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São Paulo – die ungleiche Stadt

 

 

 

 

CHRISTOPH HAASE

92 – 115 – 062

 

IM JULI 2001

 

 

LIZENTIATSARBEIT IM HAUPTFACH ETHNOLOGIE

an der Universität Bern

 

 

Eingereicht bei Prof. W. Marschall

 

 

 

Inhalt:

 

 

         KAPITEL                                                                                         

 

1.      Einleitung                                                                                 

 

2.      São Paulo heute                                                                       

2.1.   Städtische Entwicklung                                                           

2.2.   Formelle und informelle Arbeit                                             

2.3.   Die Wirtschaftskrise der 80er Jahre                                       

2.4.   Umweltprobleme                                                                  

2.5.   Weltstadt und Weltmarkt                                                      

 

3.      Stadtplanung                                                                          

3.1.   Heterogenisierung                                                                 

 

4.      Gewalt                                                                                    

4.1.   Die Erfahrung der Gewalt                                                      

4.2.   Polizeigewalt und Rechtsordnung                                        

4.3.   Sicherheit als Privatangelegenheit                                         

 

5.      Segregation                                                                            

 

         Schlussbemerkungen                                                             

 

         Bibliographie                                                                          

 

 

 

1.  Einleitung

 

 

Seit einiger Zeit beschäftige ich mich nun mit São Paulo, der grössten Stadt Brasiliens. Dies begann im Sommersemester 2000 an der Universität Bern in der Übungsveranstaltung ‚Wem gehört die Stadt?‘. Dabei waren vor allem Fragen der städtischen Entwicklung in einem globalisierten Umfeld von Interesse: strukturelle Zwänge, die aus diesem Umfeld heraus entstehen, beeinflussen die Stadtentwicklung stark.

Mit der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtung sind in den Grossstädten der dritten Welt die städtischen und sozialen Probleme grösser geworden. Strukturelle Abhängigkeiten und Problemursachen sind weniger auf das lokale Umfeld zurückzuführen, sondern bedingen das Verstehen eines Kontextes, der erweiterte politische, wirtschaftliche und soziale Gegebenheiten miteinbezieht.

Dies geschieht im Rahmen einer makroökonomischen Sichtweise der Weltstädte, welche auch Rückschlüsse auf die Stärken und Schwächen São Paulos im internationalen Kontext erlaubt.

Diese Sichtweise hebt die Ähnlichkeit der Strukturen der Megastädte überall auf der Welt hervor. Die Einbindung der grössten Städte in ein weltweites hierarchisches Städtesystem mag eine Weichenstellung für zukünftige Entwicklungen und Abhängigkeiten bedeuten.

Diese Thematik findet auch in dieser Arbeit ihren Platz, weil der Einbezug des politisch-ökonomischen Gesamtkontextes, wie dies von der urbanen Forschung gefordert wird (Kokot 1990:6), ein wichtiger Bezugsrahmen für andere städtische Entwicklungen darstellt.

Gerade im 20. Jahrhundert sind städtische und wirtschaftliche Entwicklung eng miteinander verbunden. Dies zeigen auch die verschiedenen städtischen Transformationen, welche das Gesicht São Paulos verändert haben und immer noch verändern.

 

Wichtiger jedoch für eine Erklärung der heutigen Zustände sozialer, wirtschaftlicher und räumlicher Ungleichheit in São Paulo scheinen mir politische und gesellschaftliche Gründe. São Paulo ist heute von starker sozialer Segregation und gewaltsamer Kriminalität geprägt wie kaum eine andere Metropole.

Die Ursache für die gewaltsame Kriminalität sieht der Autor primär in der mangelhaften Demokratisierung rechtsstaatlicher Organe nach dem Ende der Militärdiktatur. Dies hat zur Folge, dass ein unwirksames Justizsystem und Gewaltanwendung von staatlicher Seite her zu einer Delegitimation der demokratischer Strukturen führen. Damit wird indirekt die Gewaltanwendung durch Private legitimiert. Gewalttätige Verbrechen nehmen zur selben Zeit zu, wie die Institutionen, welche für Recht und Ordnung zu sorgen haben, fehlschlagen.

