CHRISTOPH
HAASE
92 –
115 – 062
IM
JULI 2001
LIZENTIATSARBEIT
IM HAUPTFACH ETHNOLOGIE
an
der Universität Bern
Eingereicht
bei Prof. W. Marschall
Inhalt:
KAPITEL
1. Einleitung
2. São Paulo heute
2.1. Städtische Entwicklung
2.2. Formelle und informelle Arbeit
2.3. Die Wirtschaftskrise der 80er Jahre
2.4. Umweltprobleme
2.5. Weltstadt und Weltmarkt
3. Stadtplanung
3.1. Heterogenisierung
4. Gewalt
4.1. Die Erfahrung der Gewalt
4.2. Polizeigewalt und Rechtsordnung
4.3. Sicherheit als Privatangelegenheit
5. Segregation
Schlussbemerkungen
Bibliographie
Seit einiger Zeit beschäftige
ich mich nun mit São Paulo, der grössten Stadt Brasiliens. Dies begann im
Sommersemester 2000 an der Universität Bern in der Übungsveranstaltung ‚Wem gehört
die Stadt?‘. Dabei waren vor allem Fragen der städtischen Entwicklung in einem
globalisierten Umfeld von Interesse: strukturelle Zwänge, die aus diesem Umfeld
heraus entstehen, beeinflussen die Stadtentwicklung stark.
Mit der weltweiten
wirtschaftlichen Verflechtung sind in den Grossstädten der dritten Welt die
städtischen und sozialen Probleme grösser geworden. Strukturelle Abhängigkeiten
und Problemursachen sind weniger auf das lokale Umfeld zurückzuführen, sondern
bedingen das Verstehen eines Kontextes, der erweiterte politische,
wirtschaftliche und soziale Gegebenheiten miteinbezieht.
Dies geschieht im Rahmen
einer makroökonomischen Sichtweise der Weltstädte, welche auch Rückschlüsse auf
die Stärken und Schwächen São Paulos im internationalen Kontext erlaubt.
Diese Sichtweise hebt die
Ähnlichkeit der Strukturen der Megastädte überall auf der Welt hervor. Die
Einbindung der grössten Städte in ein weltweites hierarchisches Städtesystem
mag eine Weichenstellung für zukünftige Entwicklungen und Abhängigkeiten
bedeuten.
Diese Thematik findet auch in
dieser Arbeit ihren Platz, weil der Einbezug des politisch-ökonomischen
Gesamtkontextes, wie dies von der urbanen Forschung gefordert wird (Kokot
1990:6), ein wichtiger Bezugsrahmen für andere städtische Entwicklungen
darstellt.
Gerade im 20. Jahrhundert
sind städtische und wirtschaftliche Entwicklung eng miteinander verbunden. Dies
zeigen auch die verschiedenen städtischen Transformationen, welche das Gesicht
São Paulos verändert haben und immer noch verändern.
Wichtiger jedoch für eine
Erklärung der heutigen Zustände sozialer, wirtschaftlicher und räumlicher
Ungleichheit in São Paulo scheinen mir politische und gesellschaftliche Gründe.
São Paulo ist heute von starker sozialer Segregation und gewaltsamer Kriminalität
geprägt wie kaum eine andere Metropole.
Die Ursache für die
gewaltsame Kriminalität sieht der Autor primär in der mangelhaften
Demokratisierung rechtsstaatlicher Organe nach dem Ende der Militärdiktatur.
Dies hat zur Folge, dass ein unwirksames Justizsystem und Gewaltanwendung von
staatlicher Seite her zu einer Delegitimation der demokratischer Strukturen
führen. Damit wird indirekt die Gewaltanwendung durch Private legitimiert.
Gewalttätige Verbrechen nehmen zur selben Zeit zu, wie die Institutionen,
welche für Recht und Ordnung zu sorgen haben, fehlschlagen.
Auf die Delegitimation
öffentlicher Ordnung reagiert die Bevölkerung mit Strategien zum Selbstschutz.
Besonders die Reichen verwenden privatisierte Sicherheitsmittel; ihre
befestigten Wohnanlagen zeigen die sozialen Unterschiede auf. Die
Enklavenbildung und Selbstsegregation verändern die Art des Wohnens und das
Gesicht ganzer Stadtteile; damit wrid auch die Nutzung des öffentlichen
Bereichs der Stadt verändert. Exklusion und Kontaktvermeidung sind die
Sicherheitsstrategien der Reichen in einem veränderten städtischen Umfeld.
Eine segregierte Umgebung
führt aber nicht zur Konsolidierung demokratischer Verhaltensweisen, sondern
unterstützt die gewaltsamen, privaten Mittel der Verbrechensbekämpfung. Die
Zunahme der Gewalt und Segregation führen zusammen zur Reproduktion von Gewalt,
zu neuen Formen von Segregation und zu Opposition gegen die Menschenrechte.
Dabei sind Fragen, die sich
bereits Vertreter der Chicago School of Sociology in den zwanziger und
dreissiger Jahren gestellt haben, nämlich wie das städtische Zusammenleben
vonstatten geht, wie das menschliche
Verhalten von räumlichen Umständen beeinflusst wird, wie Segregation und
Enklavenbildung entstehen, von Bedeutung.
Einkommensunterschiede,
Gewalt, Segregation und Enklavenbildung wirken sich in einer Weise auf die
Lebens- und Verhaltensweisen in São Paulo aus, die diese Stadt für mich
besonders faszinierend machen.
Mein Anliegen ist es durch
das Erklären struktureller ökonomischer, politischer und sozialer Zwänge die
Verhaltensweisen der städtischen Bevölkerung und die Richtung, in welche die
städtische Entwicklung São Paulos geht, besser zu verstehen.
Im Mai 2001 habe ich deshalb
eine Forschungsreise nach São Paulo unternommen, um meine bisherigen
Informationen zu dieser Stadt überprüfen zu können und um zu sehen, wie stark
das Leben von obengenannten Umständen geprägt ist. Natürlich kann in dieser
kurzen Zeit nur ein unvollständiger Eindruck dieser vielseitigen Stadt
entstehen.
Durch Beobachtungen in
einigen Stadtteilen (Morumbi, Paraisópolis, Brooklin, Itaim Bibi, Vila Olímpia,
Jardins, Vila Mariana, Higienópolis) wollte ich mir ein eigenes Bild der
Enklaven der Reichen und deren
Abgrenzungsmechanismen machen.
In anderen Stadtteilen
(República, Sé, Libertade, Aclimação, Mirandópolis, Brás, Santa Ifigênia, Barra
Funda, Tatuapé, Av.Paulista, Cerqueira César, Pinheiros) stand mehr die
städtische Entwicklung und der Gang des öffentlichen Lebens im Vordergrund.
Daneben hatte ich die Gelegenheit
mit Ethnologinnen an der USP (Universidade de São Paulo) und einem
Architekten des I-House-Projektes zu sprechen, sowie am Zentrum für
Gewaltstudien (Núcleo de Estudos de Violência) und an der Architektur-
und Urbanismusfakultät der USP weitere themenbezogene Literatur zu finden.
Der Besuch des
Einwanderermuseums (Hospedaría dos Imigrantes) und der Ausstellung ‚São
Paulo – de vila a metrópolis’ in der Galeria Prestes Maia des Kunstmuseum (MASP)
vermittelten mir, wie das Leben in São Paulo zu Beginn dieses Jahrhunderts war.
Durch das Studium der
Tageszeitungen und Fernsehnachrichten wollte ich einerseits den Stellenwert und
die Art der Berichterstattung über Verbrechen und Gewalt herausfinden und
andererseits die Werbung für Enklaven und Apartment-Hochhäuser untersuchen.
Mangels Gelegenheiten konnte
ich die geplante Gegenüberstellung von Enklave und öffentlichem Platz, sowie
die Befragung von Bewohnern von Enklaven nicht durchführen.
Meine in São Paulo gewonnen
Eindrücke entsprechen jedoch nicht immer der Sichtweise der Paulistas
(Einwohner von São Paulo): die alltägliche Furcht, Opfer eines Verbrechens zu
werden, das Gutheissen von polizeilicher und privater Gewaltanwendung,
Vorurteile gegenüber den ärmeren Bevölkerungsschichten, sowie bestimmte Verhaltensweisen
und Probleme lassen sich nicht an der Oberfläche feststellen oder nur indirekt
ergründen.
Obwohl meine Zeit in São
Paulo sehr begrenzt war, bin ich der Ansicht, dass das eigene Sehen und Erleben
wesentlich zum Verstehen beigetragen hat und dass den Worten durch die Bilder
eine zusätzliche Qualität verliehen wird. Diesen Eindruck möchte ich auch in
dieser Arbeit vermitteln.
Im zweiten Kapitel geht es darum, die historischen Rahmenbedingungen aufzuzeigen, welche der gesellschaftlichen Entwicklung die Richtung vorgegeben haben: eine egalitäre Gesellschaftsform hat es in Brasilien seit der Besiedlung durch die Portugiesen und der Einführung der Sklaverei nicht gegeben; die Gesellschaft war gespalten in Herrenhaus und Sklavenhütte. Diese soziale Ungleichheit wurde durch die ungerechten Landbesitzverhältnisse auch nach Abschaffung der Sklaverei aufrecht erhalten. Die Misere des Grossteils der Bevölkerung wurde durch die Armutsmigration zu Beginn des 20.Jahrhundert noch verstärkt. Der Überschuss an vorhandenen Arbeitskräften erlaunbte es, die Löhne niedrig zu halten und führte zu einem beachtlichen Anteil informeller Arbeitsverhältnisse. Die Industrialisierung ermöglichte ein extremes Bevölkerungswachstum im 20. Jahrhundert und machte São Paulo zur wichtigsten Stadt Brasiliens; der Glaube an Fortschritt, Entwicklung und sozialen Aufstieg war bis zu Beginn der 80er Jahre sehr stark. Mit der Wirtschaftskrise und Hyperinflation verflogen auch die Hoffnungen; eine zunehmende Verarmung und Perspektivlosigkeit breiter Bevölkerungs-schichten war die Folge.
Das Bevölkerungswachstum
führte zu neuen städtischen Problemen: die administrativen Strukturen der
17-Millionen-Metropole sind verworren, Verkehrswege und Infrastruktureinrichtungen
konnten mit der rasanten Entwicklung nicht standhalten. São Paulo hat heute
schwerwiegende Verkehrs- und Umweltprobleme zu lösen.
Die Einbindung in ein
globales Städtesystem zementiert die ungleichen wirtschaftlichen
Kräfteverhältnisse. São Paulos Bedeutung liegt dabei vor allem in der Dominanz
im südamerikanischen Raum.
Im dritten Kapitel geht es um
die räumliche Dimension der Ungleichheit: je nach Stadtteil und
Bevölkerungsschicht lässt sich eine andere Entwicklung feststellen. In São
Paulo lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die sozialen Schichten auf engem
Raum nebeneinander. Die Eliten initiierten dann eine Säuberung und
Neugestaltung des Zentrums, die Arbeiter wurden an die Peripherie vertrieben,
wo sie ihre Häuser im Eigenbau errichten mussten. Damit wurde eine Ausdehnung
der Stadt in konzentrischen Kreisen eingeleitet; die Reichen wohnten im
Zentrum, die Armen an der Peripherie.
Dieses Schema wurde in den
80er Jahren durchbrochen: einerseits werden ehemalige Industriequartiere in
Zentrumsnähe werden von ärmeren Bevölkerungsschichten bewohnt, andererseits
ziehen viele Reiche vom Zentrum weg in neue Wohngebiete im Südwesten. Das
städtische Siedlungsmuster wird heterogenisiert.
Im vierten Kapitel geht es um
die Entwicklung, Verteilung und Wahrnehmung der Gewalt, sowie um die Rolle von Polizei und Justiz in
der Gewaltbekämpfung.
Die Furcht vor Verbrechen,
sowie die persönliche Erfahrung verändern die Wahrnehmung bezüglich Umwelt und
Mitmenschen. Es dominiert ein stereotypes Bild des armen, arbeitslosen
Kriminellen, welches sich hartnäckig hält, auch unter der armen Bevölkerung.
Im Zuge der Wirtschaftskrise
der 80er Jahre stieg auch die Anzahl der Verbrechen markant an; in den 90er
Jahren setzte sich diese Entwicklung fort, weil die staatlichen Organe nicht in
der Lage waren, für Recht und Ordnung zu sorgen.
Die Art der Verbrechen
verteilt sich dabei unterschiedlich auf die einzelnen Stadtviertel.
Die polizeilichen Statistiken
sind aber mit Vorsicht zu geniessen, da viele Verbrechen nicht erfasst werden,
andere über- oder unterrepräsentiert werden.
Die übermässige polizeiliche
Gewaltanwendung und deren Straflosigkeit geben der Bevölkerung das Gefühl,
berechtigt zu sein, selbst ebenfalls Gewalt auszuüben. Die Gewaltspirale dreht
sich weiter: das Geschäft mit privaten Sicherheitsleuten boomt in der 90er
Jahren; viele arbeiten am Rande der Legalität.
Das Justizsystem ist
chronisch überlastet und weder fähig noch willens alle Teile der Gesellschaft
gleich zu behandeln. Das demokratische Rechtssystem wird von der armen
Bevölkerung als eine weitere Massnahme der Unterdrückung empfunden, weil sich
die Elite über Gesetze hinwegsetzen kann ohne bestraft zu werden.
Im fünften Kapitel geht es um die soziale Dimension der Ungleichheit. Die Heterogenisierung der Wohngebiete führte zu einer neuen Nähe von Arm und Reich. Die sozialen Unterschiede werden durch das Errichten neuer materieller und immaterieller Barrieren ausgedrückt. Das Leben in geschlossenen Wohnanlagen an der städtischen Peripherie wird zum Privileg für die Eliten; es entstehen völlig von ihrer physischen Umgebung abgetrennte Wohn- und Arbeitswelten, in denen Luxusgüter als neue Statussymbole dienen. Die räumliche Segregation festigt so die sozialen Unterschied und beeinflusst damit das Verhältnis der reichen Eliten zu den Armen; dies bringt auch eine neue Betrachtungsweise des öffentlichen Raumes mit sich und es bilden sich neue Verhaltensweisen und Wertvorstellungen. Der öffentliche Raum wird den Mittel- und Unterschichten überlassen; die Art der Fortbewegung und der Nutzung öffentlichen Raumes sind zu Merkmalen sozialer Zugehörigkeit geworden.
Karte São Paulo:
2. São Paulo heute
Die
Metropolitanregion São Paulo ist eine Megastadt, die heute aus 39 Städtverwaltungen
besteht. Das städtische Gebiet erstreckt sich über 80 Kilometer von Osten nach
Westen, und 40 Kilometer von Norden nach Süden. São Paulo ist nicht nur das
Wirtschaftszentrum Brasiliens, sondern hat sich auch als Weltstadt etabliert.
Ohne dass die Industrie an Bedeutung verlor, ist São Paulo zum führenden
Dienstleistungszentrum Südamerikas geworden.
Santos bezeichnet
das heutige São Paulo nicht mehr als eine Industriestadt, sondern als eine
transitionale Metropole, deren Funktionen und Wichtigkeit nicht mehr vom Fluss
materieller Güter abhängt, weil sie jetzt diese Flüsse selbst organisiert, dank
ihrer Entscheidungsmacht und Informationskontrolle (Santos in Gilbert 1996:4).
Quelle: Santos in Gilbert
1996
Anhand einiger
Zahlen sollen die Dimensionen der städtischen Probleme São Paulos aufgezeigt
werden: Die Bevölkerung der Stadt São Paulo erreicht die 10 Millionen Marke,
sie wächst jedes Jahr um etwa 100'000 Einwohner. Davon sind zu Beginn der 90er
Jahre 60% auf natürliches Wachstum und 40% auf Immigration zurückzuführen.
Viele der Zugewanderten kommen aus verarmten ländlichen Gebieten aus dem
Nordosten Brasiliens. Dank der zunehmenden Entwicklung und Industrialisierung
dort, nimmt die Zuwanderung jedoch stark ab.
Die
Metropolitanregion São Paulo hat etwa 17,2 Millionen Einwohner, die jährliche
Zunahme liegt bei einer Viertelmillion Menschen. Die Metropolitanregion wird
von 39 Stadtverwaltungen geleitet; daneben gibt es eine Anzahl staatlicher,
bundesstaatlicher und lokaler Verwaltungen, mit unzähligen horizontalen und
vertikalen Verbindungen untereinander. Die Folge davon ist, dass
Zuständigkeiten und Verantwortung nicht geklärt sind und dass deshalb die
Metropolitanregion als unregierbar bezeichnet werden kann, weil flächenübergreifende
Probleme, wie das Verkehrsaufkommen oder die Umweltverschmutzung, nicht
effizient in Angriff genommen werden können.
2.1. Städtische Entwicklung
Eine kurze
geschichtliche Betrachtung soll den Aufstieg São Paulos zur grössten Metropole
Südamerikas veranschaulichen. Vom sechzehnten bis zum Ende des neunzehnten
Jahrhunderts hatte die Stadt vor allem lokale Funktionen erfüllt, dann aber
führte ein massives Bevölkerungswachstum und eine rapide wirtschaftliche
Entwicklung zu einer dominierenden Rolle in Südamerika.
Die
portugiesische Kolonisation im 16. Jahrhundert beschränkte sich vor allem auf
die Besiedlung und Kontrolle der Küstenregionen. Erst mit der Zeit überwanden
die Portugiesen das steile Küstengebirge und drangen ins Hinterland vor. São
Paulo wurde 1554 offiziell zu einem Dorf; lange Zeit aber blieb das Gebiet
isoliert, weil die Produktivität der Zuckerrohrplantagen dort nicht besonders
hoch war; die Leute betrieben Subsistenzwirtschaft und erst im 17. Jahrhundert
wurde Weizen für den Export angebaut.
Im 18.
Jahrhundert wurde São Paulo zu einer wichtigen Ausgangsbasis für die
Bandeirantes, welche im Hinterland Raubzüge durchführten und IndianerInnen als
Arbeitskräfte und Sklaven für die Zuckerrohrplantagen im Küstentiefland
verschleppten. Dies brachte den ersten Wohlstand für São Paulo. Die Bevölkerung
São Paulos stieg im Verlauf des 18. Jahrhunderts auf 8000 an. Die Verelendung
und Ausrottung der Indianer aber zeichnete sich damals bereits ab.
São Paulo entwickelte
sich langsam zu einer Stadt, blieb aber bis 1870 mit 28000 Einwohnern relativ
unbedeutend.
Im 19.
Jahrhundert begann von Rio de Janeiro her über das Vale de Paraíba auch in der
Region São Paulo die grossangelegte Kaffeeproduktion. Kaffee war zum
wichtigsten Exportprodukt Brasiliens geworden und die Nachfrage auf dem
Weltmarkt verhalf der Region São Paulo zum ökonomischen Aufschwung.
Die
Kaffeeproduktionstieg von 0,3 Mio Säcken 1820 auf 2,6 Mio Säcke 1860 und weiter
auf 7,3 Mio Säcke 1890 (Novy in Feldbauer 1997:262). Ebenso stiegen in dieser
Zeit die finanziellen Verflechtungen und Kredite auf ein Vielfaches. Der
Exporthafen Santos lag in günstiger Nähe und Infrastrukturmassnahmen in den
Bereichen Strom, Gas und öffentlicher Verkehr wurden vorangetrieben und
zahlreiche neue Eisenbahnlinien erstellt. Diese Voraussetzungen begünstigten
den wirtschaftlichen Aufschwung durch den Kaffee-Export und stellten eine gute
finanzielle Basis für die beginnende Industrialisierung dar. Zugleich wurde die
landwirtschaftliche Expansion und Diverisfizierung vorangetrieben; wichtigste
agrarische Produkte sind neben dem Kaffee Zuckerrohr, Soyabohnen, Mais, Weizen,
Bananen und Orangen.
Das neue
Landrecht von 1850 erlaubte erstmals den Privatbesitz von Grundstücken. Infolge
von Spekulationen stiegen die Bodenpreise in São Paulo markant, so dass immer
wieder neues Land in Besitz genommen wurde. Das Land, auf dem die Kleinbauern
und Indios lebten, wurde, wenn diese keine Landrechte besassen, als
Staatseigentum betrachtet und als solches an die Kaffeeproduzenten abgegeben,
was oft zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Bewohnern dieser Gebiete
führte.
Neben diesen
wirtschaftlichen Veränderungen brachte die Einführung der Monarchie im Jahre
1822 auch eine politische Modernisierung; Brasilien entwickelte sich von einer
ländlich dominierten zu einer städtisch-bürgerlichen Gesellschaft, die Macht
der Grossgrundbesitzer wich derjenigen der Banken und der Händler. 1827 wurde
die erste Universität gegründet und ab Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen
die ersten Zeitungen und verschiedene Vereine bildeten sich. 1888 wurde die
Sklaverei abgeschafft und ein Jahr später auch die Monarchie.
Quelle: Ferraz de Lima 1997:169
Stadtteil Brás 1910
Zu Beginn des 20.
Jahrhunderts nahmen sowohl das Bevölkerungswachstum als auch die industrielle
Produktion stark zu, gleichzeitig wurde die Infrastruktur weiter ausgebaut und
die Aktivitäten von Banken und Handel verstärkten sich.
São Paulo
steigerte seinen Anteil an der nationalen Industrieproduktion von 16% 1907 auf
41% 1941 (Novy in Feldbauer 1997:263). Neben der Konsumgüterindustrie wurde in
den zwanziger Jahren vermehrt auch die chemische Industrie und die Metall- und
Papierindustrie gefördert. Die Stadt São Paulo dominierte dabei den gesamten
Bundesstaat. Wegen geringer Transportkosten und hoher Produktivität wirkte sich
die Stärke der Region São Paulo negativ auf weniger konkurrenzfähige Regionen
Brasiliens aus. Während 1910 noch über 80% der Produkte (hauptsächlich Kaffee)
exportiert wurden, gingen nun zunehmend Industrieprodukte aus São Paulo in
andere Regionen Brasiliens. 1960 wurden nur noch 16% der Waren exportiert
während die Bedeutung des Binnenmarktes stark zugenommen hat (Novy in Feldbauer
1997:264).
Der Binnenmarkt,
gestärkt durch die Kaufkraft von Ober- und Mittelschicht, ermöglichte das
Wachstum der nationalen Industrie. Der Bundesstaat São Paulo stärkte seine
Position als Industriezentrum Brasiliens von 32% 1919 auf 58% 1970 (Novy in
Feldbauer 1997:266). Die Industrie verbesserte und differenzierte sich in
dieser Zeit weiter. Einhergehend mit dem industriellen Wachstum ging die
Entwicklung São Paulos zum Finanz- und Handelszentrum Brasiliens voran. Bereits
1978 hatten auch 60% der in Brasilien tätigen ausländischen Unternehmen ihren
Sitz in der Region São Paulo.
Die erste
Volkszählung von 1872 ergab 32‘000 Einwohner in São Paulo; 1890 wurden bereits
65‘000 gezählt. Mit der Abschaffung der Sklaverei begann die Regierung als
Ersatz die Einwanderung von Nicht-Afrikanern zu fördern. 65% der Einwanderer
zwischen 1880 und 1900 waren Italiener, welche vor allem in der Industrie und
der Landwirtschaft beschäftigt wurden. Um 1900 waren 90% der Einwohner im
Bundesstaat São Paulo Ausländer (Novy in Feldbauer 1997:264). Dies führte zu
einer ausländerfeindlichen Haltung unter der übrigen Bevölkerung. Diese
Entwicklung gipfelte im ‚Zwei-Drittel-Gesetz‘; dieses schrieb vor, dass zwei
Drittel der Arbeiter in einem Betrieb Brasilianer sein mussten. Als Folge davon
begann eine starke Einwanderung von Migranten aus dem Nordosten und später aus
dem Südosten des Landes. Deren Hoffnung war einen Arbeitsplatz in der
expandierenden Industrie oder der Baubranche zu finden. 1920 hatte sich die
Einwohnerzahl auf 580000 erhöht, 1934 wurde die erste Million erreicht und 1950
stieg die Einwohnerzahl auf 2 Millionen.
Bis in die 1920er
Jahre hinein war São Paulo eine stark durchmischte Stadt, die Wohnviertel der
Reichen und die Mietskasernen der Armen lagen nahe beeinander. Erst im Zuge der
Industrialisierung begann ein Prozess der räumlichen Segregation, der von der
Oberschicht initiiert wurde und dazu führte, dass die Wohnviertel der Mittel-
und Oberschicht von denen der Arbeiterklasse getrennt wurden.
