalb hat im Zentrum eine Nivellierung nach unten stattgefunden: die Mittelschichten ziehen eher an den Stadtrand, wo das Bauland noch erschwinglich ist, während es im Stadtzentrum nun wieder einige Viertel mit einem Bevölkerungsanteil von 40-60% an Armen gibt (Novy in Feldbauer 1997:272).

Damit hat aber nicht die Segregation abgenommen, sondern nur die physischen Distanzen. Die physischen Mechanismen, welche die Armen von den Reichen trennen, wurden verstärkt und sind in letzter Zeit immer komplexer geworden.

Ein wichtiger Grund dafür ist die zunehmende Kriminalität in den neunziger Jahren, vor allem aber die Anzahl der schweren Verbrechen. Der Anstieg der Gewalt, die Unsicherheit und die Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, haben dazu beigetragen, dass die Bürger versuchen, sich zu schützen, wo immer es möglich ist. Physische Barrieren wurden überall um Wohnhäuser, Parks, Bürogebäude, Einkaufszentren und Schulen errichtet, um sie vom öffentlichen Raum, von den Strassen, abzutrennen.

Diese Anlagen haben gemein, dass sie Privateigentum zum Zweck des kollektiven Nutzens sind. Freizeitangebote, Einkaufsmöglichkeiten und Arbeitsplätze sind nur den Bewohnern solcher Anlagen zugänglich. Diese condomínios exclusivos sind gegen innen gerichtet, ihre Zugänge werden bewacht; ihre Benutzer tendieren dazu, sozial homogen zu sein und der Mittel- und Oberschicht anzugehören (Caldeira 1996:308).

 

Bis in die siebziger Jahre hinein waren die peripheren Regionen São Paulos die Wohngebiete der Armen. Aufgrund der günstigen Landpreise wurde dann aber stark in diese Landflächen investiert. Wohnresidenzen, Bürogebäude und Einkaufszentren wurden gebaut, so dass in den 80er Jahren die Peripherie das stärkste Bevölkerungswachstum der Region erlebte; im Zentrum ging das Wachstum hingegen markant zurück, das Gebiet wurde wegen dem riesigen Verkehrsaufkommen, fehlender Investitionen und der starken Konzentration sozial marginalisierter Bevölkerungsgruppen abgewertet. Somit begann der Trend, dass die vermögenden Bevölkerungsgruppen und der bessergestellten Schichten São Paulos von Zentrum wegziehen und in der Folge auch Dienstleistungen, Handel und öffentliche Investitionen an die Peripherie nachzuziehen.

 

Das Leben in solchen befestigten Enklaven wird als Statussymbol gesehen, das soziale Distanz schafft und Möglichkeiten bietet die soziale Differenz geltend zu machen (Caldeira 1996:308). So werden in der Werbung Begriffe wie Trennung oder Schutz als prestigeträchtig verwendet. Eine eingegrenzte, isolierte Gemeinschaft in einem sicheren Umfeld und ein Leben unter Gleichgestellten gelten als Ideale, die vermittelt werden. Demgegenüber wird das Leben in der Stadt mit negativ beladenen Vorstellungen wie Verschmutzung, Lärm oder Vermischung assoziiert.

 

In den Hochhausanlagen mit luxuriösen Eigentumswohnungen werden innerhalb ihrer Mauern alle möglichen Dienstleistungen angeboten; es gibt Ärzte, Einkaufszentren, Sportmöglichkeiten und organisierte Kurse für jedermann. Es erscheint einem gar nicht mehr nötig, diese Anlagen überhaupt verlassen zu müssen, da die verschlechterte Lebensqualität der Stadt und das öffentliche Leben als eine schlechte Alternative zu diesen Annehmlichkeiten erscheinen.

Die Isolation und Distanz von der Stadt wird gleichgesetzt mit einem besseren Lebensstil. Die Sicherheit der Wohnanlagen ist dabei von entscheidender Bedeutung, um Zufriedenheit und Harmonie im Innern zu gewährleisten.

Um all diese Aufgaben für die Bewohner solcher Anlagen zu erfüllen, braucht es ein Heer von Bediensteten, Angestellten und Sicherheitspersonal. Die Verwendung von Angestellten für alltägliche Aufgaben wird sogar zu einem Statussymbol.