 

Auf die Delegitimation öffentlicher Ordnung reagiert die Bevölkerung mit Strategien zum Selbstschutz. Besonders die Reichen verwenden privatisierte Sicherheitsmittel; ihre befestigten Wohnanlagen zeigen die sozialen Unterschiede auf. Die Enklavenbildung und Selbstsegregation verändern die Art des Wohnens und das Gesicht ganzer Stadtteile; damit wrid auch die Nutzung des öffentlichen Bereichs der Stadt verändert. Exklusion und Kontaktvermeidung sind die Sicherheitsstrategien der Reichen in einem veränderten städtischen Umfeld.

Eine segregierte Umgebung führt aber nicht zur Konsolidierung demokratischer Verhaltensweisen, sondern unterstützt die gewaltsamen, privaten Mittel der Verbrechensbekämpfung. Die Zunahme der Gewalt und Segregation führen zusammen zur Reproduktion von Gewalt, zu neuen Formen von Segregation und zu Opposition gegen die Menschenrechte.

Dabei sind Fragen, die sich bereits Vertreter der Chicago School of Sociology in den zwanziger und dreissiger Jahren gestellt haben, nämlich wie das städtische Zusammenleben vonstatten geht,  wie das menschliche Verhalten von räumlichen Umständen beeinflusst wird, wie Segregation und Enklavenbildung entstehen, von Bedeutung.

Einkommensunterschiede, Gewalt, Segregation und Enklavenbildung wirken sich in einer Weise auf die Lebens- und Verhaltensweisen in São Paulo aus, die diese Stadt für mich besonders faszinierend  machen.

Mein Anliegen ist es durch das Erklären struktureller ökonomischer, politischer und sozialer Zwänge die Verhaltensweisen der städtischen Bevölkerung und die Richtung, in welche die städtische Entwicklung São Paulos geht, besser zu verstehen.

Im Mai 2001 habe ich deshalb eine Forschungsreise nach São Paulo unternommen, um meine bisherigen Informationen zu dieser Stadt überprüfen zu können und um zu sehen, wie stark das Leben von obengenannten Umständen geprägt ist. Natürlich kann in dieser kurzen Zeit nur ein unvollständiger Eindruck dieser vielseitigen Stadt entstehen.

Durch Beobachtungen in einigen Stadtteilen (Morumbi, Paraisópolis, Brooklin, Itaim Bibi, Vila Olímpia, Jardins, Vila Mariana, Higienópolis) wollte ich mir ein eigenes Bild der Enklaven der Reichen und deren  Abgrenzungsmechanismen machen.

In anderen Stadtteilen (República, Sé, Libertade, Aclimação, Mirandópolis, Brás, Santa Ifigênia, Barra Funda, Tatuapé, Av.Paulista, Cerqueira César, Pinheiros) stand mehr die städtische Entwicklung und der Gang des öffentlichen Lebens im Vordergrund.

Daneben hatte ich die Gelegenheit mit Ethnologinnen an der USP (Universidade de São Paulo) und einem Architekten des I-House-Projektes zu sprechen, sowie am Zentrum für Gewaltstudien (Núcleo de Estudos de Violência) und an der Architektur- und Urbanismusfakultät der USP weitere themenbezogene Literatur zu finden.

Der Besuch des Einwanderermuseums (Hospedaría dos Imigrantes) und der Ausstellung ‚São Paulo – de vila a metrópolis’ in der Galeria Prestes Maia des Kunstmuseum (MASP) vermittelten mir, wie das Leben in São Paulo zu Beginn dieses Jahrhunderts war.

Durch das Studium der Tageszeitungen und Fernsehnachrichten wollte ich einerseits den Stellenwert und die Art der Berichterstattung über Verbrechen und Gewalt herausfinden und andererseits die Werbung für Enklaven und Apartment-Hochhäuser untersuchen.