Im Stadtzentrum
bildeten sich die Wohnviertel der vermögenden Bevölkerungsschichten um die auf
einem Hügel gelegene Prachtstrasse Avenida Paulista heraus, während die Armen
die Gebiete bei den Flussbecken
im Tal besiedelten. Fast jeder Vermögende hatte sein eigenes Haus, versorgt mit
der nötigen Infrastuktur (Wasser, Strom, Kanalisation), während die in der Nähe
der Fabriken errichteten Mietskasernen der Armen überfüllt waren und ohne die
nötige Infrastruktur auskommen mussten.
Avenida
Paulista um 1900
Die grosse strukturelle
Veränderung dieses Jahrhunderts in Brasilien ist die Verstädterung, welche
ihren Anteil von 31,2% 1940 auf 75,5% 1991 gesteigert hat. São Paulo ist 1994
mit 16,3 Millionen Einwohnern nach Mexico City und Tokyo die drittgrösste
Metropolitanregion der Welt (Kohlhepp 1997:2f).
Tabelle 1: Bevölkerungswachstum der Stadt São Paulo
zwischen
1940 und 1991
Jahre |
Gesamt- bevölkerung |
Bevölkerungs-wachstum pro Jahrzehnt absolut (relativ) |
Vegetatives
Wachstum pro Jahrzehnt absolut (relativ) |
Migratorisches Wachstum pro Jahrzehnt absolut (relativ) |
1940 |
1'326‘261 |
|
|
|
1950 |
2'198‘096 |
871‘835
(5.18) |
242‘810
(1.5) |
629‘025
(4.1) |
1960 |
3'666‘071 |
1'468‘605
(5.25) |
667‘459
(2.5) |
801‘146
(3.8) |
1970 |
5'924‘615 |
2‘257‘914
(4.92) |
972‘571
(2.7) |
1'285‘343
(3.2) |
1980 |
8'493‘226 |
2‘568‘611
(3.67) |
1‘424‘665
(2.2) |
1'143'946
(1.8) |
1991 |
9'626‘894 |
1‘133‘668
(1.15) |
1‘889‘633 (1.84) |
-755'965 (-0.84) |
Quelle: Novy in Feldbauer 1997:271
Zwischen 1940 und
1980 hat die Bevölkerung rapide zugenommen, allein zwischen 1950 und 1960 wuchs
die Bevölkerung um 65%, wobei 50% davon
MigrantInnen waren (Novy in Feldbauer 1997:270).
‚Push-Faktoren‘ für
die Migration vom Lande sind dabei vor allem mangelnde Zukunftsperspektiven,
die feudalen Bodenbesitzverhältnisse, Hunger, Armut und Gewalt.
‚Pull-Faktoren‘ São Paulos andererseits sind die Arbeitsplätze in der
Industrie, die moderne Kultur, die vielfältigen Ausbildungsmöglichkeiten und
die Hoffnung auf ein besseres Leben.
Nach 1960 hat
sich die Migration verlangsamt, aber die absoluten Bevölkerungszahlen stiegen
weiter an.
1991 sind erstmals
mehr Menschen aus São Paulo abgewandert als zugewandert. Auch die Zuwanderung
in den Bundesstaat São Paulo war 1970 noch sechsmal höher als 1991.
Tabelle 2: Bevölkerungsentwicklung der Stadt São Paulo,
von
Gross-São Paulo
und dem Bundesstaat São Paulo
zwischen 1920
und 1991
Jahr
|
Stadt São Paulo |
Gross-São Paulo |
Bundesstaat São Paulo |
Stadt/Land
|
1920 |
579‘033 |
|
4'592‘188 |
0.126 |
1940 |
1'326‘261 |
1'568‘045 |
7'180‘316 |
0.185 |
1950 |
2'198‘096 |
2'662‘786 |
9'134‘423 |
0.241 |
1960 |
3'666‘701 |
4'739‘406 |
12'823‘806 |
0.285 |
1970 |
5'924‘615 |
8'139‘730 |
17'771‘948 |
0.333 |
1980 |
8'493‘226 |
12'588‘745 |
25'040‘712 |
0.339 |
1991 |
9'626‘894 |
15'416‘416 |
31'546‘473 |
0.305 |
Quelle: Novy in Feldbauer 1997:271
In den neunziger
Jahren sind fast zwei Drittel der Beschäftigten in São Paulo Migranten. Sie
werden vorwiegend in Industriebetrieben beschäftigt und nicht im
Dienstleistungsbereich. Die Arbeiter können aber ihre Lohnforderungen gegen die
Arbeitgeber nicht durchsetzen, da diesen stets eine potentielle Reservearmme an
Arbeitsuchenden zur Verfügung steht,
die nur auf einen freien Arbeitsplatz warten; die Arbeitslosenrate liegt
bei 20,6%. Das Problem der Arbeitslosigkeit ist dabei in der Peripherie
deutlich grösser als im Zentrum; Schwarze sind überdurchschnittlich häufig
arbeitslos.
Die Armut lässt
sich aufgrund geringer Werte (7.6%) auch nicht auf eine dauerhafte
Unterbeschäftigung zurückführen, sondern liegt in den niedrigen Löhnen
begründet. Markante Unterschiede gibt es dabei im Einkommen weisser und
schwarzer Familien, welche auf das unterschiedliche Bildungsniveau
zurückzuführen sind (Novy in Feldbauer 1997:268).
Im Jahr 1985
verdienen die 25% der Bevölkerung mit den niedrigsten Einkommen nur 5.8% der
Lohnsumme, während sich die 25% mit den höchsten Einkommen 61,4% der Lohnsumme
aneignen (Novy in Feldbauer 1997:267).
Der
Fortschrittsglaube wurde in den 50er Jahren von Präsident Kubitscheks
Entwicklungsprogramm geprägt, welches mit staatlichen Initiativen und
ausländischem Kapital ein rapides Wirtschaftswachstum förderte. Am
bedeutendsten war dabei die Metallindustrie in São Paulo.
Tabelle 3: Anteil des
Staates São Paulo an der nationalen Industrie-produktion
1907 |
16% |
1919 |
32% |
1929 |
38% |
1950 |
49% |
1960 |
55% |
1970 |
58% |
1984 |
50% |
Quelle: Caldeira 1992:29
Das industrielle Wachstum ist
verbunden mit einer intensiven Urbanisierung und einer durchschnittlichen
Zunahme der Bevölkerung von 5.5% von 1940 – 1970. Ein Grossteil davon kam aus
anderen Landesteilen, vor allem aus dem Norden und Nordosten, nach São Paulo.
Die andauernde starke Zuwanderung
nach São Paulo führte zu einem Mangel an Infrastruktureinrichtungen und zu
grossen Wohnungs-problemen. Auf politischer Ebene wurden in den fünfziger und
sechziger Jahren die Wünsche der Bevölkerung über den Gemeinderat an die
Politiker herangetragen. Die Politiker wollten sich auf lokaler Ebene
profilieren und verteilten die staatlichen Mittel willkürlich im Tausch gegen
Wählerstimmen, die durch Nachbarschaftsvereine organisiert wurden. Diese
personenbezogenen Klientelbeziehungen der Politiker zu ihrem Wahlkreis waren
von grösserer Bedeutung als die vorhandenen Stadtentwicklungspläne, wenn es
darum ging auf lokaler Ebene Verbesserungen herbeizuführen dabei.
In den frühen 60er Jahren
führte eine hohe Inflation zusammen mit politischer Mobilisierung der
Arbeiterklassen, Bauern und Studenten, welche ihre politischen Rechte
einforderten, zur Machtübernahme durch die Militärs 1964. Deren Herrschaft, die
bis 1985 dauerte, war einerseits geprägt von Intoleranz gegenüber politischer
Opposition, andererseits auch von Modernisierung und wirtschaftlicher
Entwicklung, mit jährlichen Wachstumsraten von 12% zu Beginn der 70er Jahre.
Eine neue Infrastruktur wurde aufgebaut, nationale Gesundheits- und Sozialfürsorge
wurden geschaffen und ausländisches Kapital in die Wirtschaft gepumpt. Dieser
wirtschaftliche Fortschritt basierend auf hoher Auslandsverschuldung geschah
aber ohne die politische Partizipation der Massen und ohne eine gerechte
Verteilung des Reichtums. Dies führte dazu, dass eine zahlenmässig kleine
Schicht eine sehr grosse Kaufkraft besass und mit ihrem politischen Einfluss
die elitären und autoritären Gesellschaftsstrukturen verstärkte (Caldeira
1992:31).
Die fehlende demokratische
Kontrolle des Staates führte dazu, dass die Qualität und Verteilung der
staatlichen Sozialleistungen, Bildungsinstitutionen, öffentlichem Wohnungsbau,
Verkehr und sanitären Anlagen geprägt waren von grossen Mängeln, Niedriglöhnen
und Korruption.
2.2. Formelle und informelle Arbeit
Die wirtschaftliche Expansion
führte einerseits dazu, dass viele Arbeiter in formale Arbeitsstrukturen
eingebunden und ein nationaler Markt für Konsumgüter geschaffen wurde;
andererseits aber auch zur Ausdehnung des informellen und schlecht bezahlten
Arbeitsmarktes für häusliche Dienstleistungen, industrielle Zulieferbetriebe
oder die marginale Bauindustrie.
In den 70er Jahren basierte
das wirtschaftliche Wachstum vor allem auf der Expansion des inländischen
Konsumgütermarktes. Den Massen wurde mit starker Förderung von Krediten die
Partizipation an diesem Markt ermöglicht. Dank dieser Politik war es möglich
den heimischen Markt zu vergrössern und gleichzeitig die ungerechte
Einkommensverteilung und niedrige Löhne aufrecht zu erhalten.
Die Modernisierung Brasiliens
basierte also auf einer starken wirtschaftlichen Entwicklung, Verstädterung und
der Herausbildung eines Marktes für Konsumgüter, bei gleichzeitiger
Aufrechterhaltung hierarchischer Strukturen, politischer Unterdrückung und
ungleicher Einkommensverteilung (Caldeira 1992:32).
Die Industrialisierung und
das Wirtschaftswachstum halfen den versprochenen Fortschritt und die soziale
Mobilität zu realisieren. So lange die Bereicherung der Eliten nicht gefährdet
war, akzeptierten diese bessergestellten Gesellschaftsschichten die Einbindung
der Arbeiterklasse in den Konsumgütermarkt.
Die hohe
Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhne einerseits und die starke Zuwanderung
andererseits führen dazu, dass viele einer ungeregelten Arbeit nachgehen. Diese
zunehmende Informalisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten ist ein weit
verbreitetes Phänomen der Megastädte der globalen Peripherie. Der informelle
Sektor ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor geworden, der vielen Arbeitsplätze
bietet. Der informelle Sektor ist aber kein Randbereich der Wirtschaft, sondern
deren integraler Bestandteil. Es bestehen vielfältige Beziehungen zwischen der
formellen und der informellen Ökonomie; so kommt es oft vor, dass Teile der
Produktion eines Betriebes in den Bereich der ungeregelten und unterbezahlten
Arbeit ausgelagert werden. Dies soll anhand einiger Zahlen für São Paulo belegt
werden:
Um als
Arbeitnehmer versichert und geschützt zu sein, braucht es eine vom Arbeitgeber
unterschriebenen Arbeitskarte. Vor allem bei Minderjährigen und Arbeitern in
Kleinstbetrieben fehlen bei über 60% die unterschriebenen Arbeitskarten. Im
Dienstleistungsbereich ist jeder Zweite, im Handel jeder Dritte nicht
versichert; auch bei den Hausangestellten sind 30% nicht versichert. Wer
versichert ist, vor allem in der Industrie oder im öffentlichen Dienst,
verdient im Durchschnitt mehr als dreimal so viel wie jemand ohne
unterschriebene Arbeitskarte. Der Sektor der informellen Arbeit dient den
Arbeitgebern zur Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, andererseits ist er
für sehr viele Personen die einzige Möglichkeit etwas Geld zu verdienen, das
zum Überleben notwendig ist.
Die in Brasilien
ausgeprägte kapitalistische Ausbeutung der Arbeitskraft, die Vernachlässigung
von sozialen Problemen und Umweltschutz
führt Toledo Silva (1997:181f)
hauptsächlich auf ein entsprechendes Verhalten der früheren Kolonialmacht
zurück. Dieses Verhalten war geprägt von Gewalt, sozialem Ausschluss und
Ausbeutung der Armen. Während sich die Reichen eine luxuriöse Umgebung
leisteten, lebte die Mehrheit der Bevölkerung unter unmenschlichen Bedingungen.
Für Toledo Silva ist dieser geschichtliche Hintergrund eine grundlegende
Voraussetzung um heute verstehen zu können, dass das Elend und die Armut grosser
Bevölkerungsteile von der herrschenden Oberschicht als natürlich oder
schicksalsgegeben betrachtet wird. So fehlt denn der Elite einerseits ein
Bewusstsein für die Anerkennung der gleichen Grundrechte für alle Menschen und
andererseits ein Verständnis um einen Sozialvertrag für die gesamte
Gesellschaft.
2.3. Die
Wirtschaftskrise der 80er Jahre
Seit den 50er Jahren glaubte
man, dass der wirtschaftliche Fortschritt nie ein Ende nehmen würde. São Paulo
war der Motor der brasilianischen Wirtschaft. Das Motto „São Paulo não pode parar!“ (São
Paulo kann nicht anhalten!) war in den Köpfen einer ganzen Generation fest
verankert. In den 80er Jahren, die auch ‚die verlorene Dekade’ genannt werden,
wurde dieses Wachstum von einer starken Rezessionsphase abgelöst.
Zu Beginn der Krise glaubte
man noch an den Fortschritt; eine Reihe politischer Aktivitäten,
Gewerkschaftsbewegungen in den Industrievorstädten São Paulos und soziale
Hauseigentümerbewegungen an den armen Peripherien der Stadt versprühten
Hoffnung. Politische Parteien wurden wieder zugelassen, Arbeiter setzten ihre
Rechte mit Hilfe der Gewerkschaften durch, die Stadtverwaltung wollte ihre
Dienstleistungen und Infrastruktur ausbauen, wie dies von den Bewohnern der
Peripherie gefordert wurde.
Hohe Inflationsraten führten
aber zu einer Verarmung der Bevölkerung, zu Frustration und Pessimismus.
Die hohe Inflation führt
dazu, dass die Leute von Tag zu Tag leben und dass sie ihre Langzeitprojekte
aufgeben. Lohn und Mietzins werden monatlich neu angepasst; wofür man sein Geld
ausgibt, hängt von täglichen Preisänderungen ab.
Die wirtschaftliche Rezession
führte zu grosser Arbeitslosigkeit, dabei kann man sich seiner sozialen
Stellung nicht mehr sicher sein; Fortschritt und sozialer Aufstieg sind in
weite Ferne gerückt.
Die Wirtschaftskrise der 80er
Jahre ist für die Mittel- und Unterschichten besonders hart, denn die
Hyperinflation nimmt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft; die Sicherheit des
Geldes geht verloren, tägliche Preisanpassungen sind die Regel. Das alltägliche
Leben ist geprägt von Versuchen eine sichere Stellung zu wahren.
Die Politik der Regierung
Sarney mit dem Plano Cruzado 1986 die Inflation einzudämmen schlug nach
kurzzeitigem Erfolg ebenso fehl, wie der Versuch der Regierung Collor 1990. Der
Plano Collor führte nicht nur zu einem Wiederanstieg der Inflation nach
kurzer Zeit, sondern auch zu einer deutlichen Verschlechterung der Reallöhne.
Dies vermittelte vor allem der Mittel- und Unterschicht das Gefühl der
Verschlechterung der eigenen sozialen Situation.
Tabelle 4: Jährliche Inflation in Prozent
1985 |
1986 |
1987 |
1988 |
1989 |
1990 |
1991 |
1062,4 |
145,2 |
229,7 |
682,3 |
1287,0 |
2968,0 |
465,0 |
Quelle: Caldeira 1992:36
In
diesem Jahrzehnt der Inflation, Arbeitslosigkeit und Rezession hat die Armut
stark zugenommen. Während das Einkommen des reichsten Prozents der Bevölkerung
von 1981 13% auf 1989 17,3% gestiegen ist, nahm das Einkommen der ärmsten 50%
der Bevölkerung von 1981 13,4% auf 10,4% 1989 ab (Page 1995:121). Das
Bruttosozialprodukt sank von 1980 bis 1990 um 5,5% und der Realmindestlohn sank
um 46%. Das durchschnittliche monatliche Familieneinkommen erlebte einen
substantiellen Verlust und sank in diesen Jahren um mehr als 50%. Deshalb
verarmte die Mittelklasse zusehends. Der Plano Collor vergrösserte die
soziale Ungleichheit und die ungerechte Einkommensverteilung noch weiter.
Die Stadt, von der man
glaubte, dass sie nicht aufhören könnte zu wachsen, wies in den 80er Jahren
noch eine jährliche Migration von 1% auf.
Die 80er Jahre führten zu
einer Desillusionierung, der Glaube an wirtschaftliche Entwicklung und
Modernisierung ging verloren, sozialer Verfall setzte ein. Es herrschte eine
grosse Unsicherheit in bezug auf die Zukunft, die eigene soziale Stellung und
die sozialen Aufstiegschancen (Caldeira
1992:39).
In diesem Kontext der
Unsicherheit, Instabilität, Hyperinflation und Verarmung verlieren bisherige
Konzepte und Orientierungspunkte ihre Bedeutung, ein Moral- und Wertewandel
setzt ein, und in der Folge nimmt die Kriminalität stark zu.
Der Fall von Präsident Collor
1992 zeigte der brasilianischen Öffentlichkeit zudem das Ausmass der Korruption
und Vetternwirtschaft auf höchster Regierungsebene auf. Collor, der 1989
angetreten war, um Wirtschaftsreformen durchzuführen, kassierte direkt und
indirekt Schmiergeldzahlungen, damit bestimmte Geschäftsleute mit dem
öffentlichen Sektor Geschäfte machen dürfen. Dieser Skandal führte 1992 zu
seinem Rücktritt (Page 1995:121f).
Allgemein dient die
Diskreditierung der politischen Akteure, die sich auf Staatskosten persönlich
bereichern, der Mehrheit der Bevölkerung auch als Ausrede, um ebenfalls Gesetze
zu missachten oder Steuern zu hinterziehen (Pinheiro 1996:269).
2.4. Umweltprobleme
Die Entwicklung São Paulos
wurde im 20. Jahrhundert geprägt von einer starken Industrialisierung und einem
explosive Bevölkerungswachstum. Die Investitionen im öffentlichen Bereich, beim
Wohnungsbau und im Transportwesen blieben deshalb weitgehend aus oder wurden in
einem viel zu geringem Masse umgesetzt;
Umweltschutzprobleme wurden dabei vernachlässigt.
Über die
öffentlichen Gelder wird nicht auf lokaler Ebene bestimmt. Deshalb sinkt das
Interesse der Bevölkerung an der lokalen Entwicklungspolitik, was wiederum zu
einer verstärkten Zentralisierung der Entscheidungen führt.
Der Graben, der
zwischen der Wirtschafts- und Sozialpolitik und den Bedürfnissen der
Bevölkerung besteht, führt bei der Bevölkerung zu Skepsis und Zynismus, die
demokratische Kontrolle der Politik durch das Volk hat an Gewicht verloren. Die
Politik wird autokratischer und zugleich nimmt die Fähigkeit zu regieren ab.
Während dem
Militärregime wurden die Autopreise gesenkt und mit dem Ausbau der Strassen der
Individualverkehr gefördert. Dies führte in der Folge zu einem starken Anstieg
des Autoverkehrs, zu alltäglichen Staus auf den Strassen, zu erhöhter Luftverschmutzung
und dadurch zu einer Verminderung der Lebensqualität. Der öffentliche Verkehr
mit seinen 8500 Bussen spielt im Vergleich zu den 4 Millionen Autos eine
untergeordnete Rolle. Die U-Bahn ist nur 42 Kilometer lang, verglichen mit
10'000 Kilometern Strasse.
Deshalb werden
auch immer mehr Autos gekauft, was die Situation weiter verschlimmert; die
Durchschnittsgeschwindigkeit auf den Strassen beträgt gerade noch 12 Kilometer
pro Stunde!
Quelle: O Estado de São Paulo 25.5.2001
Abendverkehr auf der Stadtautobahn
Der
Individualverkehr stieg innert zehn Jahren um 5% auf 43,1% (1987), während der
Anteil der öffentlichen Busse um über 10% zurückging auf 42,7%. Das Busnetz
wurde 1994 privatisiert (Novy in Feldbauer 1997:274).
Die städtische
Politik kümmert sich zuwenig um ökologische und soziale Probleme; zudem ist
zuwenig Problembewusstsein vorhanden, um Stadtverwaltung und –planung
bürgernahe zu gestalten. Die staatlichen Angestellten wurden dazu trainiert,
den Reichen zu dienen und die Armen zu kontrollieren (Dowbor 1992:4).
Dies wirkt sich
in den einzelnen Wohngebieten auch auf die Ausstattung mit der notwendigen
Infrastruktur aus. Die städtische Infrastruktur ist in Wohngebieten der Mittel-
und Oberschicht häufiger vorhanden und qualitativ besser als in den armen
Gegenden.
Einerseits wird
die Lebensqualität durch Lärm, Abgase, schlechtes Wasser und
Umweltverschmutzung beeinträchtigt, andererseits ist die städtische
Infrastruktur besser als auf dem Lande; fast alle Einwohner verfügen über
elektrischen Strom, über 90% der Bevölkerung hat einen Wasseranschluss und die
Müllabfuhr erfasst 65% São Paulos (Novy in Feldbauer 1997:273).
In São Paulo
werden täglich 12‘000 Tonnen Abfall eingesammelt, viele Mülldeponien sind
übervoll, die Auswirkungen auf das Grundwasser und die lokale Bevölkerung
werden nicht untersucht. Neue Deponien ausserhalb der Stadtgrenzen bedeuten
aber auch erhöhte Kosten; bereits jetzt werden monatlich 12 Millionen Dollar
für die Müllbeseitigung ausgegeben (Dowbor 1992:3).
Da São Paulo
nicht über eine metropolitane Regierungsinstanz verfügt, haben sich folgende
Schwierigkeiten bei der Stadtentwicklung ergeben:
-
das Fehlen oder Fehlschlagen von Leitlinien
und Direktiven zur Stadtplanung führte dazu, dass jede Kommune ihre eigenen
Prioritäten bei Investitionsentscheiden und Aktivitäten setzt;
-
wenn sich politische Wechsel ergeben,
werden Vorhaben der politischen Vorgänger über den Haufen geworfen, was zu
einer permanenten Frustration in der Bevölkerung führt (Barreto 1999:22).
-
Programme zur Aufwertung von Quartieren und
der Legalisierung von Siedlungen werden nur punktuell umgesetzt; es gibt keine
längerfristigen Strategien.
-
Die öffentlichen Unternehmen im Transport-,
Elektrizitäts- und Bauwesen entwickeln ihre Programme unabhängig von sozialen
Interessen, was mit der Privatisierung wohl nicht besser werden dürfte (Barreto
1999:22).
Quelle: O Estado de São Paulo 27.5.2001
zunehmende Verstädterung (in rot),
zurückgedrängte Waldfläche (in
dunkelgrün)
Für Interessen,
die über die Grenzen der einzelnen Kommune hinausgehen, wie zum Beispiel der
öffentliche Verkehr, der Umweltschutz oder der Sozialwohnungsbau, gibt es keine
effiziente Organisation, die sich dieser annimmt; der Bundesstaat São Paulo ist
dazu nur beschränkt fähig. Die Regel ist eher die Konkurrenz unter den
staatlichen Organisationen und das Bündnis mit nichtstaatlichen Akteuren. Die
schwerfällige Bürokratie ist zu stark zentralisiert, ungenügend ausgebildet und
reagiert nur langsam auf wichtige Anliegen (Barreto 1999:21ff). Ohne eine neue
administrative Kultur können die grossen städtischen Probleme kaum erfolgreich
bewältigt werden.
2.5. Weltstadt
und Weltmarkt
Präsident Cardoso beschrieb die
Globalisierung als unausweichlich, ebenso die negativen Seiten, die sie mit
sich bringt. Der Nationalstaat verliert an Bedeutung und die Führer der
peripheren Länder befinden sich im Wettstreit um Investitionsgelder und
unterwerfen sich dem internationalen Finanzmarkt. Dadurch kann ein neuer
Reichtum entstehen, gleichzeitig wird aber die Anzahl der von dieser
Entwicklung abgehängten und in Elend lebenden Menschen zu (Freire-Medeiros
1997:797).
Der Prozess der
Globalisierung wird hierbei verstanden als internationaler Verflechtungsprozess
von Kapital, Arbeitsmärkten, Handel, Verkehr und Kommunikation (Bronger in
Feldbauer 1997:51).