Dabei wird in den öffentlichen Teilen der Anlagen besonders auf die Trennung der Klassen geachtet, indem zum Beispiel getrennte Eingänge und Fahrstühle für Bewohner und Bedienstete existieren, obwohl diese manchmal gleich nebeneinander sind und nicht speziell räumlich getrennt werden.

Die meist schlecht bezahlten Angestellten, die manchmal gleich in den Favelas jenseits der Mauern der Wohnanlagen zuhause sind, unterstehen bei ihrer Arbeit strengen Kontrollmechanismen. Denn, obwohl die Oberklasse auf diese Angestellten angewiesen ist, fürchtet sie den Kontakt zu den ärmeren Schichten.

Die Reichen stehen in einem Verhältnis zu den Armen, das einerseits von Ausweichen und Misstrauen, andererseits von Abhängigkeit und Intimität geprägt ist (Caldeira 1996:311).

 

Diese befestigten Anlagen stellen eine neue Art der Organisation sozialer Unterschiede dar, die Segregation herstellt. Caldeira macht diese Absicht an mehreren Punkten fest (Caldeira 1996:314):

1.                es werden physische Barrieren wie Mauern und Zäune verwendet,

2.                grosse leere Räume schaffen Distanz und entmutigen das zu Fuss gehen,

3.                private Sicherheitssysteme garantieren Kontrolle und Überwachung im Innern,

4.                die Enklaven sind abgeschlossene Lebenswelten (private universes), die in ihrer Gestaltung und Organisation gegen innen gerichtet sind

5.                die Enklaven sind unabhängige Welten, die das Leben draussen als negativ bewerten,

6.                die Enklaven vermeiden eine Beziehung zu ihrer physischen Umgebung.

 

Öffentliche Räume werden von den Eliten vermieden und aufgegeben. Wie man die Strasse oder öffentliche Plätze benutzt, zu Fuss oder mit dem Auto, wird zu einem Symbol für die Klassenzugehörigkeit. Private Enklaven unterbinden, das, was das öffentliche Leben ausmacht, nämlich die Offenheit von Strassen und Plätzen zum Zwecke der Zirkulation und der Begegnung aller Menschen, ungeachtet ihrer sozialen Zugehörigkeit. In diesem Sinne steht die Entwicklung in São Paulo im Gegensatz zu Haussmanns Ideal der modernen Stadt wo öffentliche Räume als ein Ort der Begegnung und des jedermann zugänglichen, öffentlichen Lebens genutzt werden (Caldeira 1996:315). Die städtischen Transformationen in São Paulo ersetzen demgegenüber Werte wie Offenheit und Egalität durch die verstärkte Abtrennung und Ungleichheit. Diese neue Form des Städtischen verändert das öffentliche Leben und wie die Leute interagieren. Die anonyme Begegnung unter Fussgängern in öffentlichen Räumen soll unterbunden werden, Einkaufszentren werden von den Strassen ferngehalten. Die Ideale moderner Architektur und Stadtplanung, nämlich die Gestaltung des modernen öffentlichen Raumes und des sozialen Lebens um Egalität und Transparenz zu schaffen, werden aufgegeben. Entgegen der Vorstellung Sennetts (1994), dass sich das Städtische vor allem durch eine Neugier dem Fremden gegenüber auszeichnet, flieht die Oberschicht vor dem Kontakt mit dem Unbekannten. Der öffentliche Raum der Stadt, die Einkaufsstrassen und Fussgängerzonen werden nur von der Mittel- und Unterschicht benützt.

Die befestigten Enklaven sind nur gegen innen gerichtet, das Äussere wird ignoriert, Integration ins städtische Umfeld wird vernachlässigt. Dementsprechend wird das öffentliche Leben aus der Distanz betrachtet, als gefährlich empfunden und negativ bewertet.