Mangels Gelegenheiten konnte ich die geplante Gegenüberstellung von Enklave und öffentlichem Platz, sowie die Befragung von Bewohnern von Enklaven nicht durchführen.

Meine in São Paulo gewonnen Eindrücke entsprechen jedoch nicht immer der Sichtweise der Paulistas (Einwohner von São Paulo): die alltägliche Furcht, Opfer eines Verbrechens zu werden, das Gutheissen von polizeilicher und privater Gewaltanwendung, Vorurteile gegenüber den ärmeren Bevölkerungsschichten, sowie bestimmte Verhaltensweisen und Probleme lassen sich nicht an der Oberfläche feststellen oder nur indirekt ergründen.

Obwohl meine Zeit in São Paulo sehr begrenzt war, bin ich der Ansicht, dass das eigene Sehen und Erleben wesentlich zum Verstehen beigetragen hat und dass den Worten durch die Bilder eine zusätzliche Qualität verliehen wird. Diesen Eindruck möchte ich auch in dieser Arbeit vermitteln.

 

Im zweiten Kapitel geht es darum, die historischen Rahmenbedingungen aufzuzeigen, welche der gesellschaftlichen Entwicklung die Richtung vorgegeben haben: eine egalitäre Gesellschaftsform hat es in Brasilien seit der Besiedlung durch die Portugiesen und der Einführung der Sklaverei nicht gegeben; die Gesellschaft war gespalten in Herrenhaus und Sklavenhütte. Diese soziale Ungleichheit wurde durch die ungerechten Landbesitzverhältnisse auch nach Abschaffung der Sklaverei aufrecht erhalten. Die Misere des Grossteils der Bevölkerung wurde durch die Armutsmigration zu Beginn des 20.Jahrhundert noch verstärkt. Der Überschuss an vorhandenen Arbeitskräften erlaunbte es, die Löhne niedrig zu halten und führte zu einem beachtlichen Anteil informeller Arbeitsverhältnisse. Die Industrialisierung ermöglichte ein extremes Bevölkerungswachstum im 20. Jahrhundert und machte São Paulo zur wichtigsten Stadt Brasiliens; der Glaube an Fortschritt, Entwicklung und sozialen Aufstieg war bis zu Beginn der 80er Jahre sehr stark. Mit der Wirtschaftskrise und Hyperinflation verflogen auch die Hoffnungen; eine zunehmende Verarmung und Perspektivlosigkeit breiter Bevölkerungs-schichten war die Folge.

Das Bevölkerungswachstum führte zu neuen städtischen Problemen: die administrativen Strukturen der 17-Millionen-Metropole sind verworren, Verkehrswege und Infrastruktureinrichtungen konnten mit der rasanten Entwicklung nicht standhalten. São Paulo hat heute schwerwiegende Verkehrs- und Umweltprobleme zu lösen.

Die Einbindung in ein globales Städtesystem zementiert die ungleichen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse. São Paulos Bedeutung liegt dabei vor allem in der Dominanz im südamerikanischen Raum.

 

Im dritten Kapitel geht es um die räumliche Dimension der Ungleichheit: je nach Stadtteil und Bevölkerungsschicht lässt sich eine andere Entwicklung feststellen. In São Paulo lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die sozialen Schichten auf engem Raum nebeneinander. Die Eliten initiierten dann eine Säuberung und Neugestaltung des Zentrums, die Arbeiter wurden an die Peripherie vertrieben, wo sie ihre Häuser im Eigenbau errichten mussten. Damit wurde eine Ausdehnung der Stadt in konzentrischen Kreisen eingeleitet; die Reichen wohnten im Zentrum, die Armen an der Peripherie.