Früher waren Regionen über
die Städte miteinander verbunden; die Städte waren weltweit vernetzte
Kontrollzentren in einem regionalen Kontext. Mit der Globalisierung hat sich
aber eine relative Loslösung der Städte von den sie umgebenden Regionen und
gleichzeitig eine engere Verbindung untereinander ergeben. Dabei wird die
Position solcher Städte im natinoalen Kontext gestärkt, denn die globalen
Informationsflüsse brauchen eine umfassende Infrastruktur zur Kontrolle und
Verarbeitung (Sassen in Hitz 1995:47f).
In den Städten werden
weltweite Beziehungen verstärkt zu einem globalen Stadtsystem. Es ergibt sich
dabei aber keine neue globale Hierarchie, sondern es besteht ein Nebeneinander
verschiedener Ordnungen und Vergemeinschaftungsformen.
Die Globalisierung gründet
einerseits auf neuen Transport- und Informationstechnologien, andererseits sind
die Transformationen in der Industrieproduktion eng an die
Internationalisierung der Kapitalmärkte gekoppelt.
Erst die beginnende
Transnationalisierung der Wirtschaft hat somit eine Situation der globalen
Konkurrenz überhaupt ermöglicht. Hierbei spielen nun die Weltstädte eine
entscheidende Rolle als Orte, wo Aktivitäten, Funktionen und Informationen
konzentriert und wo transnationale Akteure miteinander verbunden sind.
Städte, die aufgrund ihres
ökonomischen und technologischen Wandels an Bedeutung gewannen, sind auch
Zentren der Migration geworden. Es lässt sich über grosse Entfernungen hinweg
eine quantitative Zunahme an Migrationsbewegungen feststellen; dies betrifft
sowohl die hohen Einkommensgruppen als auch die Armutsmigranten.
In der Folge führt dies in
den Weltstädten zu einer kulturellen Diversifizierung, zu einer Koexistenz
verschiedener Kulturen im städtischen Kontext. Durch die starke Verbreitung der
Massenmedien in den Weltstädten kommt zur realen Koexistenz auch noch eine
virtuelle Koexistenz der verschiedenen Kulturen hinzu (Korff in Feldbauer
1997:25). Die Globalisierung der Kultur führt dazu, dass Waren, Informationen
und Symbole, losgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext, mit
unterschiedlichsten Konnotationen und neuen Bedeutungen ausgestattet werden.
Es ergibt sich daraus einerseits
eine selektive globale Integration in eine internationale Gesellschaft und
andererseits eine lokale Abgrenzung, die der eigenen Identitätsfindung dient,
sowie eine Fragmentierung sozialer und kultureller Grenzen innerhalb der Stadt.
Fragmentierung bedeutet, dass die Stadtbewohner wenig gemein haben und in
Anonymität und gegenseitiger Ignoranz leben (Korff in Feldbauer 1997:33).
Globalisierung bedeutet somit
keine Integration der gesamten Erde in ein Weltsystem, sondern eine globale
Verknüpfung von verschiedenen Netzwerken, die nebeneinander existieren. Städte
sind dabei die Knotenpunkte und Kontrollzentren einer vernetzten globalen
Gesellschaft. Gerade im Bereich der Integration liegt das Konfliktpotential der
modernen städtischen Gesellschaft.
Im Zuge der Globalisierung
hat sich der Trend hin zu einer Konzentration des tertiären Sektors in den
Zentren der Städte verstärkt. In den Innenstädten siedeln sich neben
Verwaltung, Dienstleistungsbetrieben und Handel auch die Zentralen und das
Management der Unternehmen an. Damit geht auch die Ausweitung der
Niedriglohnarbeit und des informellen Sektors einher (Kipfer/Keil in Hitz
1995:82). Die unterschiedlichen Gruppen konkurrieren im städtischen Raum um
Zugang zu Arbeitsplätzen und zunehmend teurerem Wohnraum. Die soziale
Polarisierung wird durch die Globalisierung in den Weltstädten zusehends
verstärkt.
Das Kriterium der
Einwohnerzahl ist für die Definition einer Weltstadt nicht von entscheidender
Bedeutung; andere qualitative Wirtschaftsfaktoren spielen dabei eine
entscheidendere Rolle. Allerdings gibt es in der Literatur keine Einigkeit und
keine befriedigende Lösung der Definition einer Weltstadt.
Bronger (in Feldbauer
1997:37) definiert eine Metropole als eine Stadt mit mehr als 1 Million
Einwohnern, und eine Megastadt als eine Stadt mit mehr als 5 Millionen
Einwohnern. Den Unterschied zwischen einer Megastadt in einem Industrieland und
einem Entwicklungsland liegt im Ausmass ihrer funktionalen Vorherrschaft im
eigenen Land. Diese ‚funktionale Primacy‘ ist in den Megastädten und Metropolen
der dritten Welt viel ausgeprägter als in den Megastädten der Industrieländer;
zudem ist das Qualitätsgefälle von Einrichtungen im Gesundheits- und
Bildungswesen zwischen Stadt und Peripherie in den Entwicklungsländern viel
grösser. Verstärkt wird die funktionale Hegemonie der Megastädte der
Entwicklungsländer noch dadurch, dass ein Grossteil der internationalen
Konzerne, Banken und Organisationen ihre Aktivitäten in diesen Megastädten
konzentrieren.
Für die Forscher der Chicago
School of Sociology ging es darum, den Einfluss räumlicher Faktoren auf die
städtische Sozialorganisation herauszufinden; die Grossstadt galt als ein
heterogenes, weitgehend strukturloses Gesamtgebilde, das durch entremdete,
zweckgebundene Beziehungen seiner Bewohner gekennzeichnet ist. Weltstädte
wurden als nationale Zentren von
Wirtschaft und Politik verstanden. Wirths Definition der Stadt aus den
dreissiger Jahren anhand der drei Kriterien Grösse, Dichte und Heterogenität
vermag der heutigen Komplexität städtischer Phänomene nicht mehr gerecht zu
werden; auch das von Redfield in den vierziger Jahren vorgelegte Konzept eines
Kontinuums zwischen städtischer und ländlicher Gesellschaft belässt es bei der
Untersuchung von Problemen und Prozessen auf der lokalen Ebene (Kokot 1990:3f).
Obwohl die Untersuchung der gesellschaftlichen Mikroebene weiterhin eine Stärke
des ethnologischen Ansatzes ist, nimmt die Bedeutung von Erklärungen auf der
Makroebene für die Stadtforschung weiter zu.
Deshalb setzt Clark ganz auf
wirtschaftliche Faktoren um eine Weltstadt von einer anderen Grossstadt zu
unterscheiden. In Weltstädten sind die
Schlüsselpersonen, -institutionen und -organisationen ansässig, die den
Kapitalismus weltweit managen, manipulieren und diktieren. Aus diesem Grunde
sind solche Städte von herausragender Bedeutung, was Status und Macht
anbelangt, dass sie die Bezeichnung ‚Weltstädte‘ verdienen (Clark 1996:137).
Die Funktion dieser Städte ist das wichtigere Kriterium als ihre Grösse.
Die Entscheidungs- und
Kontrollfunktion dieser Städte zeigt sich anhand der Geschäftsaktivitäten in
solchen Städten. Diese umfassen Unternehmensmanagement, Bankgeschäfte,
Anwaltskanzleien, Beratungsfirmen, Telekommunikation, internationaler
Transport, Forschung und Hochschulbildung. Was die Weltstädte von anderen
Grossstädten unterscheidet ist, dass diese Dienstleistungen sehr häufig auf den
Weltmarkt ausgerichtet sind und nicht auf den einheimischen Markt.
In den Weltstädten
konzentrieren sich die Hauptquartiere der global tätigen Unternehmen. Dort
fliessen Informationen und Daten zusammen, dort werden diese kontrolliert und
weitergeleitet. Diese Befehls- und Koordinationsfunktion ist gerade durch die
Entwicklung in der Telematik noch verstärkt worden. Einst separate und weit
verstreute Aktivitäten können jetzt funktional integriert und konzentriert
werden. Die bisherigen verzögernden Konstanten von Zeit und Raum können viel
leichter überwunden werden. Das globale Netzwerk der Wirtschaft ist den
Fortschritten in der Telematik zu verdanken, die Funktion und Bedeutung der
Weltstädte ist dadurch noch verstärkt worden. Dementsprechend stehen Neuerungen
im Telematikbereich auch zuerst in den Weltstädten zur Verfügung bevor sie ihre
weitere Ausdehnung erfahren.
Weltstädte sind auch wichtige
Zentren für internationale Organisationen und Verwaltungen, sowie der Ort, wo
internationale Kongresse und Konferenzen abgehalten werden. Die Wichtigkeit und
Besonderheit dieser Aktivitäten zeigt sich auch in der architektonischen
Gestaltung von Büro- und Kongressgebäuden.
Die Präsenz solcher
Funktionen und Institutionen macht die Weltstädte einander ähnlich; sie haben
mehr miteinander gemeinsam als mit anderen städtischen Zentren im eigenen Land
(Freire-Medeiros 1997:799f).
Ihre Stärke und Verbindung
zeigt sich auch darin, dass diese Städte für den Reisenden untereinander
leichter zu erreichen sind als weniger bedeutende Zentren im eigenen oder im
Nachbarland. Die starke Transportanbindung zeigt sich zum Beispiel darin, dass
es zwischen den Weltstädten mehr Flüge gibt als zu den jeweiligen regionalen
Zentren.
Die Anzahl der Städte, die
von globaler Bedeutung sind, variiert je nachdem, welche Kriterien verwendet
werden.
Wenn man wie Friedman (in
Clark 1996:140) eine hierarchische Liste von Städten zusammenstellt, gewichtet
vor allem nach wirtschaftlichen Faktoren, oder wie Feagin & Smith (in Clark 1996:147ff) nach der Anzahl
transnationaler Unternehmen, dann zeigt sich eine Vorherrschaft von New York,
London und Tokyo. Was eine Weltstadt ausmacht, ist also nicht nur ihre Grösse,
sondern vor allem die Konzentration wirtschaftlicher Entscheidungs- und
Kontrollmacht.
New York ist der zentrale Ort
besonders vieler transnationaler Unternehmen, sowie das Zentrum der globalen
politischen Macht. Zudem wird von hier aus ein ansehnlicher Teil der globalen
Produktion und des globalen Verbrauchs kontrolliert.
London ist eine Weltstadt
wegen der starken Rolle als Anbieter von Dienstleistungen im Finanzbereich und
für Unternehmen; diese Position hat sich aus der Rolle als zentrale Drehscheibe
für das britische Empire ergeben.
Tokyo hat sich seinen Status
als Weltstadt zum grossen Teil selbst geschaffen, durch die Stärke der
japanischen Wirtschaft und durch die Vormachtsstellung im einheimischen Markt.
Die Definition anhand der
Wirtschaftsfaktoren ist jedoch nicht völlig befriedigend; die Bedeutung und das
Ausmass der Macht, die von den Weltstädten ausgeht, wird leicht überschätzt,
denn sie selbst werden auch von globaler Wirtschaft und Politik beeinflusst. Dies
lässt die Frage offen, inwieweit die heutige Welt als wirtschaftliches und
städtisches System zusammenhängt und inwiefern dieses System von ein paar
kapitalistischen Knotenpunkten dominiert wird (Clark 1996:142). Es gibt noch
immer viele Länder und Gebiete gibt, deren Wirtschaftssystem nicht oder nur
marginal in die Weltwirtschaft eingebunden ist.
Obwohl die wirtschaftliche
Verflechtung noch nicht den gesamtenn Globus umspannt, bin ich der Meinung,
dass man dennoch bei einigen Städten wohl zurecht von Global Cities spricht,
zum einen wegen der Zunahme der Grösse und Bandbreite des globalen
Finanzkapitals und seiner Konzentration an wenigen Orten, zum andern wegen der
weltweiten Erreichbarkeit dank moderner Transport- und
Telekommunikations-systemen.
Bronger (in Feldbauer
1997:55ff) versucht mit einer Kombination verschiedener Faktoren eine breiter
abgestützte Rangliste der Weltstädte zu erreichen. Seine Indikatoren beinhalten
die Hauptsitze der 500 grössten transnationalen Unternehmen, die Hauptverwaltungen
der 50 grössten Banken, die grössten Börsen, das Verkehrsaufkommen der
internationalen Flughäfen, die führenden Seehäfen und die Anzahl Sitze
bedeutender internationaler Institutionen in einer Stadt.
Auf den ersten Rängen finden
wir Tokyo, New York, London und Paris, mit Abstand folgen Osaka, Frankfurt,
Chicago und Los Angeles. Dass sich in den ‚Top 30‘ nur Städte der
Industrieländer wiederfinden, legt die Schlussfolgerung nahe, dass die
Megastädte der Entwicklungsländer im Globalisierungsprozess lediglich als
Produktionszentren fungieren und dass sich ihre Verteilungsfunktion auf die
nationale Ebene beschränkt. Dies gilt auch für Städte mit mehr als 10 Millionen
Einwohnern wie Buenos Aires, Mexico City, Kairo, Manila, São Paulo, Jakarta,
Bombay und Kalkutta. Keine dieser Städte ist also eine Global City, da sie alle
nur eine dominante Stellung im nationalen oder regionalen Einflussbereich
innehaben. Darin liegt auch der Unterschied zu den Metropolen der ersten Welt,
denn in diesen sind die Hauptquartiere transnationaler Konzerne, Banken und
Organisationen angesiedelt.
Die zunehmende Komplexität
und Diversifizierung in den Megastädten der dritten Welt ist auch ein Ausdruck
ihrer steigenden Einbindung in die globale Hierarchie der Megastädte.
Damit geht auch eine
Internationalisierung der Gesellschaft und der Kultur in den Megastädten
einher. Die Einbindung einer Stadt in die globale Wirtschaft und Gesellschaft
erfolgt aber nie vollständig; nicht die Stadt, ihre Bevölkerung und Wirtschaft
als Ganzes werden erfasst, sondern nur ganz bestimmte räumliche, soziale und
wirtschaftliche Teile davon. Dies führt zu einer zunehmenden sozialen
Polarisierung innerhalb der Megastädte; auf der einen Seite gibt es eine
gutausgebildete, mobile und hochbezahlte Elite, die kosmopolitisch ausgerichtet
ist, auf der anderen Seite gibt es eine schlecht ausgebildete und schlecht
bezahlte Arbeiterklasse. Diese Bevölkerungsgruppe setzt sich zu einem
beachtlichen Teil aus MigrantInnen zusammen, die in der Hoffnung auf ein besseres
Leben in die Städte gezogen sind. Weil diese Zuwanderung sehr stark ist, vermag
die staatliche und städtische Politik kaum den Anforderungen im Bereich der
Infrastruktur- und Sozialpolitik gerecht zu werden; dies auch deshalb nicht,
weil die Ausrichtung der Stadtpolitik immer stärker an den Bedürfnissen der
konsumorientierten Oberschicht und den Interessen der ökonomischen
Wachstumsbranchen orientiert ist.
Auch in den peripheren
Megastädten sind die lokalen Eliten wegen der zunehmenden Weltmarktintegration
einer Internationalisierung unterworfen; mit ihrer zunehmenden Beteiligung am
Weltmarkt erfolgt ihre Orientierung zusehends an diesem. In der Folge sinkt das
Interesse an einer umfassenden Stadtpolitik und den sozialen Bedürfnissen eines
Grossteils der städtischen BewohnerInnen wird kaum Rechnung getragen,
beispielsweise mit der Vernachlässigung des öffentlichen Verkehrs.
Lopes de Souza (1993:115)
sieht in den Merkmalen der Unterentwicklung - Mangel an Geldressourcen,
Fehlplanungen, falsche Prioritätensetzung - das hauptsächliche Problem der
Stadtverwaltungen, um mit den Problemen, die eine gewaltige und schnelle
Migration in die Städte mit sich bringt, klarzukommen.
Auch Korruption und
Ineffizienz der Verwaltung, sowie die schlecht geregelte Verteilung der Macht
und Kompetenzen zwischen Staat, Bundesstaat und Stadtverwaltung ihren Teil dazu
bei, die Lösung städtischer Probleme zu verzögern.
Wichtig ist festzuhalten,
dass die Armut in den Grossstädten der sogenannten dritten Welt sowohl
quantitativ als auch qualitativ viel grösser ist als in Städten der ersten
Welt. Der Befriedigungsgrad der grundlegenden Bedürfnisse (wie Nahrung,
Wohnung, Kleidung, sanitäre Einrichtungen) ist ungleich geringer, der Mangel
ungleich grösser. Auch der Befriedigung der nichtmateriellen Grundbedürfnisse
(wie gute Arbeitsbedingungen, Freizeit, soziale Sicherheit, persönliche
Freiheiten) stehen ungleich grössere Schwierigkeiten gegenüber als in der
ersten Welt (Lopes de Souza 1993:30f).
Die Schaffung von
Arbeitsplätzen kann mit der starken Zuwanderung nicht Schritt halten. Die armen
MigrantenInnen bleiben auch in der Stadt marginalisiert, wenn sie keine Arbeit
finden. Wegen der starken Nachfrage nach Arbeitsplätzen können die Löhne von
den Arbeitgebern niedrig gehalten werden, denn es steht immer eine Reservearmee
an potentiellen Arbeitskräften zur Verfügung. Trotzdem sind die Arbeitsplätze
und Lebensbedingungen in den Grossstädten im allgemeinen besser als auf dem
Lande. Viele der Zugewanderten können aber aus strukturellen Gründen gar nicht
vom industriellen Sektor absorbiert werden und bleiben dysfunktional für das
kapitalistische System (Lopes de Souza 1993:71). Die Folgen davon sind
Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Kriminalität.
Andererseits snd die modernen
Industrien ihrerseits auch abhängig von ausländischen Investitionen und
kapitalintensiven Technologien und angewiesen auf gutausgebildete
ArbeiterInnen.
Lopes de Souza (1993:41)
bezeichnet die Segregation als das durchdringendste Merkmal der heutigen
Verstädterung, nämlich die Segregation von ethnischen Minderheiten, von
Einkommensgruppen, im Bereich der Landnutzung und der persönlichen Aktivitäten.
Die Stadt selbst wird, wie Wirth sie beschrieben hat (in Kokot 1990:3), geprägt
von Oberflächlichkeit und Anonymität, die städtischen sozialen Beziehungen
haben vorübergehenden Charakter. Es entstehen in der Stadt räumlich getrennte
und kulturell homogene Viertel, die als funktionale, aber separate Bestandteile
der Stadt angesehen werden.
Bronger (in Feldbauer
1997:58) spricht deshalb von ‚Zitadelle und Ghetto‘. Der Zitadelle entsprechen
die Pracht- und Luxusbauten der Stadt; es sind dies die entstehenden
internationalen Räume, wie Hotels, Bürohochhäuser, Appartementhäuser,
Kongresszentren, die Teile einer globalen Gesellschaft sind; Wohngebiete werden
gentrifiziert, das bedeutet, dass durch eine entsprechende Bau- und
Mietpreispolitik die ärmere Bevölkerung vertrieben wird und die Wohnviertel
dadurch für die vermögende Mittel- und Oberschicht homogenisiert werden. Dem Ghetto
entsprechen die verarmten, marginalisierten Bevölkerungsschichten, deren
Wohnviertel oft, obwohl zentral gelegen, kaum in die übrige Stadt integriert
sind und die zu einem gewissen Grad dysfunktional für die Wirtschaft und
gesellschaftlich abgekoppelt von der übrigen Stadt sein können.
Obwohl São Paulo als
semiperiphere Metropole (Friedman in Clark 1996:140) für den südamerikanischen
Raum von überregionaler Bedeutung ist, bleibt die brasilianische Wirtschaft
insgesamt stark vom Weltmarkt abhängig.
Bis in die siebziger Jahre
setzte sich das Wachstum an der Peripherie São Paulos ungebrochen fort, erst
dann waren die Nachteile des Lebens in der Agglomeration so gross, dass das
Landesinnere wieder an Bedeutung gewann. Novy spricht in diesem Zusammenhang
von einer Polarisationsumkehr, von einer Dekonzentration im Zentrum São Paulos,
und einer zunehmenden Einbindung und Entwicklung der umliegenden Gebiete (Novy
in Feldbauer 1997:275f).
Nachdem die
Industrieproduktion São Paulos bis in die sechziger Jahre stark ausgebaut
wurde, erfolgte seit den 70er Jahren eine industrielle Dezentralisierung. Der
Anteil an der brasilianischen Industrieproduktion sank in der Stadt São Paulo
zwischen 1970 und 1984 von 28% auf 18,6%, während sie im gleichen Zeitraum im
Landesinneren von 14,7% auf 19,8% gestiegen war. Von dieser Entwicklung
profitierten vor allem die Mittel- und Grossstädte im Umkreis von 150
Kilometern um São Paulo; sie weisen überdurchschnittliche Wachstumsraten von
Bevölkerung und Produktion auf. Der verstädterte Bereich hat sich entlang der
Verkehrsachsen in Richtung Osten nach Rio de Janeiro und in Richtung Norden
über Jundiaí und Campinas nach Brasília im Landesinneren ausgedehnt und wurde
dabei von staatlicher Seite stark gefördert und profitierte von der Zusammenarbeit
von Forschung und Industrie sowie einer geringeren Umweltbelastung (Novy in
Feldbauer 1997:275f).
In der Region São Paulo hat
der Anteil der im sekundären Sektor beschäftigten von 32,8% 1985 auf 25,3% 1994
abgenommen, während der tertiäre Sektor seinen Anteil von 48,9% 1985 auf 54,1%
1994 steigern konnte. In São Paulos Industrie gingen zwischen 1985 und 1993
über 300‘000 Arbeitsplätze verloren. Der aufstrebende Dienstleistungssektor
konnte diesen Verlust nur teilweise auffangen. Das Heer der Arbeitslosen als
Reservoir für Niedriglohnarbeiten hat indessen weiter zugenommen, die
Arbeitslosenrate liegt 1994 bei 12,6%; nach Schätzungen arbeiten rund 800'000
Menschen im informellen Sektor (Kohlhepp 1997:14).
Während der Anteil an der
nationalen Produktion in São Paulo zwischen 1970 und 1990 leicht zurückging,
hat sich der Anteil der umliegenden Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa
Catarina, Paraná und Minas Gerais von 32% auf 51% gesteigert. Es lässt sich
also in der Region São Paulo eine gewisse Dekonzentration feststellen, die auf
nationaler Ebene aber zugenommen hat und die, im Rahmen des südamerikanischen
Wirtschaftsraumes Mercosur weiter zunehmen wird und dabei eine Reihe von
Städten von Belo Horizonte, Rio de Janeiro über São Paulo und Porto Alegre bis
nach Montevideo und Buenos Aires erreicht (Novy in Feldbauer 1997:277). Dieser
Grossraum ist das wirtschaftliche Zentrum Südamerikas und insbesondere durch
die neuen Formen der globalen Arbeitsteilung in die Weltwirtschaft eingebunden.
Nach dem Vorbild
der Europäischen Union soll im Mercosur durch den Abbau von Zöllen und die
Schaffung eines gemeinsamen Marktes Handel und Wirtschaft angekurbelt werden.
In einem weiteren Schritt sollen auch technische Normen und Regulierungen
angepasst werden; danach ist geplant, die volle Freizügigkeit von
Dienstleistungen, Kapital, Personen und Arbeit zu verwirklichen und eine
gemeinsame Aussenwirtschaftspolitik zu gestalten. Diese Entwicklung ist
angesichts der unterschiedlichen Politik und der verschiedenen Interessen der
beteiligten Länder in unabsehbare Ferne gerückt.
Was das
Handelsvolumen angeht, so ist der Mercosur erfolgreich. Brasiliens Exporte
haben von 1990 bis 1996 um 453% zugenommen; der Staat São Paulo allein kam für
54% dieses Volumens auf. Dies zeigt die Bedeutung São Paulos für den
südamerikanischen Wirtschaftsraum.
Der Anteil der
Exporte in den Mercosur macht 24% der Gesamtexporte São Paulos aus. Der
Mercosur ist damit der wichtigste Handelspartner São Paulos.
Die Metropolitanregion São
Paulo ist nicht nur der grösste Markt im Mercosur, sondern auch der Ort, wo die
wichtigen Entscheide gefällt werden. Einige Zahlen sollen dies verdeutlichen:
16 der 20 grössten Banken des Landes haben ihren Hauptsitz in São Paulo, 7 der
8 grössten Medienunternehmen haben ihre Zentrale in São Paulo; 38% der grössten
brasilianischen Privatunternehmen und 63% der internationalen Unternehmen haben
ihre Hauptquartiere in São Paulo.