Während die Räume der Reichen abgegrenzt und gegen innen gerichtet sind, bleibt der Raum draussen denjenigen überlassen, die es sich nicht leisten können drinnen zu sein. Die räumliche Segregation hebt damit die sozialen Unterschiede hervor. Begegnungen von Leuten unterschiedlicher sozialer Gruppen nehmen ab, man bleibt vornehmlich in einer sozial homogenen Umgebung. Wenn in einer solchen Stadt diese Abgrenzungen dennoch überschritten werden fühlt man sich unsicher und ungeschützt. Die in den Medien alltägliche Präsenz von Gewalt und Kriminalität in der Stadt verstärkt die stereotypen Vorstellungen von bestimmten sozialen Gruppen, denen man besser aus dem Weg gehen sollte. So werden analog zu den physischen Abgrenzungen auch die mentalen Schranken erhöht; man wird weniger flexibel im Umgang mit anderen sozialen Gruppen, die man als eine mögliche Bedrohung wahrnimmt. So wird es als ganz natürlich empfunden, dass Distanz und Ungleichheit so grosse Bedeutung zugemessen wird.

Die grossen Unterschiede zwischen den sozialen Schichten führten zu einer Verschlechterung des sozialen Klimas, zu einer Verrohung der Gesellschaft, zu einer Militarisierung des Alltags, zu einer Eskalation von Gewalt und Gegengewalt, zu einem Kampf zwischen der Verteidigung der eigenen Interessen und dem städtischen Lebensraum (Kohlhepp 1997:18). So erstaunt es wenig, dass die Kriminalität eine jährliche Zuwachsrate von über 7% aufweist. Neben der zunehmenden Arbeitslosigkeit tragen auch der vermehrte Drogenkonsum und der allgemeine Werteverlust zu einer Verhärtung der Fronten bei; so hat sich seit den 80er Jahren auch die Polizeigewalt um ein Vielfaches gesteigert.

Wenn Leute anderer sozialer Gruppen nicht mehr als Mitbürger angesehen werden, ist dies nicht demokratieförderlich und kann zu einer Erosion des demokratischen Rechtsstaates führen, da die Ansprüche der verschiedenen sozialen Gruppen, die in getrennten Welten leben, nicht mehr miteinander vereinbar sind. Toledo Silva begründet die Gleichgültigkeit, mit der die Elite der verarmten Bevölkerungsmehrheit gegenübersteht mit der  Vorbildrolle der einstigen Kolonialherren (Toledo Silva 1997:181f). Diese, meiner Meinung nach ungenügende und reduzierte Erklärung, verneint die Eigenverantwortung der Eliten für die sozial prekäre Situation im heutigen Brasilien seit der Zeit der Unabhängigkeit.

 

Trotz dieser negativen Tendenzen, die mit den Enklaven der Reichen in direktem Zusammenhang stehen, bleibt Caldeira aber dennoch vorsichtig optimistisch, was die Entwicklung im sozialen Bereich anbelangt; besonders angesichts der erfolgreichen sozialen Bewegungen São Paulos seit den siebziger Jahren, wo die Initiative der Bewohner oftmals zu einer Verbesserung der Lebensumstände in ihren Wohnvierteln geführt hat (Caldeira 1996:326). Dies führt langsam zu der Erkenntnis, dass man sich der sozialen Probleme und der prekären Lebensumstände bewusst annehmen sollte um das städtische Leben zu humanisieren. Kohlhepp fordert hierzu eine nachhaltige Stadtentwicklungspolitik, die sowohl sozial verträglich und ökologisch ist, als auch die Interessen aller gesellschaftlichen Gruppen auf demokratische Weise einbezieht (Kohlhepp 1997:18).

Angesichts der begrenzten finanziellen Mittel der Stadtverwaltungen wird es meiner Meinung nach ziemlich schwierig sein, die nötige Infrastruktur und Dienstleistungen anzubieten und den anspruchsvollen Forderungen der Bewohner und der Industrie bei gleichzeitig abnehmenden Ressourcen zu begegnen.

Um die anstehenden Aufgaben erfolgreich bewältigen zu können, braucht es zum einen eine verbesserte Sozialpolitik, die sich an den Bedürfnissen der Armen orientiert, und zum andern eine bessere Koordination der Politiken der einzelnen Stadtverwaltungen um Probleme regionaler Grössenordnung, wie zum Beispiel Umweltschutz, Trinkwasser und Verkehr, in den Griff zu bekommen.