Dieses Schema wurde in den 80er Jahren durchbrochen: einerseits werden ehemalige Industriequartiere in Zentrumsnähe werden von ärmeren Bevölkerungsschichten bewohnt, andererseits ziehen viele Reiche vom Zentrum weg in neue Wohngebiete im Südwesten. Das städtische Siedlungsmuster wird heterogenisiert.

 

Im vierten Kapitel geht es um die Entwicklung, Verteilung und Wahrnehmung der Gewalt,  sowie um die Rolle von Polizei und Justiz in der Gewaltbekämpfung.

Die Furcht vor Verbrechen, sowie die persönliche Erfahrung verändern die Wahrnehmung bezüglich Umwelt und Mitmenschen. Es dominiert ein stereotypes Bild des armen, arbeitslosen Kriminellen, welches sich hartnäckig hält, auch unter der armen Bevölkerung.

Im Zuge der Wirtschaftskrise der 80er Jahre stieg auch die Anzahl der Verbrechen markant an; in den 90er Jahren setzte sich diese Entwicklung fort, weil die staatlichen Organe nicht in der Lage waren, für Recht und Ordnung zu sorgen.

Die Art der Verbrechen verteilt sich dabei unterschiedlich auf die einzelnen Stadtviertel.

Die polizeilichen Statistiken sind aber mit Vorsicht zu geniessen, da viele Verbrechen nicht erfasst werden, andere über- oder unterrepräsentiert werden.

Die übermässige polizeiliche Gewaltanwendung und deren Straflosigkeit geben der Bevölkerung das Gefühl, berechtigt zu sein, selbst ebenfalls Gewalt auszuüben. Die Gewaltspirale dreht sich weiter: das Geschäft mit privaten Sicherheitsleuten boomt in der 90er Jahren; viele arbeiten am Rande der Legalität.

Das Justizsystem ist chronisch überlastet und weder fähig noch willens alle Teile der Gesellschaft gleich zu behandeln. Das demokratische Rechtssystem wird von der armen Bevölkerung als eine weitere Massnahme der Unterdrückung empfunden, weil sich die Elite über Gesetze hinwegsetzen kann ohne bestraft zu werden.

 

Im fünften Kapitel geht es um die soziale Dimension der Ungleichheit. Die Heterogenisierung der Wohngebiete führte zu einer neuen Nähe von Arm und Reich. Die sozialen Unterschiede werden durch das Errichten neuer materieller und immaterieller Barrieren ausgedrückt. Das Leben in geschlossenen Wohnanlagen an der städtischen Peripherie wird zum Privileg für die Eliten; es entstehen völlig von ihrer physischen Umgebung abgetrennte Wohn- und Arbeitswelten, in denen Luxusgüter als neue Statussymbole dienen. Die räumliche Segregation festigt so die sozialen Unterschied und beeinflusst damit das Verhältnis der reichen Eliten zu den Armen; dies bringt auch eine neue Betrachtungsweise des öffentlichen Raumes mit sich und es bilden sich neue Verhaltensweisen und Wertvorstellungen. Der öffentliche Raum wird den Mittel- und Unterschichten überlassen; die Art der Fortbewegung und der Nutzung öffentlichen Raumes sind zu Merkmalen sozialer Zugehörigkeit geworden.

 

 

Karte São Paulo:

 

 

 

 

 

 

 

2. São Paulo heute                                                    

 

 

Die Metropolitanregion São Paulo ist eine Megastadt, die heute aus 39 Städtverwaltungen besteht. Das städtische Gebiet erstreckt sich über 80 Kilometer von Osten nach Westen, und 40 Kilometer von Norden nach Süden. São Paulo ist nicht nur das Wirtschaftszentrum Brasiliens, sondern hat sich auch als Weltstadt etabliert. Ohne dass die Industrie an Bedeutung verlor, ist São Paulo zum führenden Dienstleistungszentrum Südamerikas geworden.