Diese Wirtschaftsmacht bietet
eine gute Ausgangslage, um die Bedeutung São Paulos im südamerikanischen Raum
weiter zu festigen und auszubauen.
3. Stadtplanung
Der städtische Raum und das
soziale Leben von 1890 bis 1940 waren geprägt von Heterogenität.
Die Einwanderungspolitik bevorzugte
gut ausgebildete, europäische Migranten, die in den neu errichteten Fabriken
Arbeit fanden; damit wurde auch das Ziel verfolgt, die ehemaligen schwarzen
Sklaven zu ersetzen und die Bevölkerung ‚weisser’ zu machen.
Der Höhepunkt der
Einwanderung war 1893 erreicht, als 55% der Bewohner São Paulos aus dem Ausland
stammten, danach ging die Einwanderung wieder etwas zurück. 1920 waren noch 36%
der Bevölkerung im Ausland geboren.
In der letzten Dekade des
19.Jahrhunderts nahm die Bevölkerung São Paulo jährlich um 13,9% zu, aber der
städtische Raum expandierte nicht in gleichem Masse.
Dominierten in der vor 1890
ruhigen Stadt vor allem Finanz- und Dienstleistungsbetriebe, die mit der
Kaffeeproduktion in Zusammenhang standen, so führte die Industrialisierung zu
einem chaotischen städtischen Raum. Es wurde viel gebaut, vor allem neue
Fabriken und Wohnunterkünfte für die neuen Arbeiter. Fabriken, Wohnhäuser und
Geschäfte waren alle nahe beieinander.
Quelle: FAU USP 1996
Villa in Higienópolis
Die soziale Segregation liess
sich damals an der Wohnform erkennen: die Kaffeebarone und Industriellen
wohnten in eigenen Villen und Häusern während die meisten Arbeiter in prekären
Verhältnissen in den Mietskasernen (cortiços) wohnten. Reiheneinfamilienhäuser,
meist von den Fabriken für ihr gutausgebildetes Personal gebaut, konnten sich
nur sehr gut bezahlte Arbeiter leisten.
In einer so dicht
zusammengedrängten Stadt waren die bessergestellten Schichten besorgt darum,
soziale Unterschiede deutlich zu machen und die ärmere Bevölkerung zu
kontrollieren. Dies geschah mit einer Diskussion über die schlechten sanitären
Zustände in den Mietskasernen, assoziiert mit Unmoral und Kriminalität.
Die Oberschicht begann
deshalb aus dem engen Raum des Zentrums wegzuziehen in ein neues Viertel,
Higienópolis, wo sie unter sich bleiben konnten.
Quelle: Ferraz de Lima 1997:48
Av. Higienópolis
Gleichzeitig wurden
Massnahmen ergriffen, um die
Bevölkerungsdichte im Zentrum zu verrringern
und die schlechten sanitären Zustände zu verbessern. Den sozialen Spannungen im
chaotischen Zentrum sollte mit Reinheit, Öffnung und Zerstreuung begegnet
werden.
Im Zentrum fand
deshalb eine eigentliche Haussmannisierung statt: Häuser wurden modernisiert,
grosse Aveniden wurden gebaut und saubere Wohnviertel entstanden (Sennett
1994); die Innenstadt wurde dadurch aufgewertet.
Quelle: Ferraz de Lima 1997:41
Teatro Municipal 1910 Teatro Municipal 2001
BettlerInnen,
StassenverkäuferInnen, MieterInnen und Prostituierte wurden vertrieben. Diese
Modernisierung und Säuberung der Innenstadt wurde gegen den Willen der Arbeiter
durchgeführt. Den deshalb aufkommenden sozialen Spannungen begegnete die Stadt
mit einer Politik der Peripherisierung. Um das historische Zentrum herum
entstanden Wohnviertel für die Mittelschicht und gross angelegte
Durchgangsstrassen.
Quelle: FAU USP 1996:42 Quelle: FAU USP 1996:42
Zentrum 1935 Zentrum 1950
Anstelle des kostenintensiven
Strassenbahnnetzes, dessen Reichweite begrenzt war, wurde in den 30er Jahren
ein Bussystem eingeführt; damit konnte die städtische Expansion vorangetrieben
werden. Ohne diese Neuerung wäre die Vertreibung der Arbeiter aus dem Zentrum
nur schwer denkbar gewesen, so aber bedeutete diese Entwicklung für die
Arbeiter, dass ihr täglicher Weg zur Arbeit in die zentrumsnahen Fabriken
länger wurde.
Rua Augusta 1968
Der an der
Peripherie geschaffene Wohnraum diente also dazu die Wohnungsprobleme im
Zentrum zu beheben und sozialen Spannungen vorzubeugen. Die Peripherie wird
dabei negativ definiert, als Nicht-Zentrum, als Nicht-Vorhandensein von
Infrastruktureinrichtungen, Schulen, Verkehrsmitteln und Freizeitangeboten.
Mit der
Umsiedlung der Arbeiter in ländliche Randgebiete dehnte sich die Stadt
immer mehr nach allen Seiten aus und die unteren Schichten wurden
marginalisiert.
Quelle FAU USP 1996:45
Wohnblock, 40er Jahre
Die herrschende Klasse war
aber auch daran interessiert, dass die Kaufkraft der Arbeiterschicht zunimmt,
deshalb wurde der Hausbesitz als erstrebenswert propagiert, (weil damit keine
Mietzinsen mehr anfallen) und staatlich gefördert. Grossen Einfluss darauf
hatte das von Präsident Vargas 1941 eingeführte Mietergesetz (lei do
inquilinato), welches alle Mietzinssätze einfrohr und damit den Bau von
Mietwohnungen unattraktiv machte; dies führte zu einer akuten Verknappung der
verfügbaren Mietwohnungen, und somit zu einem Exodus der Arbeiterklasse an die
Peripherie, wo sie ihr eigenes Haus bauen sollten.
Damit wurde das bisherige
Gesicht der Stadt radikal geändert und die soziale Segregation neu durch grosse
Distanzen zwischen Reichen und Armen ausgedrückt. Es lassen sich vier
Charakteristiken dieser neuen Struktur erkennen:
-
Die Wohnfläche ist nicht mehr dicht konzentriert,
sondern weit verstreut. Die Bevölkerugsdichte fiel von 110 Einwohner/Hektar im
Jahre 1914 auf 24,5 Einwohner/Hektar 1960.
-
Die Mittel- und Oberschichten lebten in zentral gelegenen,
gut ausgestatteten Vierteln; die Armen lebten in der Peripherie
-
Arme und Reiche besassen in der Regel ihr eigenes Haus
-
Das städtische Transportsystem setzte auf Busse für die
Arbeiterklassen, während die Mittel- und Oberschicht das Auto benützte (Caldeira
1992:234).
Quelle: Ferraz de Lima 1997:170
Vale do Anhangabaú 1953
Dieses städtische Muster
etablierte sich zur selben Zeit als São Paulo zum industriellen Zentrum
Brasiliens wurde und neue, moderne Industrien (wie zum Beispiel die
Autoindustrie) sich niederliessen. Damit verbunden war eine neue Welle der
Migration, vor allem aus dem Nordosten Brasiliens.
Der Anteil der
Stadtbevölkerung im Bundesstaat São Paulo hat von 1920 (12.6%) bis 1970 (33,3%)
kontinuierlich zugenommen und ist erst in den 80er Jahren wieder leicht
gesunken. Innerhalb der Stadt São Paulo hat sich das Bevölkerungswachstum vom
Zentrum hin zur Peripherie verschoben; insgesamt schwächt sich das Wachstum ab.
Das
wirtschaftliche Wachstum und die starke Bevölkerungszunahme führten dazu, dass
in den peripheren Gebieten in den Bereichen Häuserbau, öffentlicher Verkehr und
öffentliche Einrichtungen praktisch keine Investitionen getätigt wurden.
Bodenspekulanten
hatten in peripheren Gegenden grosse Flächen aufgekauft und dann einen kleinen
Teil davon an Wohnungssuchende weiterverkauft.
Diese Expansion
städtischen Raumes wurde nicht vom Staat kontrolliert, so dass das
Siedlungsmuster unregelmässig war. Bebaute und freie Flächen verteilten sich
zufällig auf das grosse Stadtgebiet. Es gab dafür keinen Entwicklungsplan. Die
Besiedlung erfolgte gemäss den Interessen der Bodenspekulanten, welche nur auf
Profitmaximierung aus waren und die gesetzlichen Mindestanforderungen bezüglich
Wohnfläche und Infrastruktur häufig missachteten. Diese illegalen Praktiken
führten dazu, dass viele der Parzellen den gesetzlichen Ansprüchen nicht
genügten; dabei war den Arbeitern klar, dass sie nur hier in der Peripherie die
Chance haben, selbst Hauseigentümer zu werden.
Quelle: O Estado de São Paulo 27.5.2001
Besiedlung Peripherie
Die Bedeutung
eines Eigenheimes für die ärmere Bevölkerung liegt darin, dass der Haushalt,
der die grundlegende Organisationseinheit ist, auch als Ort der
Tauschwertproduktion im informellen Arbeitssektor genutzt wird, (als
handwerkliche Werkstätte oder als Küche für den Strassenverkauf, etc).
Die ärmere
Bevölkerung begann in eigener Regie und langwieriger Kleinarbeit den Bau ihrer
Häuser und organisierte sich gewerkschaftlich, um von der Stadt die
Bereitstellung notwendiger Infrastruktur, wie zum Beispiel Schulen,
Krankenhäuser oder Kanalisation, sowie die Legalisierung ihres Landbesitzes zu
fordern. Infolge dieser oftmals erreichten Legalisierung wurde das gesamte
Bauland aufgewertet, und konnte so mit grösserem Gewinn veräussert werden.
Einige wenige Spekulanten aus der Oberschicht konnten sich dabei stark
bereichern, aber auch für viele einfache Leute ist der Traum vom Eigenheim in
Erfüllung gegangen.
Der Hausbau an
der Peripherie war ein lange dauernder Prozess von Verbesserungen am Haus, der
in Eigenregie (auto-construção) durchgeführt wurde. Damit hat sich das
Wohnungsmuster in São Paulo stark verändert. Während der Anteil der Mieter
stark seit 1920 stark abgenommen hat, konnte sich der Anteil der Hauseigentümer
mehr als verdoppeln.
Tabelle 5: Verteilung der Wohnsitze in der Stadt São
Paulo, 1920 – 1980
Jahr |
Mieter
(in %) |
Eigentümer
(in %) |
Andere
(in %) |
1920 |
46'976 (78,6) |
11'404 (19,4) |
1'404 (2,3) |
1940 |
187'555 (67,7) |
69'097 (25,0) |
20'302 (7,3) |
1950 |
264'174 (59,3) |
167'953 (37,7) |
23'290 (5,2) |
1960 |
439'157 (52,6) |
342'644 (41,0) |
53'134 (6,4) |
1970 |
486'472 (38,2) |
683'930 (53,8) |
101'877 (8,0) |
1980 |
824'956 (40,0) |
1060'543 (51,4) |
176'697 (8,6) |
Quelle: Caldeira 1992:238
Bis 1940 waren 70% der
Hochhäuser im Zentrum angesiedelt; davon wurden zwei Drittel nicht zum Wohnen
genutzt, sondern dienten als Geschäfts- und Bürogebäude. 1940 lebten nur 4,6%
der Bevölkerung in Hochhäusern.
Bürogebäude im Zentrum, Praça da República und
Edificio Copan
Seither haben sich auch die
Wohnverhältnisse auch für die Mittelschicht verändert. Angehörige der
Mittelschicht wruden vermehrt zu Wohnungseigentümern und begannen in den späten 60er Jahren in neu errichtete
Wohnblöcke zu ziehen. Dies wurde möglich, weil die Wohnungsbaupolitik des
Staates den Markt förderte, indem sie
entsprechende Finanzierungsmöglichkeiten anbot. Mit finanzieller
Unterstützung der nationalen Wohnungsbank BNH (Banco Nacional de Habitação),
deren Gelder eigentlich für Familien mit niedrigen Einkommen vorgesehen waren,
errichteten die Bauunternehmen neue Hochhäuser und ermöglichten der
Mittelschicht somit sich eine Wohnung zu kaufen.
Diese Form des Wohnens blieb
der Mittelschicht vorbehalten, weil sich die ärmeren Bevölkerung dies nicht leisten
konnte.
Während die ärmeren Schichten
ohne finanzielle Unterstützung an der Peripherie ihre Häuser selbst bauten,
wurde der Mittelschicht mit günstigen Hypotheken der Erwerb einer
Eigentumswohnung ermöglicht; dies ist wohl auch der Grund dafür, dass viele
Leute aus der Mittelschicht ihren Traum vom Eigenheim aufgegeben haben und sich
für die leichter realisierbare Möglichkeit des Wohnungsbesitzes entschieden
haben.
Wohnblock in Vila Mariana
In der Zeit von 1977 bis 1982
wurden 80,8% aller errichteten Wohnblöcke
von Geldern der BNH mitfinanziert. Besonders in den 70er Jahren nahm die
Errichtung neuer Wohnblöcke stark zu. Ein neuer Zonenplan verteuerte ab 1972
die Grundstücke im Zentrum, so dass die Expansion der Wohnblöcke vor allem im
Südwesten der Stadt vor sich ging.
Avenida Paulista
Die neuen Bürogebäude und
Geschäfte folgten in dieselbe Richtung und verbreiteten sich entlang der
Avenida Paulista, Avenida Jardins und Avenida Faria Lima. Die Altstadt war
nicht mehr das einzige Zentrum.
Einteilung São
Paulos in 8 homogene Gebiete 1977:
Area I : am reichsten - Area VIII : am ärmsten
Quelle: Caldeira
1992:245
Die räumliche Trennung der
ärmeren Bevölkerung in der Peripherie von der bessergestellten Bevölkerung in
zentrumsnahen Gebieten vollzog sich zu einer Zeit grossen wirtschaftlichen
Wachstums, welches in den 70er Jahren den Glauben in Fortschritt und sozialen
Aufstieg stärkte, trotz der Unterdrückung der öffentlichen Meinung durch das
Militärregime.
Weil die gewerkschaftlichen
und sozialen Bewegungen der Arbeiterklasse an der städtischen Peripherie
erfolgreich waren und zu einer Verbesserung von Infrastruktur und
Lebensqualität geführt hatten, stiegen in der Folge auch die Landpreise kräftig
an. Dies führte dazu, dass neu zugewanderte, arme Leute sich den Bau eines Eigenheimes nicht mehr leisten konnten. Deshalb hat
einerseits die Anzahl der Favelas (illegale Barackensiedlungen auf
öffentlichem Grund) stark zugenommen, und andererseits leben viele Arme als
Untermieter in prekären Verhältnissen oder sind in benachbarte Städte
abgewandert, wo das Preisniveau noch erschwinglicher ist.
So hat also die
politische Organisation der Arbeiterklasse und die städtischen
Transformationen, welche daraufhin erfolgten, zu einem neuen Muster sozialer
und räumlicher Segregation geführt (Caldeira 1992:247).
Von den Favelas
existierten in den 70er Jahren erst einige wenige im Stadtzentrum, aber nun
verbreiten sie sich ausschliesslich in den peripheren Regionen.
Quelle: Barreto 1999
1973 lebte nur
1,1% der Bevölkerung São Paulos in Favelas, 1980 waren es 2,2%, 1987 bereits 8,8% und 1993 stiegerte sich
deren Anteil auf 19,4%, was etwa 1,9 Millionen Menschen entspricht (Caldeira
1996:305). Diese illegalen Siedlungen auf besetztem öffentlichem Grund, in
Parkanlagen oder an Flussufern werden aus Mangel an Alternativen geduldet. Die
Gesetzgebung zum Schutz der Wasserreservoirs der Stadt vor der Besiedlung der
Gebiete in der Nähe dieser Reservoirs hat versagt, geschütztes Land wurde
illegal besetzt und trägt massgeblich zum peripheren Wachstum der Stadt bei.
Die Trinkwasserprobleme der Stadt nehmen in der Folge weiter zu. Die kommunalen
Direktiven zur Stadtentwicklung seit den 70er Jahren zeigten einerseits keinen
Einfluss auf das Wachstum der illegalen Siedlungen und konnten andererseits
auch wichtige Investitionsentscheide nicht beeinflussen.
65% des
städtischen Wohnraums sind auf illegale Weise entstanden, an der Peripherie
sogar bis zu 90%, vor allem durch die Besetzung von öffentlichem Boden (Santos
in Gilbert 1996:7).
Ost-West-Autobahn (Radial Leste)
Da die Distanzen
zwischen Zentrum und Peripherie immer mehr zunehmen, ist die ärmere Bevölkerung
in den peripheren Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus oder den Favelas stark
auf ein funktionierendes Transportsystem angewiesen um in erträglicher Zeit zu
ihrem Arbeitsplatz im Zentrum zu gelangen. Der durchschnittliche Arbeitsweg in
der Metropolitanregion São Paulo beträgt 2,5 Stunden pro Tag (Kohlhepp
1997:15).
Als Alternative
dazu bleiben für die Armen nur die grossen Mietskasernen (cortiços) im Zentrum, welche ein Leben auf engstem Raum und bei
fehlenden sanitären und Kücheneinrichtungen bedeuten.
3.1. Heterogenisierung
Seit Beginn der 80er Jahre
gibt es einen Wandel, der das Zentrum- Peripherie-Schema überlagert und zu
einem heterogenen städtischen Raum geführt hat. Dabei hat die Segregation nicht
abgenommen, sondern nur seine sichtbare Form verändert. Es gibt wieder mehr
Einwohner mit niedrigen Einkommen in zentrumsnahen Gebieten als in früheren
Dekaden. Gleichzeitig gibt es eine Tendenz der Besserverdienenden in isolierte
Enklaven in peripheren Gebieten zu ziehen.
Je nach Stadtteil lassen sich
unterschiedliche Entwicklungen beobachten:
Viertel
wie Barra Funda, Bom Retiro, Brás oder Moóca, seit den 20er Jahren
traditionelle Industrieviertel, sind in den 60er Jahren zu Wohnvierteln der
unteren Mittelklasse geworden. Die industrielle Entwicklung findet nun in
weiter vom Zentrum entfernten Stadtteilen statt. Wer den sozialen Aufstieg
geschafft hat, ist in andere Viertel weggezogen.
Einerseits
sind viele der alten grossen Häuser sind in Cortiços umgewandelt worden
und dienen der armen Bevölkerung als Wohnort, andererseits entstehen luxuriöse
Wohnblocks für eine neuzuziehende reichere Bevölkerungsschicht; somit werden
diese Stadtteile heterogenisiert und eine, früher unbekannte, soziale Spannung
entsteht.
Die
Bevölkerungsdichte hat in diesen Stadtteilen von 1977 bis 1987 stark
zugenommen, obwohl es nur wenige Neubauten gab:
86,27& in Bom Retiro,
76,88% in Barra Funda,
54,58% in Moóca,
41,28% in Brás
(Caldeira 1992:253).
Cortiços, Sé 2001
Die
Mittelschicht verlässt deshalb ihre Häuser und zieht in Wohnblöcke, weil diese
als sicherer erachtet werden. Der Traum vom Eigenheim hat seinen Reiz verloren,
und die Furcht Opfer eines Verbrechens zu werden, lässt diese Art des Wohnens
für viele zum Alptraum mutieren. Andererseits ist die Nähe der Nachbarn in
diesen Hochhäusern ein neuer Unsicherheitsfaktor, vor allem wenn es darum geht,
die Kontakte der Kinder zu kontrollieren.
Brás 2001
Die Errichtung dieser neuen
Wohnblöcke steht dabei im Zusammenhang mit der Fertigstellung der Metrolinie
Richtung Osten und der damit verbundenen Aufwertung dieser Gebiete.
Eine zweite Gruppe von
Stadtteilen, (Pinheiros, Perdizes, Consolação, Vila Mariana und Aclimação), in
der traditionellerweise die Mittelschicht wohnt, erlebte in den 70er Jahren
eine starke Bautätigkeit. Diese nahm in den 80er Jahren wieder ab, weil die
Mittelschicht zusehends verarmte. Es gab in dieser Zeit auch nur eine geringe
Zunahme in der Bevölkerungsdichte. Die Mittelschichten, obwohl ärmer geworden,
bleiben in diesen Quartieren wohnen. Diese Entwicklung unterscheidet sich
deutlich von derjenigen, der alten Industriequartiere.
Eine dritte Gruppe wird von
den reichsten Vierteln Jardim Paulista, Jardim América und Cerqueira César
gebildet. Hier lässt sich in den 80er Jahren eine Zunahme der
Bevölkerungsdichte um fast 40% feststellen; dies deshalb, weil die Reichen es
vorzogen in neu errichtete Apartment-Hochhäuser zu ziehen und dafür ihre Häuser
aufgaben, aber in diesen zentralen Vierteln, mit ihren zahlreichen
Dienstleistungsbetrieben und Geschäften bleiben wollten.
Jardins
Ein beträchtlicher Teil der
Mittel- und Oberschichten zieht es jedoch vor, vom Zentrum wegzuziehen, was zu
grossen Veränderungen in den westlichen und südwestlichen Stadtteilen führte.
Hier sind einerseits die geschlossenen Enklaven und Wohnblöcke der Reichen
Seite an Seite mit den Behausungen der Armen, andererseits sind diese
Wohngebiete durchsetzt mit Bürogebäuden und Geschäften.
Nachdem, im Zusammenhang mit
der Wirtschaftskrise, die nationale Wohnungsbank BNH 1986 ihre Funktionen
einstellte, wurde der Erwerb einer Eigentumswohnung für die Mittelschicht
zusehends schwieriger; deshalb orientierte sich der Immobilienmarkt an den
Bedürfnissen der Reichen und errichtete viele Hochhäuser mit grossräumigen
Apartments. Viele Angehörige der Oberschicht verliessen daraufhin ihre Häuser
und zogen in diese Luxuswohnungen, einerseits aus Furcht vor der zunehmenden
Kriminalität, anderseits wegen der modernen Ausstattung und den angebotenen
Serviceleistungen in diesen Wohnanlagen.
4. Gewalt
Seit den 80er Jahren ist
nicht nur die Anzahl der Verbrechen in São Paulo gestiegen, sondern auch die
Anzahl der gewalttätigen Verbrechen; deshalb hat die Furcht ebenfalls
zugenommen und hat dadurch das Leben verändert.
In den alltäglichen
Gesprächen und Diskussionen ist Kriminalität ein wichtiges Thema, bei dem alle
etwas mitzuteilen haben, seien es auch nur Fragmente eines Ereignisses.
Geschichten werden immer wieder wiederholt und geben dem Gefühl der Gefahr und
der Unruhe Ausdruck; dabei wird die Furcht verstärkt, die Gewalt verdammt oder
bestaunt.
Dabei werden Meinungen
gebildet und die Wahrnehmung beeinflusst. Das zufällige Vorkommen und die
Willkür von Gewaltverbrechen geben den Eindruck einer chaotischen Situation,
einer aus den Fugen geratenen Welt; Gespräche darüber geben den Dingen wieder
eine statische Ordnung und teilen sie ein in Gut und Böse. Dies hilft dabei,
mit dem Arbiträren und Unvorhersehbaren der Gewalterfahrung fertig zu werden.
Die Furcht vor Verbrechen und
das Sprechen darüber führt nicht nur zu Erklärungsversuchen und
Interpretationen der Geschehnisse, sondern dienen auch der Rechtfertigung
privater und illegaler Reaktionen, wenn der Staat nicht für Gerechtigkeit
sorgt. Gespräche über Gewaltverbrechen tragen in diesem Sinne noch zu einer
Verstärkung der Gewalt bei. Dies geschieht in einem Kontext, wo die staatlichen
Institutionen (Polizei und Justiz) nicht in der Lage sind für Sicherheit, Recht
und Ordnung zu sorgen und selbst auf gewalttätige Methoden zurückgreifen. Ein
Zyklus von Gewalt und Gegengewalt wird damit noch verstärkt.
Die Gespräche über
Gewaltverbrechen bleiben aber nicht isoliert; sie werden mit Themen wie Armut,
Wirtschaftskrise, Unzulänglichkeit öffentlicher Institutionen und städtischen
Veränderungen verbunden und dabei in einen neuen Zusammenhang gebracht
(Caldeira 1992:4,11).
Wer einmal Opfer eines
Gewaltverbrechens geworden ist, der sieht die Dinge in einem anderen Licht, die
Furcht verlässt ihn nicht mehr, verschiedenste Schutzmassnahmen werden
verstärkt. So erfahren die Stadt, das eigene Haus und die Leute, mit denen man
zu tun hat, eine neue Bedeutung, weil man selbst Opfer eines Verbrechens wurde.