Auch wenn sich die Zuwanderung in die Region São Paulo verlangsamt hat, werden der städtischen Probleme nicht weniger; mehr denn je ist die Region São Paulo auf die positive Entwicklung der Wirtschaft angewiesen. Wie es darum steht, soll im folgenden Kapitel näher betrachtet werden.

 

 

4.     Die wirtschaftliche Grossregion São Paulo

 

In diesem Abschnitt geht es um die Einbindung São Paulos in die Weltwirtschaft. Es wird dabei die These vertreten, dass São Paulo zwar im südamerikanischen Raum eine herausragende Stellung einnimmt, nicht aber eine Stadt von globaler Bedeutung ist.

Es geht hierbei um die Richtung in die sich die Wirtschaft São Paulos entwickelt hat, aber auch um die sektoriellen Veränderungen, die im Zentrum und in der Peripherie stattgefunden haben, nämlich eine starke Entwicklung des Dienstleistungssektors im Zentrum und eine Peripherisierung der Industrie. Im weiteren gilt es die Bedeutung, vor allem des tertiären Sektors São Paulos, für die gesamte südliche Region Südamerikas hervorzuheben.

 

 

Sao Paulo CBD by night

 

Bis in die siebziger Jahre setzte sich das Wachstum an der Peripherie São Paulos ungebrochen fort, erst dann waren die Nachteile des Lebens in der Agglomeration so gross, dass das Landesinnere wieder an Bedeutung gewann,  (siehe Tabelle 2). Novy spricht in diesem Zusammenhang von einer Polarisationsumkehr, von einer Dekonzentration im Zentrum São Paulos, und einer zunehmenden Einbindung und Entwicklung der umliegenden Gebiete (Novy in Feldbauer 1997:275f).

Nachdem die Industrieproduktion São Paulos bis in die sechziger Jahre stark ausgebaut wurde, erfolgte seit den 70er Jahren eine industrielle Dezentralisierung. Der Anteil an der brasilianischen Industrieproduktion sank in der Stadt São Paulo zwischen 1970 und 1984 von 28% auf 18,6%, während sie im gleichen Zeitraum im Landesinneren von 14,7% auf 19,8% gestiegen war. Von dieser Entwicklung profitierten vor allem die Mittel- und Grossstädte im Umkreis von 150 Kilometern um São Paulo; sie weisen überdurchschnittliche Wachstumsraten von Bevölkerung und Produktion auf. Der Bereich der Stadtregionen Campinas, São José do Campos, Sorocaba, São Paulo und Santos steigerte seinen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Bundesstaates von 71,8% (1970) auf 84,1% (1991), so dass dieses Gebiet als erweiterte Metropolitanregion bezeichnet werden kann.

Der verstädterte Bereich hat sich entlang der Verkehrsachsen in Richtung Osten nach Rio de Janeiro und in Richtung Norden über Jundiaí und Campinas nach Brasilia im Landesinneren ausgedehnt und wurde dabei von staatlicher Seite stark gefördert und profitierte von der Zusammenarbeit von Forschung und Industrie sowie einer geringeren Umweltbelastung (Novy in Feldbauer 1997:275f).

Weiter entfernte kleinere Städte, die auch von dieser Entwicklung profitieren, haben ihre landwirtschaftliche Produktion beibehalten; der Bundesstaat São Paulo bleibt weiterhin auch das agrarische Zentrum des Landes mit einem Anteil von 14% an der landwirtschaftlichen Gesamtproduktion, nicht zuletzt auch wegen der engen Zusammenarbeit mit der Agroindustrie.

Im weiteren profitieren auch einige Städte in den benachbarten Bundesstaaten Paraná, Minas Gerais und Rio de Janeiro von dieser Entwicklung in São Paulo, besonders auch deswegen, weil sie von ihren Landesregierungen massiv gefördert werden.

In der Region São Paulo hat der Anteil der im sekundären Sektor beschäftigten von 32,8% 1985 auf 25,3% 1994 abgenommen, während der tertiäre Sektor seinen Anteil von 48,9% 1985 auf 54,1% 1994 steigern konnte.