Santos bezeichnet das heutige São Paulo nicht mehr als eine Industriestadt, sondern als eine transitionale Metropole, deren Funktionen und Wichtigkeit nicht mehr vom Fluss materieller Güter abhängt, weil sie jetzt diese Flüsse selbst organisiert, dank ihrer Entscheidungsmacht und Informationskontrolle (Santos in Gilbert 1996:4).

 

 

Quelle: Santos in Gilbert 1996

 

Anhand einiger Zahlen sollen die Dimensionen der städtischen Probleme São Paulos aufgezeigt werden: Die Bevölkerung der Stadt São Paulo erreicht die 10 Millionen Marke, sie wächst jedes Jahr um etwa 100'000 Einwohner. Davon sind zu Beginn der 90er Jahre 60% auf natürliches Wachstum und 40% auf Immigration zurückzuführen. Viele der Zugewanderten kommen aus verarmten ländlichen Gebieten aus dem Nordosten Brasiliens. Dank der zunehmenden Entwicklung und Industrialisierung dort, nimmt die Zuwanderung jedoch stark ab.

 

 

 

 

Die Metropolitanregion São Paulo hat etwa 17,2 Millionen Einwohner, die jährliche Zunahme liegt bei einer Viertelmillion Menschen. Die Metropolitanregion wird von 39 Stadtverwaltungen geleitet; daneben gibt es eine Anzahl staatlicher, bundesstaatlicher und lokaler Verwaltungen, mit unzähligen horizontalen und vertikalen Verbindungen untereinander. Die Folge davon ist, dass Zuständigkeiten und Verantwortung nicht geklärt sind und dass deshalb die Metropolitanregion als unregierbar bezeichnet werden kann, weil flächenübergreifende Probleme, wie das Verkehrsaufkommen oder die Umweltverschmutzung, nicht effizient in Angriff genommen werden können.

 

 

 

2.1.  Städtische Entwicklung

 

Eine kurze geschichtliche Betrachtung soll den Aufstieg São Paulos zur grössten Metropole Südamerikas veranschaulichen. Vom sechzehnten bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte die Stadt vor allem lokale Funktionen erfüllt, dann aber führte ein massives Bevölkerungswachstum und eine rapide wirtschaftliche Entwicklung zu einer dominierenden Rolle in Südamerika.

 

Die portugiesische Kolonisation im 16. Jahrhundert beschränkte sich vor allem auf die Besiedlung und Kontrolle der Küstenregionen. Erst mit der Zeit überwanden die Portugiesen das steile Küstengebirge und drangen ins Hinterland vor. São Paulo wurde 1554 offiziell zu einem Dorf; lange Zeit aber blieb das Gebiet isoliert, weil die Produktivität der Zuckerrohrplantagen dort nicht besonders hoch war; die Leute betrieben Subsistenzwirtschaft und erst im 17. Jahrhundert wurde Weizen für den Export angebaut.

Im 18. Jahrhundert wurde São Paulo zu einer wichtigen Ausgangsbasis für die Bandeirantes, welche im Hinterland Raubzüge durchführten und IndianerInnen als Arbeitskräfte und Sklaven für die Zuckerrohrplantagen im Küstentiefland verschleppten. Dies brachte den ersten Wohlstand für São Paulo. Die Bevölkerung São Paulos stieg im Verlauf des 18. Jahrhunderts auf 8000 an. Die Verelendung und Ausrottung der Indianer aber zeichnete sich damals bereits ab.

São Paulo entwickelte sich langsam zu einer Stadt, blieb aber bis 1870 mit 28000 Einwohnern relativ unbedeutend.

 

Im 19. Jahrhundert begann von Rio de Janeiro her über das Vale de Paraíba auch in der Region São Paulo die grossangelegte Kaffeeproduktion. Kaffee war zum wichtigsten Exportprodukt Brasiliens geworden und die Nachfrage auf dem Weltmarkt verhalf der Region São Paulo zum ökonomischen Aufschwung.