Das erlebte Verbrechen ist
es, welches Eindrücke neu organisiert; dabei wird häufig in ein bevor und
danach, in ein gut und böse eingeteilt; der Zustand vor dem Verbrechen wird
idealisiert und der Zustand danach als schlecht angesehen. Durch das erlittene
Unrecht wird im Gespräch auch anderen Dingen, welche die Wirtschaftslage oder
die soziale Situation betreffen, eine neue Bedeutung zugemessen und eventuell
in einen neuen, dramatisierten
Zusammenhang gestellt, den es vorher nicht gab.
Oftmals wird die zunehmende
Gewalt mit dem Entstehen der Favelas und der Zuwanderung armer Leute aus dem
Norden und Nordosten Brasiliens in Verbindung gebracht. Diese werden oft als
subhuman, ignorant, faul, unmoralisch und auch kriminell stereotypisiert. Die
Armen werden gemeinhin als Kriminelle angesehen, auch von den Armen selbst.
Gerade die Arbeiterklasse
bemüht darum, ihre soziale Überlegenheit den Neuankömmlingen gegenüber durch
Abgrenzung deutlich zu machen.
Hierbei eröffnen Gespräche
über Verbrechen eine Gelegenheit, mit sozialem Wandel und gesellschaftlichen
Problemen auf simplifizierte Weise umzugehen (Caldeira 1992:13).
Das Bild des Kriminellen wird
mit Armut und Arbeitslosigkeit verbunden. Dabei ist den Leuten durchaus klar,
dass nicht alle Armen und Arbeitslosen kriminell sind, und dass nicht alle
Kriminellen arm und arbeitslos sind. Aber diese simplifizierte Einschätzung des
Kriminellen ist präsent und gibt den vielen Erklärungsversuchen einen
vordergründigen Sinn.
Dem armen, arbeitslosen
Kriminellen wird auch der entsprechende Raum zugeordnet, wo Verbrechen und
Drogenkriminalität zuhause sind, nämlich die Favelas und Cortiços. Die Cortiços
sind in Wohnungen unterteilte Häuser, wo die Familien auf engstem Raum
zusammenleben müssen und wo es an grundlegendsten sanitären Einrichtungen und
Küchen mangelt. Die Favelas sind auf besetztem Land errichtete illegale
Barackensiedlungen; ihre Bewohner werden nicht als vollwertige Bürger
anerkannt, weil sie keine Steuern bezahlen.
Die Bewohner von Cortiços und
Favelas, den Orten des Verbrechens, werden als Randgruppen betrachtet, die
nicht in die Gesellschaft hineinpassen und nicht zur Stadt gehören; sie werden
mit den Nordestinos (Zuwanderen aus dem Norosten Brasiliens) und
gestörten Familienverhältnissen assoziiert oder gelten als unsauber und
moralisch schwach.
Interessant dabei ist, dass
selbst die arme Bevölkerung diese Vorurteile und Stereotypen im Umgang mit noch
Ärmeren benutzt, um sich von diesen zu distanzieren. Die Realität hingegen ist
komplexer und entspricht nicht dieser Polarisierung; und obwohl die
Arbeiterklasse sich dessen durch persönlichen Kontakt und positiven Erfahrungen
im Umgang mit Favelabewohnern durchaus bewusst ist, finden sie keine anderen
Erklärungsgrundlagen als diese stereotypen, widersprüchlichen Vorstellungen
(Caldeira 1992:84ff).
Obwohl das Verbrechen ein
generelles Phänomen ist, wird es häufig mit der starken Zuwanderung der Nordestinos
in Verbindung gebracht. Die Veränderung des eigenen Viertels, die als
Verfremdung wahrgenommen wird, gibt ein Gefühl der Unsicherheit, das der
zunehmenden Kriminalität und den Zugewanderten angelastet wird. Vorurteile gegenüber
den Nordestinos sind häufig und es gibt sie in allen Teilen der Stadt.
Die
Oberschicht in Morumbi hat ein etwas anderes Bild des Kriminellen: dieser ist
nicht unbedingt arm oder schlecht gekleidet, und wird mit Drogenhandel und
organisierter Kriminalität in Verbindung gebracht (Caldeira 1992:94).
Generell
jedoch wird das Bild des Kriminellen auch immer mit Armut assoziiert. Wer
selbst arm ist und in der Nähe von Favelas wohnt, bemüht sich darum, sich selbst
als ehrlichen Arbeiter darzustellen, der nichts mit dem Kriminellen zu tun hat;
dies erfolgt durch den verstärkten Gebrauch von Stereotypen.
Gemeinhin wird angenommen,
dass es nicht viel braucht, um kriminell zu werden:
Stress, Frustration, keine Arbeit,
schlechte Freunde kombiniert mit mangelnder Moral und Bildung reichen aus, um
zum Verbrecher zu mutieren. Raubüberfalle werden häufig Personen zugeschrieben,
die dies zum überleben tun müssen oder um sich ihren Drogenkonsum finanzieren
zu können.
Verbrechen mit übermässiger
Gewaltanwendung werden als grundlos angesehen und mit Unmenschlichkeit,
Perversion oder Drogeneinfluss in Verbindung gebracht (Caldeira 1992:109).
Wenn reiche Leute kriminell
sind, wird das ihrer natürlichen Boshaftigkeit oder ihrem Schicksal
zugeschrieben, denn hier können nur individuelle oder moralische Erklärungen
helfen, da keine ökonomische Notwendigkeit besteht ein Verbrechen zu verüben.
Reiche Leute werden oft
ausserhalb des Gesetzes situiert, da sie aufgrund ihrer sozialen Position nicht
mit Strafverfolgung rechnen müssen. Dies wird nur als eine weitere
Ungerechtigkeit von vielen wahrgenommen und führt zu einer pessimistischen
Stimmung in bezug auf die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung.
Als bestes Mittel gegen schlechten
Einfluss wird Arbeit angesehen, weil man dann zu beschäftigt ist, um auf
schlechte Gedanken zu kommen. Autorität und Segregation gemeinsam mit
Kontrolle, Beschäftigung, Separation und der Errichtung von Barrieren dienen
dazu, schlechte Einflüsse jeglicher Art fernzuhalten.
Die Angst das nächste Opfer
zu sein ist ein Gefühl, das alle Bewohner São Paulos verspüren; in öffentlichen
Räumen trägt man keinen Schmuck oder teure Uhren und man versucht sich
unauffällig zu verhalten und geht abends weniger aus. Häuser, Schulen,
Geschäfte sind eingezäunt; Sicherheit wurde zum zentralen Element des
Wohnverhaltens.
Kindergarten in Vila Madalena
Je mehr das alltägliche Leben
von Verbrechen unterbrochen wird, desto mehr werden Orte, Klassifikationen und
Unterscheidungen radikalisiert. Je mehr die Furcht zunimmt, desto stärker
tendieren die Leute zu radikalen Lösungen. Es werden nicht nur Mauern errichtet
und Fenster vergittert um seinem Wohnort zu schützen, sondern alltägliche
Routinen und soziale Aktivitäten werden eingeschränkt aus Sorge um die eigene
Sicherheit.
Das soziale Leben verkümmert,
Begegnungen in der Öffentlichkeit werden vermieden. Die Folge davon ist eine
verstärkte Segregation, welche die sozialen Unterschiede aufrechterhält und die
Diskriminierung der sozial Schwächeren fortführt.
Die Wirtschaftskrise und
Inflation der 80er Jahre führt dazu, dass man sich seiner sozialen Stellung
nicht mehr sicher sein kann; das Geld verliert täglich an Wert, Langzeitplanung
macht keinen Sinn mehr. Deshalb versucht man, seinen Arbeitsplatz und soziale
Stellung zu sichern. Das soziale Leben ist angespannt; das Gefühl, dass
grundlegende staatliche Institutionen nicht mehr funktionieren wird verstärkt
durch täglich neue Fälle von Korruption in der Presse; Fälle, die selten
untersucht werden und kaum Folgen haben. Deshalb sind Zweifel an der Polizei
und am Justizsystem ist stark.
Die weitverbreitete Furcht
vor Kriminalität, soziale Unsicherheit und Inflation und das Versagen
öffentlicher Institutionen sind der Demokratie und der Beachtung der
Menschenrechte nicht förderlich; im Gegenteil, dieser Kontext verstärkt die
Ungleichheit, Segregation, Diskriminierung, Stereotypisierung.
Caldeira hält fest, dass
trotz verheerenden Effekte der Inflation und der ungerechten Einkommensverteilung
die Oberschicht der Meinung ist, dass die Armen zumindest zum Teil selbst
schuld sind an ihrer Armut. Dies drückt sich wiederum in Stereotypen und
Zuschreibungen aus, wie Unwissenheit in bezug auf Wählen gehen, Sparen oder
Verhütung, fehlender Rationalität oder falscher Ressourcennutzung (Caldeira
1992:50).
Die Wirtschaftskrise der 80er
Jahre ist der Hintergrund für die Zunahme von Verbrechen und Gewalt, aber
genauso von Bedeutung sind auch die Unfähigkeit der staatlichen Autoritäten dem
Verbrechen Einhalt zu gebieten.
Die Frustration in bezug auf
die Regierung und die Politiker ist besonders gross; viele wünschen sich die
Konstanz und Dauerhaftigkeit des Militärregimes zurück. Die demokratische
Verfassung wurde von der Regierung Collor umgangen, indem sie wie die Militärs
mit Dekreten (medidas provisórias) regierte, die erst im Nachhinein dem
Kongress vorgelegt wurden und deren Folgen oft nicht mehr rückgängig gemacht
werden können.
Wenn selbst die Regierung
sich nicht an die Verfassung hält, wie sollen sich dann die einfachen Bürger
daran orientieren? Demokratie erscheint, wie die Inflation, als eine Illusion
und nicht als Versprechen für eine bessere Zukunft; Verfall und Armut sind die
Realität, sozialer Aufstieg erscheint nicht mehr länger möglich.
Diese Perspektivlosigkeit und
die Verarmung eines grossen Teils der Bevölkerung werden in einem direkten
Zusammenhang mit der Zunahme der Kriminalität gesehen.
Verbrechen verstärken diese
Wahrnehmung der Dinge; sogar wer wenig besitzt kann Opfer eines Verbrechens
werden.
Gleichzeitig mit sozialem
Niedergang schränken die Bewohner aus Furcht vor Kriminalität ihre Aktivitäten
in öffentlichen Räumen ein und bleiben vermehrt zuhause oder in der
Nachbarschaft. Diese Gleichzeitigkeit der Verarmung und steigender Kriminalität
ist eine alltägliche Erfahrung.
In dieser Situation der
Unsicherheit wird es als notwendig empfunden Unterschiede zu betonen und
sozialen Differenzen Ausdruck zu verleihen, sei es materiell, durch die
Einzäunung des Hauses (im Unterschied zu den Cortiços oder Favelas) oder
symbolisch, durch die abschätzige Stereotypisierung der Armen, der
Minderwertigen, die man an der Grenze der Gesellschaft sieht, deren irrationale
Verhaltensweisen man gerne beurteilt. So müssen die Fernseher in den Favelas
als Sinnbild für das irrationale Geldausgeben der Armen für Konsumgüter
herhalten; Konsumgüter, die den bessergestellten Klassen vorbehalten bleiben
sollten. Dabei sind es gerade die Fernseher, welche den Reichen wie den Armen
dieselben Symbole der Konsumgesellschaft vermitteln und den Lebensstil der
Oberschicht und die sozialen Unterschiede aufzeigen.
Der Ober- und Mittelschicht
fällt es nicht leicht, die Integration der Arbeiterklasse in die
Konsumgesellschaft und in die politische Arena zu akzeptieren; die Armen
sollten dort bleiben, wo sie hingehören und arm bleiben, ohne Ambitionen, und
den abwertenden Stereotypen entsprechen.
Indem sich soziale Positionen
aber zu verschieben beginnen, wird ein Gefühl der Unordnung und Unsicherheit
vermittelt, auf das die Leute mit verstärkter Segregation und Abgrenzung
reagieren. Gerade bei der unteren Mittelschicht und der Arbeiterklasse findet
man die stärksten Vorurteile um seine eigene soziale Position von
diejenigen abzugrenzen, die einem näher
sind. Die Nähe führt also zu einer Verfeinerung der Unterschiede, die aufrecht
erhalten werden sollen. (Caldeira 1992:72). Gerade die Arbeiterklasse, die
selbst im Verdacht steht kriminell zu sein, assoziiert Kriminalität mit Armut
und Mangel an Rationalität.
4.1. Die Erfahrung der Gewalt
Die Zunahme der Gewalt ist
etwas, das alle Bewohner schon erfahren haben, entweder dadurch, dass man selbst
schon einmal ein Opfer wurde oder dass jemand aus dem Familien- oder
Freundeskreis ein Opfer eines Verbrechens wurde.
Diese Erfahrungen sind nicht
nur auf den Ort begrenzt, wo man lebt, sondern verteilen sich auch auf die
Arbeitsumgebung, die öffentliche Räume und den öffentlicher Verkehr. Die Furcht
vor Überfällen hält die Leute immer beschäftigt, Verbrechen geschehen überall
und jederzeit.
Die Eliten fürchten sich weit
mehr davor, entführt zu werden, als nur ausgeraubt zu werden. Diebstahl gehört
als kleines Verbrechen schon fast zum Alltag.
Während sozioökonomische
Gründe oft eine befriedigende Erklärung für Überfälle und Diebstahl darstellen,
sind bei Tötungsdelikten andere Motive ausschlaggebend, nämlich persönliche
Konflikte, Spannungen oder Demonstrationen männlicher Stärke, besonders
gegenüber Frauen. Nebst diesen allgemeinen Erklärungen sind im Einzelfall immer
auch individuelle und persönliche Gründe miteinzubeziehen.
Wer Opfer eines Verbrechens
wurde setzt neue Sicherheits- und Alarmsysteme ein, bleibt am Abend und am
Wochenende mehr zuhause und schränkt seine Bewegungsfreiheit ein. Viele Leute
denken, dass es eine besonders Stärke braucht, um die Kriminalität zu
kontrollieren. Deshalb erfahren private und gewaltsame Verbrechungsbekämpfung eine
breite Unterstützung und ermöglichen der privaten Sicherheitsindustrie grosse
Wachstumsraten; gleichzeitig nimmt die Gleichgültigkeit zu wenn es um
polizeiliche Gewaltanwendung geht.
Die Verbrechenszunahme wird
auch mit einer schwachen Autorität, sei es die Schule, die Familie, der Staat,
die Polizei oder die Justiz, in Verbindung gebracht.
Man hat das Gefühl, dass die
Autoritäten und Institutionen nicht mehr in der Lage sind ihre Aufgaben zu
erfüllen und für gesellschaftliche
Ordnung und Vernunft zu sorgen. Deshalb ergreifen die Leute private
Schutz- und Kontrollmassnahmen und schliessen sich ein, weil die Umgebung als
zu bedrohlich empfunden wird.
Privates Wacht- und
Aufsichtspersonal wird angestellt, die Häuser werden verändert und die
Gewohnheiten öffentliche Räume zu benutzen werden geändert. Die gesamte Stadt
erfährt durch diese Schutzmassnahmen und das Gefühl der Angst eine Veränderung,
welche in neuen Formen räumlicher Segregation ihren Ausdruck findet und den
Charakter des öffentlichen Lebens verändert.
Nicht nur die Verbrechen
haben in São Paulo seit den 80er Jahren beständig zugenommen, sondern auch die
Gewaltanwendung derjenigen Institutionen, die Verbrechen verhindern und die
Bürger schützen sollten.
Nicht nur die Zunahme der
Verbrechen, sondern besonders die Zunahme der Gewaltanwendung beunruhigt die
Bevölkerung.
Diese Zunahme der Gewalt
steht in einem Zyklus, der Verbrechen, gewalt-tätige Reaktionen der Polizei,
Misstrauen ins Justizsystem, private gewalttätige Reaktionen und die Befürwortung
der Bevölkerung für gewalt-tätige Bestrafung miteinschliesst.
Das Vertrauen in die
Fähigkeit der Polizei, einen Diebstahl oder Einbruch aufzuklären, ist gering;
deshalb werden weniger als die Hälfte aller Diebstähle überhaupt gemeldet.
Wenn es um körperliche
Misshandlung bei Männern geht, sind es ebenfalls weniger als 50% der Fälle, die
der Polizei gemeldet werden, hauptsächlich wegen Misstrauens gegenüber der
Polizei. Bei körperlicher Misshandlung von Frauen werden gar weniger als 40%
der Fälle gemeldet, vor allem aus Furcht vor Rache und aus Misstrauen gegenüber
der Polizei (Caldeira 1992:115).
Entweder man fürchtet sich
vor der Polizei, misstraut ihr oder sieht sie als nicht fähig ein Verbrechen
aufzuklären. Offizielle Kriminalstatistiken zeigen deshalb nicht die
tatsächliche Anzahl der Verbrechen auf, denn sie sind ein Produkt, das die
operationelle und politische Situation der Polizei wiederspiegelt.
Es gibt zwei Arten von
Polizei: zum einen die Zivilpolizei (Polícia Civil) und zum andern die Militärpolizei
(Polícia Militar). Die Zivilpolizei kümmert sich um administrative
Belange (Ausstellen von Identifikationspapieren, Registrierungen) und um
gerichtspolizeiliche Belange (Kriminaluntersuchungen, Aufnahme von Beschwerden
und Verbrechensmeldungen, Einleitung von Gerichtsverfahren, Herstellung von
Kriminalstatistiken). Die Militärpolizei, die 1969 unter dem Militärregime
entstand, ist die uniformierte Strassenpatrouille; sie ist direkt der Armee
unterstellt und weist eine separate Organisations- und Ausbildungsstruktur auf.
Zwischen diesen zwei Arten von Polizei gibt es immer wieder Rivalitäten und
Konflikte.
Aussagen von Expolizisten der
Zivilpolizei bestätigen, dass Korruption und Folter häufig und gemeinsam
vorkommen. Der gewöhnliche Vorgang wird dabei in 3 Stufen eingeteilt: zuerst
wird der Gefangene gefoltert damit er seine Verbrechen gesteht, danach wird ein
Jurist beigezogen, der eine Ausgleichszahlung (acerto, settlement)
aushandelt; diese Zahlung wird in einem letzten Schritt getätigt (und an die
beteiligten Polizisten verteilt) und der Gefangene wird freigelassen und der
Tatbestand im Polizeireport wird abgemildert oder fallengelassen (Caldeira
1992:118).
Eine weitere, bekannte Art
der Korruption ist es, der Polizei ein Schmiergeld zu bezahlen, damit sie kein
Gerichtsverfahren eröffnet.
Die Zivilpolizei hält sich
dabei an folgende ‚internen’ Regeln:
-
Folter sollte keine sichtbaren Spuren hinterlassen,
-
Personen, die der Oberschicht angehören oder keine
kriminelle Vergangenheit aufweisen, sollen nicht gefoltert werden,
-
eine Person mit krimineller Vergangenheit, die aber
Geld besitzt, wird nicht gefoltert, wenn sie gleich zu Beginn für ihre
Freilassung bezahlt.
Gefoltert wird also derjenige,
der arm ist; wer Geld besitzt, kauft sich frei. Die ‚Arbeitsmethoden’ der
Zivilpolizei sind nicht nur illegal, sondern sie zeigen auch eine klare
Bevorzugung der Oberschicht.
Einbruchdiebstahl und
Raubüberfälle werden entsprechend dem sozialen Status des Opfers untersucht.
Wenn jemand der bestohlen wurde seinen Besitz wieder zurückbekommen will, kommt
es vor, dass der Polizei ein Beitrag entrichtet wird, damit diese ‚harte’
Befragungsmethoden anwendet, um zu Antworten zu kommen. Daraus kann man schliessen,
dass es in gewissen Teilen der Bevölkerung eine Toleranz gewaltsamer
Polizeimethoden gibt (Caldeira 1992:121).
Die Verbrechen der
Oberschicht, häufig Korruption und Betrug, die über die Presse der breiten
Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, führen selten zu Verurteilungen und
Haftstrafen. Dies wiederum lässt das hohe Niveau der ungestraften Taten erahnen
und zeigt die fehlende Verantwortlichkeit des Justizsystems.
Gewaltverbrechen gegen Frauen
und kleinere Delikte unter der ärmeren Bevölkerung werden von der Polizei nur
unwillig aufgenommen und selten wird eine Untersuchung eingeleitet.
Kriminalstatistiken müssen
vor diesem Hintergrund mit grosser Vorsicht betrachtet werden, weil Verbrechen
gegen Angehörige der Oberschicht überrepräsentiert sind und Verbrechen, wo das
Opfer der Unterschicht angehört, unterrepräsentiert werden. Zudem werden
Verbrechen unterrepräsentiert, die von der Oberschicht verübt wurden, und
Verbrechen, die von den Armen verübt wurden, werden überrepräsentiert.
Ebenfalls werden schwere Verbrechen unterrepräsentiert, weil sie in den
Polizeiberichten abgemildert wurden.
Somit wird die Arbeiterklasse
nicht nur als die gefährliche Klasse stigmatisiert, sondern durch das Verhalten
der Polizei und deren Statistiken auch tatsächlich dazu gemacht.
Das Problem der Statistik ist
es, dass die polizeiliche Statistik die einzige Quelle quantitativer Daten ist.
Man kann wahrscheinlich davon ausgehen, dass das tatsächliche Ausmass der
Kriminalität von der statistisch Erfassten über die Zeit konstant bleibt;
deshalb lassen sich doch einige Aussagen zu Veränderungen machen.
Am korrektesten ist wohl noch
die Autodiebstahlstatistik, weil von den Versicherungen eine Kopie des
Polizeireports verlangt wird, wenn Ansprüche geltend gemacht werden.
Was die Anzahl der verübten
Verbrechen betrifft, so lässt sich über die 70er und 80er Jahre hinweg eine
deutliche Zunahme feststellen, sowohl bei Verbrechen gegen Personen als auch
gegen Eigentum:
Quelle:
Caldeira 1992:130
Diese Entwicklung
hat sich in den 90er Jahren weiter verschärft. Alleine 1998 wurden 800'000
Paulistas Opfer eines Diebstahls oder Überfalls. Die Anzahl der Überfälle in
der Stadt São Paulo steigt jährlich an: waren es 1996 noch 31'871, so sind es
1999 bereits 55'786; genauso rasant hat sich der Markt für
Überwachugselektronik entwickelt: lag der Umsatz 1996 noch bei 211 Mio. R$, so
sind es 1999 schon ca. 436 Mio. R$ (Veja SP 6.10.1999). Von 1995 bis 1998 hat sich
die Anzahl der Autodiebstähle um 123% gesteigert (O Estado de São Paulo
25.4.1999)
Die
Verbrechensrate ist dabei in Stadtgebiet São Paulos deutlich grösser als in den
angrenzenden Städten:
Metropolitanregion Stadt São Paulo andere Städte
Quelle: Caldeira
1992:133.
São Paulo hat
dabei mehr Eigentumsdelikte aufzuweisen, während die umliegenden Städte
proportional mehr Morde aufweisen. Verbrechen gegen Personen stiegen in São
Paulo in diesem Zeitraum durchschnittlich um 1,75% pro Jahr, in den umliegenden
Städten aber um durchschnittlich 8% pro Jahr. Die Gebiete mit den höchsten
Raten der Gewaltzunahme befinden sich nicht im Zentrum, sondern an der
Peripherie, wo vor allem die ärmere Bevölkerung wohnt, wo aber auch die Mittel-
und Oberschicht in die neuen exklusiven Wohnanlagen zieht.
Die Anzahl der
Morde stieg dabei am stärksten an, sowohl in São Paulo selbst, als auch in den
umliegenden Städten. São Paulo reihte sich damit in den Kreis der
gewalttätigsten Städte der Welt ein. Während 1976 für die Altersgruppe der 20 –
49 Jährigen nur 4,9% der Todesfälle auf Morde zurückzuführen sind, sind es 1984
bereits 18,4%.
Tötungsdelikte
stehen vermehrt in Zusammenhang mit Drogen wie Crack, welche die Hemmschwelle
heruntersetzen, so dass bereits für Kleinigkeiten gemordet wird. 1980 wurde in
Brasilien alle 53 Minuten jemand ermordet, 1990 waren es bereits alle 21
Minuten und im Jahr 2000 alle 13 Minuten (Veja 7.6.2000).
Die Anzahl der
registrierten und der illegalen Waffen hat sich in den 80er Jahren vervielfacht. Jeden Tag werden von der Polizei im Staat
São Paulo über 100 Waffen beschlagnahmt (O Estado de São Paulo 25.4.1999).