In São Paulos Industrie, die zu den höchst qualifizierten des Landes gehört, gingen zwischen 1985 und 1993 über 300‘000 Arbeitsplätze verloren. Der aufstrebende Dienstleistungssektor konnte diesen Verlust nur teilweise auffangen. Das Heer der Arbeitslosen als Reservoir für Niedriglohnarbeiten hat indessen weiter zugenommen, die Arbeitslosenrate liegt 1994 bei 12,6%; nach Schätzungen arbeiten rund 800'000 Menschen im informellen Sektor (Kohlhepp 1997:14).

 

Während der Anteil an der nationalen Produktion in São Paulo zwischen 1970 und 1990 leicht zurückging, hat sich der Anteil der umliegenden Bundesstaaten Rio Grande do Sur, Santa Catarina, Paraná und Minas Gerais von 32% auf 51% gesteigert. Es lässt sich also in Gross-São Paulo eine gewisse Dekonzentration feststellen, die auf nationaler Ebene aber zugenommen hat und die, im Rahmen des südamerikanischen Wirtschaftsraumes Mercosur weiter zunehmen wird und dabei eine Reihe von Städten von Belo Horizonte, Rio de Janeiro über São Paulo und Porto Alegre bis nach Montevideo und Buenos Aires erreicht (Novy in Feldbauer 1997:277). Diese Gross-Agglomeration ist das wirtschaftliche Zentrum Südamerikas und insbesondere durch die neuen Formen der globalen Arbeitsteilung in die Weltwirtschaft eingebunden.

 

 

Schlussbemerkungen

 

Zwar hat São Paulo als Industriestadt etwas an Bedeutung verloren, dafür aber Funktionen einer Weltstadt entwickelt: São Paulo ist zum wichtigsten Dienstleistungszentrum für Banken und Versicherungen in Südamerika geworden; die Bedeutung als Knotenpunkt in globalen System hat dadurch zugenommen. Die Metropole São Paulo ist mit einem Anteil von 60% die klar bedeutendste Finanzmetropole Brasiliens (Novy in Feldbauer 1997:277). Obwohl keines der 500 grössten Unternehmen der Welt seinen Hauptsitz in São Paulo hat, haben doch viele davon zumindest ein Büro in São Paulo, welches als Schnittstelle zu Südamerika dient.

Die brasilianische Politik der Öffnung für den Weltmarkt hat die Industrie São Paulos hart getroffen, da sie starke Konkurrenz von billigen Importen erhält und wegen der überhöhten Wechselkurse exportschwach ist.

São Paulo hat aber dennoch gute Voraussetzungen um zumindest im südamerikanischen Wirtschaftsraum Mercosur zentrale Kontroll- und Entscheidungsfunktionen zu übernehmen und damit seinen Platz als wichtigste Stadt Südamerikas zu festigen.

 

Da die ausbeuterische Weise der Besitz- und Arbeitsverhältnisse in Brasilien nach wie vor dominiert, wird sich die soziale Krise wohl eher noch verschärfen; die krassen Einkommensunterschiede werden die Segregationsmechanismen noch weiter verstärken. Die Enklavenbildung, die von der Oberschicht ausgeht, und die eine weitgehende Trennung der Reichen von den Armen beabsichtigt, wird wohl solange noch weiter zunehmen, bis eine deutliche Abnahme der Gewalt im brasilianischen Alltag feststellbar ist. Bis dahin jedoch zementiert sich in der Oberschicht die Vorstellung sich durch Abgrenzung vor potentieller Bedrohung schützen zu müssen; der Benutzung öffentlicher Räume versucht die Oberschicht aus dem Weg zu gehen. Deshalb droht, wie in Kapitel 3 aufgezeigt, der gesellschaftliche Zusammenhalt zusehends verloren zu gehen, das Verständnis für andere soziale Gruppen abzunehmen und die Rechtsstaatlichkeit zu gefährden; die gravierenden gesellschaftlichen Probleme werden in der Folge wohl noch weiter zunehmen.

Wenn die gewaltigen Umwelt- und Verkehrsprobleme in São Paulo nicht nachhaltig gelöst werden können, wird dies weiterhin die Lebensqualität verschlechtern. Dies führt dazu, dass der Migrationsfluss sich eher auf die umliegenden Gebiete konzentriert als auf São Paulo selbst, was wiederum nur eine Verlagerung der Probleme bedeutet.

 

 

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