Die Kaffeeproduktionstieg von 0,3 Mio Säcken 1820 auf 2,6 Mio Säcke 1860 und weiter auf 7,3 Mio Säcke 1890 (Novy in Feldbauer 1997:262). Ebenso stiegen in dieser Zeit die finanziellen Verflechtungen und Kredite auf ein Vielfaches. Der Exporthafen Santos lag in günstiger Nähe und Infrastrukturmassnahmen in den Bereichen Strom, Gas und öffentlicher Verkehr wurden vorangetrieben und zahlreiche neue Eisenbahnlinien erstellt. Diese Voraussetzungen begünstigten den wirtschaftlichen Aufschwung durch den Kaffee-Export und stellten eine gute finanzielle Basis für die beginnende Industrialisierung dar. Zugleich wurde die landwirtschaftliche Expansion und Diverisfizierung vorangetrieben; wichtigste agrarische Produkte sind neben dem Kaffee Zuckerrohr, Soyabohnen, Mais, Weizen, Bananen und Orangen.

 

Das neue Landrecht von 1850 erlaubte erstmals den Privatbesitz von Grundstücken. Infolge von Spekulationen stiegen die Bodenpreise in São Paulo markant, so dass immer wieder neues Land in Besitz genommen wurde. Das Land, auf dem die Kleinbauern und Indios lebten, wurde, wenn diese keine Landrechte besassen, als Staatseigentum betrachtet und als solches an die Kaffeeproduzenten abgegeben, was oft zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Bewohnern dieser Gebiete führte.

Neben diesen wirtschaftlichen Veränderungen brachte die Einführung der Monarchie im Jahre 1822 auch eine politische Modernisierung; Brasilien entwickelte sich von einer ländlich dominierten zu einer städtisch-bürgerlichen Gesellschaft, die Macht der Grossgrundbesitzer wich derjenigen der Banken und der Händler. 1827 wurde die erste Universität gegründet und ab Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen die ersten Zeitungen und verschiedene Vereine bildeten sich. 1888 wurde die Sklaverei abgeschafft und ein Jahr später auch die Monarchie.

 

 

                                  Quelle: Ferraz de Lima 1997:169

Stadtteil Brás 1910

 

 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahmen sowohl das Bevölkerungswachstum als auch die industrielle Produktion stark zu, gleichzeitig wurde die Infrastruktur weiter ausgebaut und die Aktivitäten von Banken und Handel verstärkten sich.

São Paulo steigerte seinen Anteil an der nationalen Industrieproduktion von 16% 1907 auf 41% 1941 (Novy in Feldbauer 1997:263). Neben der Konsumgüterindustrie wurde in den zwanziger Jahren vermehrt auch die chemische Industrie und die Metall- und Papierindustrie gefördert. Die Stadt São Paulo dominierte dabei den gesamten Bundesstaat. Wegen geringer Transportkosten und hoher Produktivität wirkte sich die Stärke der Region São Paulo negativ auf weniger konkurrenzfähige Regionen Brasiliens aus. Während 1910 noch über 80% der Produkte (hauptsächlich Kaffee) exportiert wurden, gingen nun zunehmend Industrieprodukte aus São Paulo in andere Regionen Brasiliens. 1960 wurden nur noch 16% der Waren exportiert während die Bedeutung des Binnenmarktes stark zugenommen hat (Novy in Feldbauer 1997:264).

 

Der Binnenmarkt, gestärkt durch die Kaufkraft von Ober- und Mittelschicht, ermöglichte das Wachstum der nationalen Industrie. Der Bundesstaat São Paulo stärkte seine Position als Industriezentrum Brasiliens von 32% 1919 auf 58% 1970 (Novy in Feldbauer 1997:266). Die Industrie verbesserte und differenzierte sich in dieser Zeit weiter. Einhergehend mit dem industriellen Wachstum ging die Entwicklung São Paulos zum Finanz- und Handelszentrum Brasiliens voran. Bereits 1978 hatten auch 60% der in Brasilien tätigen ausländischen Unternehmen ihren Sitz in der Region São Paulo.