Die zunehmende Bewaffnung
der Bevölkerung, (1999 waren es 18,2%), dient dabei nicht der persönlichen
Sicherheit, im Gegenteil, die Gefahr erschossen zu werden nimmt zu. In einer
Studie des Sicherheitsministerium São Paulos (Secretaria da Segurança de São
Paulo) zeigte sich, dass bei den versuchten Raubüberfällen die persönliche
Bewaffnung keinen Einfluss darauf hat, ob man dabei verletzt wird oder
unversehrt dem Verbrechen entkommen kann. Bei den durchgeführten Raubüberfällen
hingegen wurden alle bewaffneten Opfer erschossen. Der Besitz einer
persönlichen Waffe, ob legal oder illegal, bietet nur einen trügerischen Schutz
davor, Opfer eines Verbrechens zu werden (Folha de São Paulo 19.10.1999).
Anzahl Morde /
100'000 Einwohner :
1985: 1999:
Kapstadt 65 Cali (Kolumbien) 88
Kairo 56 Vitória 70
Alexandria 49 Rio de Janeiro 69
Rio de Janeiro 49 Kapstadt 68
Manila 37 São Paulo 56
Mexico City 28 Recife 53
São Paulo 26 Brasília 38
Quelle: Caldeira 1992:140 Quelle: Veja 7.6.2000
Diese traurige
Statistik, die sich in den 90er Jahren weltweit noch verschlimmert hat, zeigt,
dass sich São Paulo ebenfalls deutlich gesteigert hat. Die Performanz der
Polizei, die in São Paulo mit jährlich über 1000 Toten besonders gewalttätig
ist, wurde hier noch nicht einbezogen; São Paulo würde dadurch in den
Gewaltstatistiken noch schlechter dastehen.
Es gilt
festzuhalten, dass die Gewalt nicht einfach auf eine städtische Zentren
begrenzt ist, sondern dass sie an der Peripherie, in den Vorstädten genauso
zunimmt. Dies widerspricht eigentlich der Vorstellung derjenigen Leute, die in
die geschlossene Wohnanlagen ausserhalb der Stadt ziehen, um ein ruhigeres
Leben zu führen.
Damit ein
Verbrechen geschieht, braucht es ein Zusammentreffen verschiedener Faktoren:
-
eine Person muss ein Motiv haben,
-
sie muss die Mittel dazu haben, ein
Verbrechen verüben zu können,
-
es muss sich eine Gelegenheit dazu bieten
und
-
man muss sich sicher sein können, nicht
erwischt zu werden.
Wenn diese
Faktoren zusammentreffen, kann ein Verbrechen geschehen; das Zusammenspiel
dieser Faktoren und der Verlauf der Handlung bestimmen dabei den Grad der
Gewaltanwendung (CEDEC 1996:3).
Eine vom Centro
de Estudos de Cultura Contemporânea erstellte Studie untersuchte die 96
Stadtbezirke São Paulos auf sozioökonomische Faktoren und das Vorkommen von
Gewalt. Dabei wird eine positive Korrelation zwischen sozioökonomischer
Stellung und dem Gewaltrisiko (Anzahl Todesfälle pro 100'000 Einwohner)
festgestellt. Reiche Stadtteile wie Jardim Paulista, Moema, Alto de Pinheiros,
Pinheiros und Perdizes weisen ein sehr geringes Gewaltrisiko auf, während die
ärmsten Viertel Jardim Ângela, Parelheiros, Iguatemi und Grajaú besonders viele
Todesfälle aufweisen.
Einteilung der 96
Stadtbezirke, in Gebiete mit hohem, mittlerem und niedrigen Gewaltrisiko:
Quelle: CEDEC 1996:7
Tabelle 6: sozioökonomische
Stellung und Anzahl Todesfälle unter den 20 bis 24 Jährigen; eingeteilt in 8
Stadtgebiete, (welche den Sektionen der Zivilpolizei entsprechen):
Sektion |
Sozio- ökonomischer Wert (von 1 bis 10) |
Todesfälle pro 100'000 Einw. |
2 - Südosten |
5,5 |
78,61 |
1 - Zentrum |
5,4 |
56,33 |
3 - Westen |
4,8 |
60,73 |
5 - Osten: Penha |
4,5 |
48,97 |
4 - Norden |
4,0 |
82,45 |
7 - Osten:
Itaquera |
3,2 |
112,73 |
6 - Santo
Amaro |
3,1 |
175,40 |
8 - Osten : Guaianases |
2,8 |
146,62 |
Quelle: CEDEC
1996:7
Die Anzahl
Todesfälle steht dabei in direktem Zusammenhang mit der Lebenserwartung.
Während das durchschnittliche Alter in São Paulo 69,9 Jahre beträgt, lassen
sich einzelne Extremwerte feststellen. Die niedrigste Lebenserwartung weisen
Guaianases (64,8 Jahre), Brasilândia (65,5 Jahre) und Jardim Ângela (67,8
Jahre) auf. Diese Viertel gehören mit Werten zwischen 84 und 88 Morden auf
100'000 Einwohner auch zu den gewalttätigsten der Stadt. Demgegenüber ist das
Risiko ermordet zu werden in den reichen Stadtteilen Jardim Paulista,
Consolação und Perdizes mit Werten zwischen 2 und 9 Morden auf 100'000
Einwohner um ein Vielfaches geringer. Die durchschnittliche Lebenserwartung
liegt hier bei 76,5 Jahren (zum Vergleich: USA 76,7 Jahre), während sie in
Jardim Ângela bei 67,8 Jahren und in Brasilândia bei 65,5 Jahren liegt (zum
Vergleich: Guyana 64,4 Jahre). Dies entspricht einem Wert, den São Paulo
bereits vor mehr als 20 Jahren aufwies: 63,6 Jahre 1980 (Folha de São Paulo
17.10.1999).
Tabelle 7: sozioökonomische
Stellung im Vergleich mit Diebstahl und Raubüberfälle (inkl. Versuche)
Sektion |
Sozioökono-mischer Wert (1-10) |
Diebstahl Fahrzeuge |
Diebstahl andere |
Raubüberfall Fahrzeuge |
Raubüberfall andere |
2 – Südosten |
5,5 |
17,99 |
12,17 |
18,15 |
11,90 |
1 – Zentrum |
5,4 |
11,07 |
24,84 |
4,47 |
17,85 |
3 – Westen |
4,8 |
26,79 |
20,79 |
22,36 |
17,07 |
5 – Osten: Penha |
4,5 |
15,29 |
9,15 |
15,40 |
8,43 |
4 – Norden |
4,0 |
14,31 |
12,10 |
9,77 |
9,34, |
7 –
Osten Itaquera |
3,2 |
4,11 |
7,46 |
7,77 |
11,76 |
6 –
Santo Amaro |
3,1 |
7,65 |
8,72 |
16,47 |
16,36 |
8 – Osten: Guaianases |
2,8 |
2,78 |
4,76 |
5,61 |
7,29 |
Quelle: CEDEC
1996:8
Die
sozioökonomische Stellung der Stadtgebiete zeigt hierbei einen inversen
Zusammenhang mit der Anzahl Diebstähle und Raubüberfälle. In den reicheren
Vierteln kommen mehr Überfälle und Diebstähle vor, dafür ist das Risiko getötet
zu werden dort geringer. Dies hängt sicher auch mit den Prioritäten der Polizei
zusammen, welche in den reicheren Vierteln stärker präsent ist, damit vor allem
Eigentumsdelikten vorgebeugt werden kann. An der Peripherie hingegen, wo die
meisten Morde geschehen, ist die Polizei mit weniger Personal und weniger
Fahrzeugen vertreten (CEDEC 1996:11).
Diebstahlrisiko,
eingeteilt nach Sektionen der Zivilpolizei:
Quelle: CEDEC 1996:9
Soziologische
Erklärungen verbinden kriminelle Handlungen mit Verstädterung, Zuwanderung oder
Armut; für São Paulo gibt es aber noch einen weiteren, wichtigeren
Zusammenhang, nämlich die Performanz und Charakteristiken derjenigen
Institutionen, die für die öffentliche Ordnung zuständig sind, also die
Polizei, das Justizsystem und die Gesetzgebung.
Dazu kommen noch
die weitverbreiteten privaten, illegalen Massnahmen der Verbrechensbekämpfung,
welche das Justizsystem unterminieren und den Zyklus der Gewalt weiter
anheizen.
Die Gewaltzunahme
im Falle Brasiliens, und São Paulos im besonderen, kann mit den
sozioökonomischen Bedingungen nur zum Teil erklärt werden, soziokulturelle
Gründe sind genauso wichtig. Damit sind Ansichten über individuelle Rechte,
autoritäre Verhaltensweisen und die Anwendung von Gewalt gemeint.
Die Befürwortung
der Bevölkerung für die Anwendung von Gewalt, der Vertrauensverlust in
Justizsystem und Polizei und deren Fähigkeit Konflikte zu lösen, sind
ausschlaggebend für den Anstieg gewaltsamer Verbrechen.
Caldeira
untermauert dieses Argument mit einer Studie von 1987: während Eigentumsdelikte
signifikant mit Variablen wie Urbanisierung, Armut, Migration und
Arbeitslosigkeit korrellieren, trifft dies bei Personendelikten (Mord, Vergewaltigung,
etc.) nicht zu (Pezzin zitiert in Caldeira 1992:152f).
Die
Erklärungskraft sozioökonomischer Variablen nimmt also ab je gewalttätiger ein
Verbrechen ist. Diese Feststellung wird durch die Entwicklung in den 90er
Jahren erhärtet: bei sich entspannender Wirtschaftslage nimmt die Anzahl
Verbrechen mit Gewaltanwendung weiterhin zu.
Dennoch sind die
gesamtgesellschaftlichen Probleme wie Armut, Hunger und Arbeitslosigkeit
strukturelle Ursachen, welche die Zivilgesellschaft und die Demokratie schwächen
und damit ihren Teil zur Verbreitung von Verbrechen und Gewalt in Brasilien
beitragen (Pinheiro 2000:49).
In einer weiteren
Studie wird deutlich, dass Gefängnisinsassen eine überdurchschnittliche Bildung
besitzen und dass eine Mehrheit von ihnen zum Zeitpunkt ihrer Festnahme einen
Arbeitsplatz besitzt (Brand zitiert in Caldeira 1992:154). Diese Feststellungen
widersprechen damit den gängigen Stereotypen. Dies hat sicher auch mit dem
zunehmendem Organisationsgrad und der Professionalisierung der Kriminalität zu
tun, welche sich in vermehrtem Schusswaffengebrauch, Drogenkriminalität, gross
angelegten Überfällen und der Entführung von Geschäftsleuten ausdrücken lässt.
In den 80er Jahren wurden die
Polizeikräfte massiv aufgestockt, neue Technologien werden eingesetzt, neue
Polizeistationen geschaffen, dennoch können diese Investitionen in die
öffentliche Sicherheit den Anstieg der kriminellen Handlungen nicht verhindern.
Dies vor allem deshalb, weil die Polizei selbst vermehrt zu gewaltsamen
Methoden greift und in die organisierte Kriminalität eingebunden ist; deshalb
bleibt es fraglich, ob sie auch wirklich in der Lage ist, Kriminalität
effizient zu bekämpfen.
Es ist nicht die Anzahl
Polizisten oder die Qualität der Ausrüstung, welche den hohen Stand der
Gewaltverbrechen erklären, sondern die gewaltsamen und illegalen Methoden, die
von der Polizei anwendet werden. Damit sinkt auch die Akzeptanz der
Menschenrechte, das Vertrauen in die Justiz und ihre Fähigkeit die
Rechtsordnung durchzusetzen.
4.2. Polizeigewalt und Rechtsordnung
Was an der Entwicklung in São
Paulo besonders auffällt, ist nicht, dass die Anzahl gewalttätiger Verbrechen
zunimmt, sondern dass Polizei und Justiz dazu noch beitragen, anstatt zur
Verminderung beizutragen.
Gewalt und Illegalität werden
dadurch verstärkt und die staatlichen Ordnungsinstanzen vermehrt umgangen.
Es sind hauptsächlich die
ärmeren Bevölkerungsschichten, die unter der Polizeigewalt zu leiden haben und
die dem Justizsystem misstrauen und die Polizei fürchten. Paradoxerweise
unterstützt aber gerade auch die arme
Mehrheit der Bevölkerung eine hart durchgreifende Polizei. Zusammen mit
der Gewaltbereitschaft privater Wachleute, deren Anzahl stark zunimmt, wird der
Zyklus der Gewalt noch weiter verstärkt.
Die Missachtung der
Menschenrechte ist an der Tagesordnung; und obwohl dies ist allen bekannt ist,
führt es bedenklicherweise kaum zu erfolgreichen Protesten und Reaktionen
dagegen.
War der Gewaltmissbrauch und
die politische Unterdrückung während dem Militärregime eine geheime Sache, so
werden die Zahlen der von der Polizei getöteten Personen heute von der Polizei
selbst veröffentlicht, und von der Mehrheit der Bevölkerung als Zeichen der
Effizienz und Schlagkraft der Polizei gewertet.
Physische Bestrafung war bis
zur Abschaffung der Sklaverei 1888 gesetzlich geregelt. Danach haben sich die
Bestrafungsmassnahmen in der Praxis aber nicht stark geändert. Repressive,
illegale Praktiken existierten weiterhin und wurden je nach politischem Bedarf
mit gesetzlichen Ausnahmeregelungen gestützt. Mit der Rückkehr zur Demokratie
1985 wurd diese Gesetzgebung über den Gebrauch von Gewalt nicht aufgehoben.
Massnahmen, die früher gegen die politische Opposition gerichtet waren, werden
heute zur Bekämpfung der Kriminalität aufrechterhalten.
Bestes Beispiel dafür ist die
Schaffung der Militärpolizei (Polícia Militar) 1969, welche die
bisherigen Ordnungskräfte vereinigte und der Armee unterstellte. Die Aktionen
der Militärpolizei waren gegen die Guerillabewegung und die politische
Opposition gerichtet; heute wird gegen Kriminelle gleich vorgegangen, wie
damals gegen Staatsfeinde.
Mit einem Zusatzartikel in
der Verfassung wurde die Militärpolizei 1977 der Militärjustiz unterstellt,
dies gilt auch in Friedenszeiten und bei der Wahrnehmung ziviler Funktionen.
Die neue Verfassung von 1988 machte diese Ausnahmeregelung zur Norm und gibt
der Militärpolizei die Aufgabe die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.
Eine spezielle Abteilung der
Militärpolizei, die Todesschwadronen (ROTA), gegründet 1969 um gegen
Terroristen und Bankräuber vorzugehen, galt als besonders gewalttätig und ging
bereits aufgrund geringer Verdachtsmomente gegen Personen vor und hielt diese
ohne Begründung gefangen; Folter wurde häufig angewandt. Diese Vorgehensweisen
blieben unter dem Militärregine toleriert und ungestraft, da sie zur Erhaltung
der Macht der Militärs beitrugen. In
der Zeit von 1981 bis 1989 sind von den 580 angeklagten Polizeibeamten 362
freigesprochen worden; zudem kamen viele Fälle gar nicht vor Gericht, weil sich
die Opfer vor Repressalien fürchteten oder nicht genügend Beweise hatten
(Caldeira 1992:170).
Zivilisten Polizisten
1982 286
74 26 897
1983 328 109 45 819
1984 481 190 47 654
1985 585 291 34 605
1986 399 197 45 599
1987 305 147 40 559
1988 294
69 30 360
1989 532 n.b. 32
n.b.
1990 585 n.b. 13
n.b.
1991 1140 n.b. 78 2520
Quelle:
Caldeira 1992:173
Diese Daten zeigen die
deutliche Zunahme der jährlich getöteten Personen, das Missverhältnis von
getöteten Zivilisten zu getöteten Polizisten und von verwundeten Zivilisten zu
getöteten Zivilisten. Diese deutlichen Missverhältnisse zeigen, dass die hohe
Anzahl getöteter Zivilisten nicht als Unfälle dargestellt werden können und
auch nicht auf die Gewaltanwendung der Kriminellen zurückzuführen sind, denn
sonst müsste die Anzahl getöteter Polizisten auch entsprechend höher sein; dies
ist nicht der Fall. Das Verhältnis getöteter Zivilisten zu getöteten Polizisten
ist 7,8 : 1.
Eigentlich würde man erwarten,
dass mehr Personen verwundet als getötet werden, dies ist bei den Polizisten
der Fall: auf jeden getöteten Polizisten kommen 17 Verwundete. Bei den
Zivilisten hingegen gibt es bedenklicherweise mehr Tote als Verletzte: das
Verhältnis getöteter Zivilisten zu verwundeten Zivilisten ist 3 : 1.
Dazu kommt noch, dass die
Polizei ihre Schusswaffen vor allem gegen die an der Peripherie lebenden Armen
einsetzt. Junge Männer zwischen 15 und 25 Jahren werden dabei am häufigsten
getötet; die Anzahl der getöteten Schwarzen ist ebenfalls überproportional zu
ihrem Bevölkerungsanteil.
Die Polizei verwechselt dabei
häufig gewöhnliche Arbeiter mit den Kriminellen. Hier eine klare Grenze zu
ziehen fällt nicht nur der Polizei, sondern auch Teilen der Bevölkerung schwer.
Das Verhalten eines Arbeiters, der der Polizei misstraut, kann von dieser
leicht als verdächtig eingestuft werden und deshalb zu Repressalien führen.
Häufig genannte Gründe der Polizei zu misstrauen, sind, die schlechte
Ausbildung der Polizisten und die bevorzugte Behandlung von Kleinkriminellen,
weil sie von denen Bestechungsgelder annimmt.
Dies ist zugleich eine
fundamentale Kritik am Staat und an der Regierung, welche keine ausreichenden
Finanzmittel zur Verfügung stellt, keine moralischen Werte vermittelt und
häufig in Korruptionsaffären verwickelt ist. Diese eklatante Führungslosigkeit
der Polizei verstärkt in der Bevölkerung das Gefühl der Unischerheit. Die
schlecht ausgebildete und unzureichend ausgerüstete Polizei kann das
organisierte Verbrechen nicht eindämmen, erst recht nicht, wenn sie ihre Kräfte
unkoordiniert und ungezielt einsetzt. Ohne eine verschärfte Strafgesetzordnung
und abgekürzte Verfahrensweisen ist auch die Justiz den heutigen Aufgaben nicht
gewachsen, das Ausbleiben der Strafe ist in vielen Gerichtsfällen zur Regel
geworden, weil die Verfahren zu lange dauern und viele Rekursmöglichkeiten
existieren (Veja 7.6.2000).
Nebst der Polizeigewalt hat
auch die private Gewalt stark zugenommen. Besonders zu erwähnen sind hierbei die
Kategorie der Justiceiros,
Gruppen privater Wachleute, die sich häufig aus Polizisten (ausserhalb ihrer
Einsatzzeit) oder Expolizisten zusammensetzen, und die vor allem in der
städtischen Peripherie agieren. Manchmal werden sie von lokalen Geschäftsleuten
bezahlt, um in der Nachbarschaft für Ordnung zu sorgen; manchmal sind es
Bewohner eines Viertels, die sich entschlossen haben, selbst für Ordnung im
Quartier zu sorgen. Die Justiceiros sind wegen ihrer unzimperlichen
Vorgehensweise und Gewaltanwendung häufig in den Schlagzeilen. Deren Massnahmen
im Kampf gegen die Kriminalität werden aber von der Bevölkerung begrüsst.
Sehr häufig wird Gewalt
gedankenlos gegen Leute angewendet, gegen die nur Verdachtsmomente bestehen,
und die keine kriminelle Vergangenheit haben.
Bedenklich
ist nicht nur das Ausmass der illegalen Aktionen der Verbrechensbekämpfung,
sondern dass diese Vorgehensweisen meistens auch unbestraft bleiben.
Verständlicherweise misstraut
die Bevölkerung der Polizei und Justiz; deshalb werden alternative, private
Lösungen gesucht, Justiceiros und Wachpersonal, welche Gewalt und
Illegalität wiederum verstärken.
Die Situation der Kriminellen
scheint nicht die schlechteste zu sein, denn sie besitzen die Waffen um Leute
bedrohen zu können und sie fürchten die Polizei nicht, weil sie wissen, wie man
diese bestechen kann.
Die Arbeiterklasse hingegen
sieht sich in der Klemme: einerseits fürchten sie die Willkür der Polizei,
andererseits die Bedrohung durch die Kriminellen. Dazu kommt noch die Hoffnungslosigkeit,
weil Kriminelle, die ein Bestechungsgeld bezahlen, innert kürzester Zeit wieder
auf freiem Fuss sind und weil das Justizsystem nicht in der Lage ist für
Gerechtigkeit zu sorgen.
Dies führt zu einem Gefühl
der Machtlosigkeit und Verletzlichkeit, von wo es keinen Ausweg gibt ausser
privater Rache.
Damit
ist klar, dass die Polizei nicht in der Lage ist, der Arbeitern und der unteren
Mittelklasse ein Gefühl der Sicherheit und des Schutzes zu vermitteln. Ein
Grossteil der Bevölkerung ist der Ansicht, dass man sich um Sicherheit und
Gerechtigkeit selber kümmern muss; deshalb erfährt die Herstellung von
Gerechtigkeit mit gewaltsamen Methoden eine grosse Unterstützung, weil die
Kriminellen dies so verdient haben. Hierbei werden Gewalt und Illegalität der
Polizei von der Bevölkerung in einem positiven Licht gesehen, und nicht wie
sonst gefürchtet. Die Polizei soll die Verbrecher bestrafen, ohne von ihnen
bestochen werden zu können; dies hat jedoch nichts mehr mit Recht und Gesetz zu
tun. Die rechtsstaatliche Ordnung geht hierbei verloren und die Rolle von
Polizei und Justiz wird pervertiert; dies geschieht aus einer Logik heraus, bei
der der alltägliche Missbrauch der Macht, die Anwendung von illegalen und
ungerechten Praktiken und das Bedürfnis der Bevölkerung nach Gerechtigkeit und
Rache vorherrschen. Dies aber verstärkt den Kreislauf der Gewalt und erhöht die
Chancen, selbst ein Opfer zu werden.
Die Verfassung, das
Rechtssystem und damit auch Demokratie und Menschenrechte werden als Formen der
Ungerechtigkeit gesehen und als Willkür von der armen Bevölkerung erfahren.
Zentral hierbei ist die Tatsache, dass so viele Verbrechen ungestraft bleiben
und damit das Bedürfnis nach Gerechtigkeit nicht erfüllt wird.
Angehörige der Oberschicht
hingegen werden von der Polizei selten mit Kriminellen verwechselt; sie können
es sich leisten, Gesetze nicht zu respektieren, da die öffentliche Ordnung zu
ihren Gunsten funktioniert.
Einerseits gibt es also Opfer
von Willkür, Gewalt und ungerechter Behandlung durch Polizei und Justiz,
andererseits gibt es Leute, die die Mängel dieser Institutionen zu ihren
Gunsten ausnützen und sich die Freiheit nehmen, ihrem eigenen Gutdünken nach zu
handeln und sich nicht an Gesetze zu halten brauchen. Damit verliert die
Rechtsordnung in allen Bevölkerungsschichten ihre Legitimation (Pinheiro
1998:49ff).
Mit der Rückkehr zur
Demokratie in den 80er Jahren wollte die Regierung Montoro in São Paulo auch
die illegalen Aktionen der Zivilpolizei ausmerzen. Deshalb wurde geplant die
autoritäre und ineffiziente Organisationsstruktur der Polizei zu reformieren,
um Korruption und Machtmissbrauch einzudämmen. Dieser Versuch zeigte aber nur
kurzfristige Erfolge, so führte zum Beispiel die verbesserte interne
Untersuchung von Gewaltmissbrauch zu vermehrter Bestrafung von Polizisten.
Änderungen in
Verhaltensweisen und Mentalität der Polizei herbeizuführen brauchen aber ihre
Zeit; wenn der politische Wille die Polizeigewalt zu kontrollieren aber nur für
wenige Jahre vorhanden ist, dann ist man sehr schnell wieder zurück in den
alten Strukturen.
Dass diese Polizeireform
fehlschlug, sieht Caldeira vor allem in der völlig fehlenden Unterstützung
durch die Bevölkerung und die Polizei selbst (Caldeira 1992:209). In einem
Klima der Gewalt ist es gerade auch die Mehrheit der Bevölkerung, welche
härtere Massnahmen in der Kriminalitätsbekämpfung fordert.
Indem der Staat nicht willens
ist, die polizeiliche und private Gewalt wirksam zu bekämpfen und die Akteure
zu bestrafen, humane Bedingungen in den Gefängnissen zu schaffen und alle
sozialen Schichten vor dem Gesetz gleich zu behandeln, kommt er in eine
Legitimationskrise und das demokratische Rechtssystem wird ernsthaft in Frage
gestellt (Pinheiro 1998:52).
Massnahmen um die Gewalt zu
verhindern, wie die Entwaffnung der Bevölkerung oder die harte Bekämpfung der
Drogenkriminalität, haben hingegen kaum
eine Chance nachhaltig umgesetzt zu werden.
Ebenso notwendig wäre eine
Strukturreform in der Polizei, die Abschaffung der Militärjustiz, der Ausbau
der Gefängniskapazitäten, die Förderung der Aus- und Weiterbildung der
Polizisten sowie Prämien als Belohnung für gute Leistungen.
Was teilweise umgesetzt wird,
aber nur in unzureichendem Masse, sind indirekte Massnahmen, wie der Bau von
Infrastruktureinrichtungen, Schulen oder die Schaffung von
Freizeitmöglichkeiten, welche die peripheren Gebiete aufwerten und damit zu
einer Normalisierung der Lebensumstände führen sollen.
Die Bevölkerung versucht sich
durch verschiedene Massnahmen selbst zu schützen, indem sie als gefährlich
erachtete Orte vor allem nachts meidet, keine Wertgegenstände oder Schmuck mit
sich rumträgt, die Autotüren immer von innen verschliesst, nachts an roten
Ampeln nicht anhält, die Personen in der näheren Umgebung im Auge behält und
sich nicht alleine an isolierten Stellen zu befinden. Trotz diesen
Verhaltensweisen kann man sich aber nicht völlig sicher sein; die Einwohner São
Paulos fürchten sich ständig davor das nächste Opfer eines Verbrechens zu
werden (síndrome da próxima vítima). Besonders reiche Leute geben sich
Mühe in öffentlichen Räumen nicht aufzufallen; protzige Limousinen werden durch
Kleinwagen ersetzt, dafür hat sich die Anzahl gepanzerter Autos von 1997 bis
1999 verdoppelt (Veja 7.6.2000).
4.3. Sicherheit als Privatangelegenheit
Sicherheitsdienste nehmen in
São Paulo sehr stark zu. Dies lässt sich jedoch nicht nur auf die Anzahl
verübter Verbrechen und Furcht der Bevölkerung zurückführen.
Die Schaffung von
Sicherheitsdiensten nahm ihren Anfang 1969 unter dem Militärregime mit dem Gesetz
über die nationale Sicherheit; damit wurden alle Banken verpflichtet einen
Sicherheitsdienst zu unterhalten. Damit wurde ein ansehnlicher neuer Markt
geschaffen, der sich seit dieser Zeit immer weiter ausdehnte. Während früher
dieser Markt der öffentlichen Sicherheit unter staatlicher Aufsicht war, ist er heute in den Händen privater Firmen.
Diese unterstehen nur geringer staatlicher Konrolle, was wiederum illegale
Praktiken und Missachtung von Gesetzen begünstigt und heute eine Konkurrenz zum
staatlichen Gewaltmonopol darstellt.
Der Markt für private
Sicherheit expandiert kräftig und weist hohe Profitraten auf. 1986 waren 51
Betriebe in diesem Sektor registriert, 1991 waren es 111 (mit 55’700
Wachleuten); 1999 wird die Anzahl der im Sicherheitsbereich tätigen Personen
auf ca. 105'000 geschätzt (Veja SP 6.10.1999).
Sie sind gut
organisiert um ihre Marktvorteile auszuspielen und preisen ihre effizienten
Dienstleistungen gegenüber der staatlichen Ineffizienz.
Dazu kommen noch einmal
soviele direkt bei Unternehmen oder Privaten angestellte Wachleute.
Daneben gibt es noch einen
grossen illegalen Markt für Wachpersonal, das häufig schlechter ausgebildet und
unterbezahlt ist, Darunter sind oft auch Justiceiros zu finden, die sich
auch kleine Geschäfte und weniger vermögende Privatpersonen leisten können um
mit Sicherheitsproblemen fertig zu werden.
Die Nähe einiger dieser
Unternehmen zu Justiceiros und illegaler Gewaltanwendung führt aber nicht zu
vermehrter staatlicher Aufsicht; dies ist angesichts der Grösse dieses Marktes
eine ernsthafte Bedrohung für das staatliche Gewaltmonopol.
Reaktionen auf die zunehmende
Kriminalität und Gewalt geschehen in São Paulo vermehrt durch private und
illegale Massnahmen. Diese Verschiebung vom Legalen zum Illegalen und vom
öffentlichen in den privaten Bereich führt dazu, dass das Rechtssystem zur
Konfliktregulierung umgangen wird (Pinheiro 1996:275f). Auf Gewalt wird mit
privater Rache geantwortet, und es gibt keine staatliche Macht, welche dem
Einhalt gebietet. Damit das Rechtssystem funktionieren kann, wäre es wichtig,
seine Autorität und Legitimität aufrecht zu erhalten. Dies geschieht aber nur
in ungenügendem Masse. Das Rechtssystem dient den Reichen zum Vorteil und den
Armen zum Nachteil; deshalb hat es in den Augen vieler seine Legitimation
verloren und ist ein unwirksames Mittel um Gewalt eindämmen zu können.
Sozioökonomische Faktoren wie
Arbeitslosigkeit, Verstädterung oder Einkommensverteilung reichen nicht aus, um
den Anstieg der Gewalt zu erklären. Vielmehr müssen die Funktionsweise von
Polizei und Justiz und die tägliche Anwendung ungerechter, diskriminierender
Praktiken berücksichtigt werden (Pinheiro 2000:48).
5. Segregation
In der städtischen
Entwicklung São Paulos lassen sich drei Muster erkennen: das erste dauerte vom
späten 18. Jahrhundert bis in die 1940er Jahre. Die verschiedenen sozialen
Gruppen waren auf geringem städtischen Raum zusammengedrängt; abgetrennt
voneinander durch verschiedene Arten des Wohnens.
Das zweite Muster ist die Entwicklung
von Zentrum und Peripherie, wobei die sozialen Gruppen durch grosse Distanzen
getrennt wurden. Die Mittel- und Oberschicht konzentrierten sich dabei auf
zentrumsnahe Viertel, während die Ärmeren an die Peripherie vertrieben wurden.
Diese Form dominierte von den 40er Jahren bis in die 80er Jahre.
Dem dritten Muster liegt auch
das Zentrum-Peripherie-Modell zugrunde; dieses unterlief aber einen
Heterogenisierungsprozess, geprägt von Gentrifizierung und Verarmung.
Die Wirtschaftskrise der 80er
Jahre führte dabei zu einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten; an der
Peripherie hingegen führte die Verstädterung dazu, dass auch dort die Kosten
stiegen und die Ärmsten deshalb in umliegende Städte abgedrängt wurden oder
sich in zentralen Gebieten, die an Wert verloren hatten, niederliessen.
Dazu kommt ein weiterer
Prozess der Dezentralisierung der Oberschicht, welche dem Zentrum entfliehen
wollte und sich in geschlossenen Enklaven in der Peripherie niederliess. Diesem
Trend folgten ebenfalls die Einkaufszentren, Supermärkte und Bürogebäude, die
sich auch in Gebieten niederliessen, wo bis anhin nur die arme Bevölkerung
gewohnt hatte.
Diese neue Nähe
unterschiedlicher sozialer Gruppen zeitgleich mit einer ökonomischen Krise und
in einem Umfeld der Unsicherheit und Furcht vor Verbrechen führte zu neuen
sichtbaren Formen der Segregation: Mauern, Zäune, elektronische
Identifizierungs- und Überwachungsanlagen und bewaffnete Wachleute helfen der
Oberschicht sich vom Rest der Bevölkerung abzugrenzen und soziale Interaktionen
zu verhindern. Abgrenzung dient dem Zweck soziale Unterschiede zu markieren, zu
verstärken, und die richtige Ordnung herzustellen.
Befestigte
Enklaven (condomínios fechados) haben
sich in São Paulo wie anderswo in Grossstädten auf der Welt herausgebildet und
die Art des Lebens verändert. Befestigte Enklaven sind privatisierte,
eingezäunte und überwachte Räume, welche zum Wohnen und Arbeiten genutzt werden
und in denen man konsumiert und die Freizeit verbringt. Sie stellen den bisher
vollkommendsten Ausdruck der Selbstsegregation dar.
Ein Grund sich
abzugrenzen, liegt in der ungleichen Einkommens-verteilung, die in Brasilien
besonders stark ist und die durch die Wirtschaftskrise in den 80er Jahren noch
verstärkt wurde.
Brasilien |
1960 |
1970 |
1980 |
50% der Armen |
17,4% |
14,9% |
12,7% |
20% der Reichsten |
54,8% |
61,9% |
66,1% |
10% der Reichsten |
39,6% |
46,7% |
51,0% |
Quelle: Dowbor 1992
Das reichste
Prozent der Bevölkerung erreichte 1988 15% des gesamten Einkommens, während die
ärmeren 50% der Bevölkerung gerade mal 13% des Einkommens erwirtschafteten
(Dowbor 1992:2).
Sichtbar gemacht
werden die Einkommensunterschiede durch die räumliche Trennung von Arm und
Reich. Hohe Mauern und Zäune, Wachmannschaften, sowie neue
Überwachungstechnologien dienen dazu, die Armen, die von den Reichen als eine
mögliche Bedrohung wahrgenommen werden, fernzuhalten.
Die Zahl der
gemischten Wohngegenden hat zwischen 1977 und 1987 um über 50% von 33 auf 56
zugenommen, während sich die Anzahl reicher Wohngegenden von 13 auf 11 und
diejenige armer Wohngegenden von 34 auf 25 verringerte (Novy in Feldbauer
1997:272). Die Wohnviertel der Mittelschicht hingegen verschwanden gänzlich;
die Mittelschicht verarmte zusehends und vermischte sich mit der Unterschicht.
Für die
Mittelschichten wurde der Erwerb eines Eigenheimes im Zentrum immer
schwieriger; deshalb hat im Zentrum eine Nivellierung nach unten stattgefunden:
die Mittelschichten ziehen eher an den Stadtrand, wo das Bauland noch
erschwinglich ist, während es im Stadtzentrum nun wieder einige Viertel mit
einem Bevölkerungsanteil von 40-60% an Armen gibt (Novy in Feldbauer 1997:272).
Damit hat aber
nicht die Segregation abgenommen, sondern nur die physischen Distanzen. Die
physischen Mechanismen, welche die Armen von den Reichen trennen, wurden
verstärkt und sind in letzter Zeit immer komplexer geworden.
Ein wichtiger Grund
dafür ist die zunehmende Kriminalität in den neunziger Jahren, vor allem aber
die Anzahl der schweren Verbrechen. Der Anstieg der Gewalt, die Unsicherheit
und die Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, haben dazu beigetragen, dass
die Bürger versuchen, sich zu schützen, wo immer es möglich ist. Im Bereich der
Sicherheitselektronik waren 1988 weniger als 100 Unternehmen tätig, 1998 stieg
deren Anzahl auf mehr als 900 an (Veja SP 28.10.1998).
Physische
Barrieren wurden überall um Wohnhäuser, Parkanlagen, Bürogebäude,
Einkaufszentren und Schulen errichtet, um sie vom öffentlichen Raum, von den
Strassen, abzutrennen.
Diese Anlagen
haben gemein, dass sie Privateigentum zum Zweck des kollektiven Nutzens sind.
Freizeitangebote, Einkaufsmöglichkeiten und Arbeitsplätze sind nur den
Bewohnern solcher Anlagen zugänglich. Diese condomínios fechados
(geschlossene Wohnanlagen) sind gegen innen gerichtet, ihre Zugänge werden
bewacht; ihre Benutzer tendieren dazu, sozial homogen zu sein und der Mittel-
und Oberschicht anzugehören.
Bis in die
siebziger Jahre hinein waren die peripheren Regionen São Paulos die Wohngebiete
der Armen. Aufgrund der günstigen Landpreise wurde dann aber stark in diese
Landflächen investiert. Wohnresidenzen, Bürogebäude und Einkaufszentren wurden
gebaut, so dass in den 80er Jahren die Peripherie (vor allem im Südwesten und
Westen) das stärkste Bevölkerungswachstum der Region erlebte; im Zentrum ging
das Wachstum hingegen markant zurück, das Gebiet wurde wegen dem riesigen
Verkehrsaufkommen, fehlender Investitionen und der starken Konzentration sozial
marginalisierter Bevölkerungsgruppen abgewertet. Somit begann der Trend, dass
die vermögenden Bevölkerungsgruppen und der bessergestellten Schichten São
Paulos von Zentrum wegziehen und in der Folge auch Dienstleistungen, Handel und
öffentliche Investitionen an die Peripherie nachzuziehen.
Schnellstrasse im Zentrum: Av.
Prestes Maia
Das Leben in
solchen befestigten Enklaven wird als Statussymbol gesehen, das soziale Distanz
schafft und Möglichkeiten bietet die soziale Differenz geltend zu machen. So
werden in der Werbung Begriffe wie Trennung oder Schutz als prestigeträchtig
verwendet. Eine eingegrenzte, isolierte Gemeinschaft in einem sicheren Umfeld
und ein Leben unter Gleichgestellten gelten als Ideale, die vermittelt werden.
Demgegenüber wird das Leben in der Stadt mit negativ beladenen Vorstellungen
wie Verschmutzung, Verkehr, Lärm oder sozialer Vermischung assoziiert.
Blick vom
Zentrum Richtung Süden (Aclimação, Moema, Av.Paulista)
In den
geschlossenen Wohnanlagen mit luxuriösen Eigentumswohnungen werden innerhalb
ihrer Mauern alle möglichen Dienstleistungen angeboten; es gibt Ärzte,
Einkaufszentren, Sportmöglichkeiten und organisierte Kurse für jedermann. Es
erscheint einem gar nicht mehr nötig, diese Umgebung überhaupt verlassen zu
müssen, da die verschlechterte Lebensqualität der Stadt und das öffentliche
Leben als eine schlechte Alternative zu diesen Annehmlichkeiten erscheinen.
Die Isolation und
Distanz von der Stadt wird gleichgesetzt mit einem besseren Lebensstil. Die
Sicherheit der Wohnanlagen ist dabei von entscheidender Bedeutung, um
Zufriedenheit und Harmonie im Innern zu gewährleisten.
Um all diese
Aufgaben für die Bewohner solcher Anlagen zu erfüllen, braucht es ein Heer von
Bediensteten, Angestellten und Sicherheitspersonal. Die Verwendung von
verschiedenen Angestellten für alltägliche Aufgaben wird zu einem Statussymbol.
Dabei wird in den
öffentlichen Teilen der Anlagen besonders auf die Trennung der Klassen
geachtet, indem zum Beispiel getrennte Eingänge und Fahrstühle für Bewohner (social)
und Bedienstete (serviço) existieren, obwohl diese oftmals gleich nebeneinander sind und nicht speziell
räumlich getrennt werden.
Die meist schlecht
bezahlten Angestellten, die manchmal gleich in den Favelas jenseits der Mauern
der Wohnanlagen zuhause sind, unterstehen bei ihrer Arbeit strengen
Kontrollmechanismen. Denn, obwohl die Oberklasse auf diese Angestellten
angewiesen ist, fürchtet sie den Kontakt zu den ärmeren Schichten.
Die Reichen
stehen in einem Verhältnis zu den Armen, das einerseits von Ausweichen und
Misstrauen, andererseits von Abhängigkeit und Intimität geprägt ist.
Diese befestigten
Wohnanlagen stellen eine neue Art der Organisation sozialer Unterschiede dar,
die Segregation herstellt. Caldeira macht diese Absicht an mehreren Punkten
fest (Caldeira 1996:314):
1.
es werden physische Barrieren wie Mauern
und Zäune verwendet,
2.
grosse leere Räume schaffen Distanz und
entmutigen das zu Fuss gehen,
3.
private Sicherheitssysteme garantieren
Kontrolle und Überwachung im Innern,
4.
die Enklaven sind abgeschlossene
Lebenswelten (private universes), die
in ihrer Gestaltung und Organisation gegen innen gerichtet sind
5.
die Enklaven sind unabhängige Welten, die
das Leben draussen als negativ bewerten,
6.
die Enklaven vermeiden eine Beziehung zu
ihrer physischen Umgebung.
Diese Enklaven
kommen in verschiedenen Formen und Grössen vor; ihnen ist aber gemeinsam, dass
sie nach innen gerichtet sind, physisch isoliert von der Umgebung, sozial
homogene, private Grundstücke für kollektiven Gebrauch, deren Zugänge von
Sicherheitspersonal kontrolliert werden. Damit werden neue Grenzen zwischen den
sozialen Gruppen geschaffen um sie voneinander fernzuhalten.
Jemand, der in
einer solchen Enklave arbeitet oder eine Dienstleistung erbringt, wird durch
den Dienstboten- oder Hintereingang hineingelassen und muss die Rituale der
Identifikation und der damit verbundenen sozialen Erniedrigung über sich
ergehen lassen. Die Bediensteten und Angestellten werden dabei von Angehörigen
der eigenen sozialen Schicht kontrolliert; es besteht dabei grosser Spielraum
für Diskriminierungen, besonders gegen Frauen.
Der hügelige
Stadtteil Morumbi symbolisiert wohl am besten diese neueren Entwicklungen. Wo
früher nur Herrenhäuser und freie, grüne Grundstücke waren, steht heute eine
grosse Anzahl Wolkenkratzer.
Blick über ein freies Grundstück auf
Hochhäuser in Morumbi
Die billigen
Landpreise führten zu einer enormen Bautätigkeit; dabei wurden mehrheitlich
luxuriöse Apartment-Hochhäuser gebaut. Deshalb nahm die Bevölkerungsdichte im
Gebiet Real Parque in Morumbi von 1977 bis 1987 um 558,36% zu ! Andere Gebiete in Morumbi, wie zum Beispiel Paraisópolis, weisen auch Zunahmen von mehr
als 100% auf (Caldeira 1992:257).
Hochhäuser, Real Parque, Morumbi
Nicht nur das
Ausmass der Bautätigkeit war neu, sondern die Tatsache, dass vor allem
geschlossene Wohnanlagen gebaut wurden.
Der erste solche
Komplex in Morumbi wurde 1976 eröffnet und umfasst 16 Hochhäuser mit je 25
Stockwerken. Diese Siedlung ‚Portal do Morumbi’ hat 800 Wohnungen, die Hälfte
davon mit 4 Schlafzimmern. Die Häuser sind von grossen Parkanlagen umgeben. Die
gesamte Infrastruktur musste neu erstellt werden, weil diese Siedlung mitten
ins Nirgendwo gebaut wurde. Die
künftige Entwicklung dieses Gebietes wurde damals aber falsch eingeschätzt, so
dass die Bewohner heute mit riesigen Verkehrsproblemen zu kämpfen haben.
Das Gebiet an der
Avenida Giovanni Gronchi mit seinen Luxusbauten steht im Kontrast zu
Paraisópolis, der mit über einer Viertel Million Bewohnern grössten Favela São
Paulos, die gleich nebenan liegt und wo viele der in den Enklaven Angestellten
wohnen.
mit hohen Mauern umgebene
Wohnanlage, Real Parque, Morumbi
Favela, gegenüber auf der anderen
Strassenseite, Real Parque, Morumbi
Die chaotische
Entwicklung in Morumbi war geprägt von wenig Planung und staatlicher Kontrolle
und folgte nur den Interessen der Baugesellschaften. Morumbi ist bis heute nur
mit wenigen Brücken über den Rio Pinheiros mit dem Rest der Stadt verbunden;
die Strassen sind schlecht und Verkehrsstaus sind an der Tagesordnung, der
öffentliche Verkehr lässt sehr zu wünschen übrig. In Morumbi fehlen noch immer
kleinere Geschäfte und Einkaufsmöglichkeiten, so dass die meisten Leute auf ein
Auto angewiesen sind, wenn sie etwas einkaufen wollen; dies ist nur ein
weiterer Nachteil für die ärmere Bevölkerung.
Viele gute
Privatschulen haben sich in Morumbi angesiedelt. Die Schüler werden meistens
mit dem Auto zur Schule gebracht oder werden abgeholt; sie gehen aber nicht zu
Fuss und benützen auch nicht die öffentlichen Busse.
Einige Viertel,
wie Morumbi, erscheinen nicht unter denjenigen Stadtteilen mit den höchsten
Einkommen, weil hier die Koexistenz von Reichen in ihren geschlossenen Enklaven
und Armen in Favelas und Cortiços das Durchschnittseinkommen tiefer hält.
neue Gebäude, Av. Berrini, Brooklin
In anderen
Stadtteilen wie Alto de Pinheiros, Vila Olímpia, Itaim Bibi, Brooklin oder
entlang der Ausfallstrasse ‚Castelo Branco’ Richtung Westen, ergab sich durch
die Errichtung von Wohnblöcken, Bürogebäuden und Einkaufszentren ein
Nebeneinander verschiedenster Funktionen.
Ponte do Morumbi, Sicht auf neue
Wohn- und Geschäftsgebäude in Brooklin
Dies erfolgte
gleichzeitig mit einem Strukturwandel in der Wirtschaft. War São Paulo seit den
50er Jahren das grösste industrielle Zentrum des Landes, so sind diese
Funktionen auf andere Teile der Metropolitanregion und des Staates São Paulo
ausgelagert worden. São Paulo ist zu einem Finanz-, Handels- und
Dienstleistungszentrum geworden. Diese Arbeitsplätze sind aber nicht mehr im
Zentrum angesiedelt, sondern in westlichen und südwestlichen Stadtteilen, die
bis anhin noch nicht urbanisiert waren.
Diese Gebäude
sind autonome, private Anlagen, welche von ihrer physischen Umgebung ziemlich
unabhängig funktionieren. In allen diesen Gebieten zeigen sich die soziale
Heterogenität durch das Nebeneinander der Favelas und der geschlossenen
Enklaven.
São Paulo ist
heute stärker diversifiziert und heterogen als vor 20 Jahren. Die soziale
Segregation hat neue Formen angenommen. Mit dem Entstehen der geschlossenen
Enklaven, der peripheren Bürogebäuden und Einkaufszentren werden Segregation,
Diskriminierung und Unterscheidungsmerkmale neu organisiert und ausgedrückt.
Die neue Nähe von Arm und Reich führt zur Errichtung physischer Schranken und
Kontrollsystemen um die Klassen voneinander zu trennen.
Centro Empresarial
Der Wunsch dem
Raum des Verbrechens zu entfliehen und in einer sozial homogenen Gruppe zu
leben, führte die Mittel- und Oberschichten immer weiter an die Peripherie, wo
bis anhin nur arme Leute gelebt haben. Diesen wird durch die Mauern der Zugang
verwehrt, oder wenn sie als Angestellte hineingelangen, dann unterstehen sie
einer strikten Kontrolle und Überwachung.
Weil die
geschlossenen Enklaven nur nach innen gerichtet sind, sind sie relativ
unabhängig von ihrer äusseren Umgebung.
Die Errichtung
solcher Enklaven führte nicht nur zu einer starken Verstädterung peripherer
Gebiete, sondern auch zu einer sozialen und funktionalen Diversifikation der
westlichen und südwestlichen Regionen.
Die ganz arme
Bevölkerung kann sich als Folge dieses Wandels und der Wirtschaftskrise den
Hausbau in diesen peripheren Regionen nicht mehr leisten und wird in die
Vorstädte vertrieben oder zieht zurück in die Cortiços in zentrumsnahen
Gebieten, was dort wiederum zu sozialen Spannungen führt.
Die peripheren
Gebiete, in welchen vor allem die Arbeiterklasse lebt und die in den letzten
Jahren zahlreiche Verbesserungen erfuhren, werden auch zusehends für die
verarmte Mittelschicht des Zentrums attraktiv.
Alphaville / Tamboré
Nebst den
geschlossenen Enklaven, die in die Höhe gebaut werden, wie in Morumbi, gibt es
auch grossflächige Enklaven, die nur aus Einfamilienhäusern bestehen, welche
aber nicht voneinander durch Mauern oder Zäune getrennt sind. Diese Enklaven bildeten sich zur selben Zeit
heraus, wie diejenigen in Morumbi. Die grösste und älteste solche Enklave ist
Alphaville; sie wurde auf einer Fläche von 26 Millionen Quadratkilometern, verteilt auf zwei
Gemeinden, gebaut und ist in mehrere eingezäunte Wohngemeinschaften unterteilt;
dazu kommen noch etliche Geschäfts- und
Bürogebäude. Alphaville ist kein fertiges Produkt, im Verlaufe der Zeit kamen
und kommen noch weitere Wohngemeinschaften dazu.
Häuser in Alphaville
Die Bevölkerung
von Alphaville wurde auf 20'000 festgelegt; bis 1998 stieg deren Zahl bereits
auf 30’000 an, darunter zunehmend auch Angehörige der Mittelschicht. Die
tägliche Fluktuationsrate lag 1991 bei 75'000 Leuten, welche in Alphaville zur
Arbeit gingen, 1998 sind es bereits mehr als 150’000. Die Gewährleistung der
Sicherheit ist bei solch hohen Zahlen von besonderer Bedeutung. Alphaville
unterhält deshalb seine eigenen privaten Sicherheitskräfte, welche mit 300
Fahrzeugen ausgestattet sind (Veja SP 28.10.1998).
Quelle:
O Estado de São Paulo 19.5.2001
Werbung für Alphaville: Natur,
unverbaute Aussicht, luxuriöse Empfangshalle und Freizeiteinrichtungen werden
angepriesen
Mauern, Zäune und
andere Kontrollmechanismen gehören heute zur Grundausstattung jedes neugebauten
Hauses und sind voll integriert; Zäune werden aber auch um öffentliche
Parkanlagen gebaut, um den Zugang vor allem nachts zeitlich einzuschränken.
Erst in den 90er
Jahren wurde es dank einem neuen Gesetz möglich, öffentliche Strassen zu
schliessen, so dass nur noch die Anwohner Zugang dazu haben. Dies kommt vor
allem in den Wohngegenden der Mittel- und Oberschicht vor.
öffentliche Strasse mit
kontrolliertem Zugang, Morumbi
Als eine Folge
der Sicherheitsstrategien wird in der Stadt der öffentliche Zugang zu Strassen
und Parkanlagen eingeschränkt, genauso wie auch viele Geschäftsgebäude keinen
Einlass ohne entsprechende Ausweispapiere gewähren oder noble Einkaufszentren
ihre Eingänge überwachen lassen.
Die Qualität und
der Umfang der Sicherheitsmassnahmen sind die neuen Statussymbole.
Diese Massnahmen
gewähren aber nicht nur Schutz, sie verändern auch das Gesicht der Stadt, die
Zirkulationsmuster und Verhaltensweisen in bezug auf die Benützung der Strassen
und des öffentlichen Verkehrs.
Man fühlt sich
leicht in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt und kontrolliert; man geht
weniger aus und gesellige Aktivitäten werden eingeschränkt. Spannung und
Misstrauen bestimmen die Begegnungen in der Öffentlichkeit, jeder ist suspekt
und erscheint als potentieller Krimineller.
Die
Sicherheitsmassnahmen und die Herausbildung der Enklaven sollen die Furcht
Opfer eines Verbrechens zu werden mindern, aber gleichzeitig verstärken sie
sie, weil die Mauern, Zäune und Wachleute auch einschüchtern, isolieren,
trennen und Distanz schaffen.
Quelle: O Estado de São Paulo
22.5.2001
Werbung für elektronische
Überwachungsgeräte:
„Wachhunde können sich nach einer
anderen Arbeit umsehen...“
Massnahmen gegen
Verbrechen dienen so dort der sozialen Segregation, wo Arm und Reich nahe
beieinander wohnen und allgemein einer Verhaltenskontrolle am Arbeitsplatz, in
Banken, Schulen oder Einkaufszentren.
Indem materielle
und symbolische Mauern separieren und Distanz schaffen, verstärken sie bei den
Ausgeschlossenen das Gefühl der Einschränkung. Segregation und Ungleichheit
prägen das öffentliche Leben auf der Strasse, aber auch in Wirtschaft, Politik
und Justiz und werden bewusst eingesetzt von Eliten, die an der Macht sind.
Der Spruch ‚Für
die Freunde alles, für die Feinde das Gesetz’ (para os amigos, tudo; para os
inimigos a lei), der Präsident Vargas zugeschrieben wird, verdeutlicht, wie
die Anwendung der Gesetze in der brasilianischen Gesellschaft wahrgenommen wird
(Caldeira 1992:281).
Öffentliche Räume
werden von den Eliten vermieden und aufgegeben. Wie man die Strasse oder
öffentliche Plätze benutzt, zu Fuss oder mit dem Auto, ist zu einem Symbol für
die Klassenzugehörigkeit geworden. Private Enklaven unterbinden das, was das
öffentliche Leben ausmacht, nämlich die Offenheit von Strassen und Plätzen zum
Zwecke der Zirkulation und der Begegnung aller Menschen, ungeachtet ihrer
sozialen Zugehörigkeit. In diesem Sinne steht die Entwicklung in São Paulo im
Gegensatz zu Haussmanns Ideal der modernen Stadt wo öffentliche Räume als ein
Ort der Begegnung und des jedermann zugänglichen, öffentlichen Lebens genutzt
werden (Caldeira 1996:315). Die städtischen Transformationen in São Paulo
ersetzen demgegenüber Werte wie Offenheit und Egalität durch die verstärkte
Abtrennung und Ungleichheit. Diese neue Form des Städtischen verändert das
öffentliche Leben und wie die Leute interagieren.
Vale do Anhangabaú
Die anonyme
Begegnung unter Fussgängern in öffentlichen Räumen soll unterbunden werden,
Einkaufszentren werden von den Strassen ferngehalten. Die Ideale moderner
Architektur und Stadtplanung, nämlich die Gestaltung des modernen öffentlichen
Raumes und des sozialen Lebens um Egalität und Transparenz zu schaffen, werden
aufgegeben. Entgegen der Vorstellung Sennetts (1994), dass sich das Städtische
vor allem durch eine Neugier dem Fremden gegenüber auszeichnet, flieht die
Oberschicht vor dem Kontakt mit dem Unbekannten. Der öffentliche Raum der
Stadt, die Einkaufsstrassen
und Fussgängerzonen werden nur von der Mittel- und Unterschicht benützt.
Quelle: Ferraz de Lima 1997:129
Rua Gen.Carneiro, Sé 1914 Rua
Gen.Carneiro, Sé 2001
Die befestigten
Enklaven sind nur gegen innen gerichtet, das Äussere wird ignoriert, Integration
ins städtische Umfeld wird vernachlässigt. Dementsprechend wird das öffentliche
Leben aus der Distanz betrachtet, als gefährlich empfunden und negativ
bewertet.
Während die Räume
der Reichen abgegrenzt und gegen innen gerichtet sind, bleibt der Raum draussen
denjenigen überlassen, die es sich nicht leisten können drinnen zu sein. Die
räumliche Segregation hebt damit die sozialen Unterschiede hervor. Begegnungen
von Leuten unterschiedlicher sozialer Gruppen nehmen ab, man bleibt vornehmlich
in einer sozial homogenen Umgebung.
Wenn in einer
solchen Stadt diese Abgrenzungen dennoch überschritten werden fühlt man sich
unsicher und ungeschützt.
in Higienópolis
Die in den Medien
alltägliche Präsenz von Gewalt und Kriminalität in der Stadt verstärkt die
stereotypen Vorstellungen von bestimmten sozialen Gruppen, denen man besser aus
dem Weg gehen sollte. So werden analog zu den physischen Abgrenzungen auch die
mentalen Schranken erhöht; man wird weniger flexibel im Umgang mit anderen
sozialen Gruppen, die man als eine mögliche Bedrohung wahrnimmt. So wird es als
ganz natürlich empfunden, dass Distanz und Ungleichheit so grosse Bedeutung
zugemessen wird.
Die grossen
Unterschiede zwischen den sozialen Schichten führten zu einer Verschlechterung
des sozialen Klimas, zu einer Verrohung der Gesellschaft, zu einer
Militarisierung des Alltags, zu einer Eskalation von Gewalt und Gegengewalt, zu
einem Kampf zwischen der Verteidigung der eigenen Interessen und dem
städtischen Lebensraum (Kohlhepp 1997:18). So erstaunt es wenig, dass die
Kriminalität eine jährliche Zuwachsrate von über 7% aufweist. Neben der
zunehmenden Arbeitslosigkeit tragen auch der vermehrte Drogenkonsum und der
allgemeine Werteverlust zu einer Verhärtung der Fronten bei.
Wenn Leute
anderer sozialer Gruppen nicht mehr als Mitbürger angesehen werden, ist dies
nicht demokratieförderlich und kann zu einer Erosion des demokratischen Rechtsstaates
führen, da die Ansprüche der verschiedenen sozialen Gruppen, die in getrennten
Welten leben, nicht mehr miteinander vereinbar sind. Toledo Silva begründet die
Gleichgültigkeit, mit der die Elite der verarmten Bevölkerungsmehrheit
gegenübersteht mit der Vorbildrolle der
einstigen Kolonialherren (Toledo Silva 1997:181f). Diese, meiner Meinung nach
ungenügende und reduzierte Erklärung, verneint die Eigenverantwortung der
Eliten für die sozial prekäre Situation im heutigen Brasilien seit der Zeit der
Unabhängigkeit.
Der mangelnde
Kontakt zu Angehörigen anderer sozialer Schichten, die ständige Überwachung und
Diskriminierung der Angestellten, sowie die Unkenntnis über die schwierigen
Lebensumstände der Mehrheit der Bevölkerung führen bedenklicherweise dazu, dass
Angehörige der Oberschicht den ärmeren Teil der Bevölkerung verachtet und sich
selbst als bessere, überlegene Menschen sieht. Dieser selbstherrliche Eindruck
wird durch die einseitige Anwendung der Gesetze zugunsten der Eliten und die vermehrte
private Handhabung von Gewalt noch verstärkt.
Die Strassen und
öffentlichen Räume in der Stadt sind aber nicht leer, sondern werden von den
Mittel- und Unterschichten benutzt. Besonders
das historische Zentrum, die Geschäftsstrassen Avenida Paulista und
Avenida Faria Lima sind tagsüber voll von Menschen, die zur Arbeit oder
einkaufen gehen.
Praça Anhangabaú und Viaduto Santa
Ifigênia
Die Nutzung der
Strassen und Plätze geschieht aber auf eine angespannte Weise, weil man sich
fürchtet ausgeraubt zu werden. Deshalb trägt auch niemand Wertgegenstände mit
sich rum.
Die von Caldeira
beschriebene Agression bei der Benützung öffentlicher Transportmittel während
den Hauptverkehrszeiten und Missachtung von Verkehrsregeln (Caldeira 1992:278)
kann ich hingegen nicht bestätigen. Im Gegenteil, der Verkehr, wenn er denn
vorwärts kommt, bewegt sich erstaunlicherweise in geordneten Bahnen; bei der
geringsten unabsichtlichen Berührung in der Öffentlichkeit, entschuldigt man
sich sofort. Dies ist eine Verhaltensweise, die ich in anderen brasilianischen
Städten nicht beobachten konnte. Das hat sicher auch damit zu tun, dass sich
die Paulistas besonders bemühen, nicht in unangenehme Situationen zu geraten
und dabei möglicherweise Opfer eines Verbrechens zu werden.
Avenida 23 de Maio
Aktivitäten in
der als gefährlich empfundenen Öffentlichkeit werden wenn möglich vermieden,
weil die privaten Räumlichkeiten, deren Schutzmechanismen den sozialen Status
ausdrücken, vorgezogen werden; am
deutlichsten wird dieser neue Lebensstil durch die befestigten Enklaven
ausgedrückt.
Diese Enklaven
werden in der Werbung als die Erfüllung der Träume präsentiert. Freie, grüne
Natur und glückliche Freizeitaktivitäten vermitteln das Bild einer heilen Welt,
die man sich nur noch zu erkaufen braucht.
Eine reichhaltige
Ausstattung, Sicherheitssysteme und ein grosses Dienstleistungsangebot bieten
einen gehobenen Lebensstil.
Die Art des
Wohnens und seine Lage zeigen den sozialen Status der Bewohner auf. Dabei sind
Enklaven an sich ein Zeichen von Reichtum und sozialer Distinktion, denn arme
Leute können es nicht leisten, dort zu wohnen.
Quelle: Veja SP, Mai 2001 Quelle: Veja SP, Mai 2001
Werbung
für Tamboré 6: Werbung für Parque dos Manacas:
glückliches
Familienleben und staufreie Zufahrtswege, bewachtes
sorglose Freizeitaktivitäten Eingangsportal und
grosszügige
werden angepriesen
Freizeitanlagen werden angepriesen
Zu einer
Luxuswohnung gehören mehrere Schlafzimmer, Aufenthaltsräume und Parkplätze.
Generell gilt, je mehr Fläche und Räume, desto besser. Besondere Zugänge und
Zimmer für Hausangestellte gehören auch zu einer Luxuswohnung; sie sind aber
deutlich kleiner dimensioniert als die Räume der Eigentümer. In einem
Luxushochhaus belegt eine Wohnung üblicherweise auch gleich eine Etage; somit
hat man keine direkten Nachbarn, was wiederum das Gefühl der Sicherheit
verstärkt.
Quelle: Folha de São Paulo 26.5.2001
Werbung für eine luxuriöse
Etagenwohnung, Domani Parque, Moema:
4 Schlafzimmer, mehrere Ess- und
Aufenthaltsräume, getrennte Zugänge für Bewohner und Angestellte; eng
bemessener Aufenthaltsbereich für Hausangestellte.
Sicherheitssysteme
und Wachpersonal gehören zum Standard und verdienen häufig keine besondere
Erwähnung mehr.
Gemeinschaftsanlagen,
wie Swimmingpool, Fitnesscenter und Grillanlage (churrasqueira) sind
unentbehrlich.
Diesem luxuriösen
Ambiente gibt das I-House-Projekt mit seiner fortschrittlichen Technik noch
einen besonderen Akzent. The innovative house, eine geschlossene Enklave
bestehend aus 12 Häusern, die in einem noblen Teil im südlichen Morumbi gebaut
werden wird, setzt auf Design und modernste Technik und Materialien.
I-House Wohnzimmer I-House
Badezimmer
Besonders zu
erwähnen sind hierbei, dass die Tür nur per Scan des Fingerabdruckes geöffnet
wird, was zusätzliche Sicherheit bedeutet, oder dass die Aussenfenster sich bei
Bedarf automatisch abdunkeln, dass das Badewasser per Telephon auf die richtige
Temperatur eingestellt werden kann.
die Tür öffnet sich nur per Scan des
Fingerabdrucks
Es gibt nur
wenige Quartiere, die nicht mit Apartment-Hochhäusern durchsetzt sind, und
deshalb bevorzugte Wohngegenden für diejenigen Reichen sind, die nicht in
geschlossene Enklaven ziehen wollen und deren
Herrenhäuser dafür hoch eingezäunt und stark bewacht werden. Das
Bedürfnis im eigenen Haus zu wohnen, gründet auch auf dem Misstrauen gegenüber
Leuten der eigenen sozialen Schicht; diesen kann man durch Selbstisolation aus
dem Weg gehen. Man hat im eigenen Haus eine bessere Kontrolle über die Kinder
und den Kontakt mit den Nachbarn.
Villa in Morumbi
Im Gegensatz zum eigenen
Haus wird das Leben in einer geschlossenen Enklave allgemein als sicherer
betrachtet. Die Enklave bietet einen neuen, alternativen Lebensstil, der
isoliert und unabhängig vom Rest der Stadt und der Gesellschaft funktioniert.
Die Enklave wird als eine grüne Oase der Freizeit angepriesen, ohne
Sicherheitsprobleme, Stress und Verkehr. Die Enklave ist die Antithese zur
Stadt, welche mit Chaos, Vermischung sozialer Klassen, Gewalt, Verschmutzung
und Lärm gleichgesetzt wird (Caldeira 1992:306).
Das tägliche
Leben wird so organisiert, dass man der Stadt so weit wie möglich aus dem Weg
gehen kann und in einer abgeschlossenen, homogenen Welt leben kann.
Was in den
Enklaven als neuer Lebensstil angepriesen wird, lässt sich auch in der Werbung
für weniger teure Wohnblöcke wiederfinden. Den Sicherheitssystemen wird hier
wieder eine grössere Bedeutung beigemessen. Dienstleistungen, Qualität und
gemeinsame Einrichtungen gehören auch zum Standard. Die weite, grüne Idylle der
Werbung wird dann in der Realität jedoch häufig durch eine enge, graue
Betonlandschaft ersetzt, wo man in Nachbarschaft mit anderen Hochhäusern steht.
Daneben ist
gerade in der Werbung für weniger luxuriöse Wohnblöcke auch die Nähe von Metrostationen und
öffentlichen Einrichtungen wichtig.
Die gemeinsamen
Einrichtungen in den Enklaven und Apartment-Hochhäusern werden aber häufig von
den Bewohnern gar nicht genutzt, weil diese trotz der physischen Nähe ihrer
Wohnungen den Kontakt untereinander vermeiden. Diese menschenleeren Räume
dienen deshalb oft nur als Statussymbole zum vorzeigen.
In den Enklaven
sind die angebotenen Dienstleistungen sehr diversifiziert; es kommt heute
seltener vor, dass die Reichen eine Hausangestellte haben, die sich um alles
kümmert, stattdessen stehen verschiedene Angestellte für unterschiedliche
Aufgaben zur Verfügung. Diese zahlreichen Hilfsarbeiter sind bei der Verwaltung
der Wohnanlage angestellt und unterstehen strengen Kontroll- und
Überwachungsmechanismen. Sie sind meist in formelle Arbeitsverhältnisse eingebunden.
Die traditionellen Hausangestellten, die zum Teil auch bei der Familie wohnen,
gibt es weiterhin; auch ihre Rechte sind seit Ende der 80er Jahre gesetzlich
geschützt. Die Vervielfachung der Dienstleistungserbringer im Zuge der
Entstehung der geschlossenen Enklaven hat damit zu einer Ausweitung formeller
Arbeitsverhältnisse geführt.
In São Paulo sind
auch viele ‚flats’ entstanden, die besonders bei der Mittelschicht beliebt
sind. Dies sind kleinere Wohnungen mit 1 bis 2 Schlafzimmern, für welche Dienstleistungen
wie in einem Hotel erbracht werden.
Mit dieser
grossen Anzahl Angestellten, entsteht das Problem der räumlichen Anordnung.
Damit sich die sozialen Schichten nicht in die Quere kommen, gibt es
verschiedene Aufzüge (social und serviço), die zu verschiedenen
Bereichen in der Wohnung führen. Der eine Aufzug führt in den Wohnbereich der
Familie, der andere in den Haushaltsbereich der Angestellten. Obwohl diese
Aufzüge ironischerweise häufig gleich nebeneinander sind, wird damit die
soziale Ungleichheit ausgedrückt.
Die Mittel- und
Oberschichten versucht Freiheit von der Stadt, von sozialer Durchmischung und
von alltäglichen Aufgaben zu gewinnen, dies geschieht jedoch nur, wenn sie sich
auf die Dienste von Leuten aus der Arbeiterklasse verlassen kann. Obwohl sie
den Kontakt mit den Angestellten scheuen und ihnen misstrauen, so sind sie doch
auf sie angewiesen.
Der Unterschied
in der Werbung für Wohnungen für Reiche und weniger Reiche liegt darin, dass
Wohnungen für die Reichen nebst den sachbezogenen Inhalten vor allem eine grüne
Umgebung und glückliche Menschen in ihrer Freizeit präsentieren;
Sicherheitssysteme hingegen sind Standard bei allen Enklaven und Wohnblöcken
und werden nicht besonders betont. Alle neu errichteten Gebäude sind mit
zahlreichen Sicherheitssystemen ausgestattet, die bei der Planung bereits
miteinbezogen werden. Das Bedürfnis nach Sicherheit bietet nicht nur Schutz vor
Verbrechen, sondern verstärkt durch die Kontrollmechanismen und
Zugangsbeschränkungen vor allem die soziale Segregation.
Das Leben
innerhalb einer Enklave wird als problemlos und harmonisch dargestellt. In
Wirklichkeit ist es aber bei weitem nicht so idyllisch wie es einem vorgestellt
wird. Auch in den Enklaven gibt es Konflikte, vor allem wenn es darum geht, die
innere Ordnung aufrecht zu erhalten und Regeln durchzusetzen. Gerade in grossen
Enklaven, wie Alphaville, ist die innere Sicherheit ein Problem. Drogenkonsum,
das Autofahren von Jugendlichen ohne Führerschein, Vandalismus und Diebstahl
kommen häufig vor; eine Bestrafung folgt selten, weil die Ordnungskräfte der
Enklaven missachtet werden, da sie keine öffentliche Autorität darstellen und
wie Untergebene behandelt werden.
Die inneren
Probleme der Enklaven werden wenn möglich nicht öffentlich bekannt gemacht,
weil dies einen grossen Einfluss auf den Wert der Grundstücke haben kann; man
versucht die Probleme intern zu regeln.
Indem man interne
Regeln macht und anwendet, missachtet man jedoch bestehende Gesetze - ein
Privileg, dass sich nur die Reichen leisten können. Diese Ausdehnung privater
Sphäre auf den (halb-)öffentlichen Raum ist eine Tendenz, die erst mit der
Verbreitung geschlossener Enklaven zugenommen hat.
Zunehmend
gewaltsame kriminelle Handlungen können aber auch in Alphaville nicht
verschwiegen werden.
In den Medien
wird die Berichterstattung über Verbrechen nur manchmal von wirtschaftlichen
Krisen oder Korruptionsaffären der Politiker aus den Schlagzeilen verdrängt.
Die Tatsache, dass Verbrechen, Folter, Korruption und die Missachtung von
Gesetzen immer und überall geschehen, führt dazu, dass diese Vorkommnisse als
trivial und fast als natürlich gesehen werden und führen deshalb zu keiner
besonderen Reaktion in der Bevölkerung.
Alphaville,
Tamboré und andere Enklaven sind heutzutage für viele keine Alternative zur
Stadt mehr, weil auch dort Raubüberfälle, Entführungen und Morde geschehen,
verübt im Innern der Enklave, zum Teil von den Bewohnern.
Die Verkehrswege
von und nach Alphaville sind häufig verstopft, die Fahrtzeit zum Arbeitsplatz
in zentrumsnahen Gebieten wird unkalkulierbar. Die Vorzüge von Alphaville,
nämlich die totale Sicherheit in einer grünen Umgebung ohne Mauern und kurze
Fahrtzeiten über die Autobahn ins Zentrum sind heute nicht mehr gegeben. Die
Bewohner von Alphaville leben heute auch in Angst vor Verbrechen, denn sie sind
ziemlich ungeschützt, weil ihre Häuser nicht durch hohe Mauern und Zäune von
der Umgebung abgetrennt sind. Gegen Verbrechen, die im Innern der Enklave
geschehen, scheint es trotz strenger Zugangskontrollen kein wirksames Mittel zu
geben.
Schlussbemerkungen
Der Versuch einer Erklärung
der starken sozialen Segregation und der
hohen Anzahl der Gewaltverbrechen bedingt eine umfassende Berücksichtigung
verschiedenster Faktoren. Was Ursache und was Wirkung ist, oder welche
Veränderungen welchen Einfluss haben, das kann bei der dynamischen Entwicklung
dieser Megastadt oft nur schwer kausal nachgewiesen werden.
Die Vielseitigkeit der
Probleme und Verhaltensweisen der Paulistas zu verstehen, sowie das
Zusammenspiel der historischen, wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen
Faktoren, und damit die Besonderheit dieser Stadt zu erklären, war das Ziel
dieser Arbeit.
Was bleibt, sind die Fakten,
eine stark segregierte Gesellschaft, eine reiche Elite, welche sich ein Leben
in luxuriösen Enklaven leisten kann, und eine arme Mehrheit der Bevölkerung,
wovon 870’000 Menschen in den mehr als 600 Favelas der Stadt hausen.
São Paulo weist dabei eine
Kriminalitätsrate auf, wie man sie sonst nur in Bürgerkriegsländern findet.
Gewaltanwendung und Sicherheitsmassnahmen nahmen in den 90er Jahren drastisch
zu.
Eine gewalttätige Polizei,
ein korrupter Staatsapparat, eine unwirksame Justiz, private Gewaltanwendung
und organisiertes Verbrechen sind einige der Gründe dafür.
Das Bedürfnis nach Sicherheit
und die Furcht das nächste Opfer eines Verbrechens zu werden beeinflussen
nachhaltig die Verhaltensweisen der Menschen.
Die Stadt hat grosse
Verkehrs- und Umweltschutzprobleme, es herrscht akute Wohnungsnot und ein
Mangel an Infrastruktur und sozialen Einrichtungen, besonders an der
Peripherie.
Die städtischen Strukturen
sind dabei ineffizient und die Politik blockiert sich selbst; Massnahmen zur
Verbesserung der Lebensumstände in São Paulo sind ein Tropfen auf den heissen
Stein.
Die Einbindung in den
Weltmarkt zementiert die wirtschaftliche Dominanz einer zahlenmässig kleinen
Elite; das Wohnen in geschlossenen Enklaven zementiert die sozialen
Unterschiede.
Leider sieht die Zukunft für
die meisten Paulistas genauso düster aus wie die Vergangenheit.
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