 

Die erste Volkszählung von 1872 ergab 32‘000 Einwohner in São Paulo; 1890 wurden bereits 65‘000 gezählt. Mit der Abschaffung der Sklaverei begann die Regierung als Ersatz die Einwanderung von Nicht-Afrikanern zu fördern. 65% der Einwanderer zwischen 1880 und 1900 waren Italiener, welche vor allem in der Industrie und der Landwirtschaft beschäftigt wurden. Um 1900 waren 90% der Einwohner im Bundesstaat São Paulo Ausländer (Novy in Feldbauer 1997:264). Dies führte zu einer ausländerfeindlichen Haltung unter der übrigen Bevölkerung. Diese Entwicklung gipfelte im ‚Zwei-Drittel-Gesetz‘; dieses schrieb vor, dass zwei Drittel der Arbeiter in einem Betrieb Brasilianer sein mussten. Als Folge davon begann eine starke Einwanderung von Migranten aus dem Nordosten und später aus dem Südosten des Landes. Deren Hoffnung war einen Arbeitsplatz in der expandierenden Industrie oder der Baubranche zu finden. 1920 hatte sich die Einwohnerzahl auf 580000 erhöht, 1934 wurde die erste Million erreicht und 1950 stieg die Einwohnerzahl auf 2 Millionen.

 

Bis in die 1920er Jahre hinein war São Paulo eine stark durchmischte Stadt, die Wohnviertel der Reichen und die Mietskasernen der Armen lagen nahe beeinander. Erst im Zuge der Industrialisierung begann ein Prozess der räumlichen Segregation, der von der Oberschicht initiiert wurde und dazu führte, dass die Wohnviertel der Mittel- und Oberschicht von denen der Arbeiterklasse getrennt wurden.

Im Stadtzentrum bildeten sich die Wohnviertel der vermögenden Bevölkerungsschichten um die auf einem Hügel gelegene Prachtstrasse Avenida Paulista heraus, während die Armen die Gebiete bei den Flussbecken im Tal besiedelten. Fast jeder Vermögende hatte sein eigenes Haus, versorgt mit der nötigen Infrastuktur (Wasser, Strom, Kanalisation), während die in der Nähe der Fabriken errichteten Mietskasernen der Armen überfüllt waren und ohne die nötige Infrastruktur auskommen mussten.

 

    

 

Avenida Paulista um 1900

 

Die grosse strukturelle Veränderung dieses Jahrhunderts in Brasilien ist die Verstädterung, welche ihren Anteil von 31,2% 1940 auf 75,5% 1991 gesteigert hat. São Paulo ist 1994 mit 16,3 Millionen Einwohnern nach Mexico City und Tokyo die drittgrösste Metropolitanregion der Welt (Kohlhepp 1997:2f).

 

Tabelle 1:   Bevölkerungswachstum der Stadt São Paulo zwischen

 1940 und 1991

 

Jahre

Gesamt-

bevölkerung

Bevölkerungs-wachstum

pro Jahrzehnt

absolut (relativ)

Vegetatives Wachstum

pro Jahrzehnt absolut (relativ)

Migratorisches Wachstum

pro Jahrzehnt absolut (relativ)

1940

1'326‘261

 

 

 

1950

2'198‘096

871‘835  (5.18)

242‘810   (1.5)

629‘025    (4.1)

1960

3'666‘071

1'468‘605  (5.25)

667‘459   (2.5)

801‘146    (3.8)

1970

5'924‘615

2‘257‘914  (4.92)

972‘571   (2.7)

1'285‘343    (3.2)

1980

8'493‘226

2‘568‘611  (3.67)

1‘424‘665   (2.2)

1'143'946    (1.8)

1991

9'626‘894

1‘133‘668  (1.15)

1‘889‘633 (1.84)

-755'965 (-0.84)

Quelle:  Novy in Feldbauer 1997:271

 

Zwischen 1940 und 1980 hat die Bevölkerung rapide zugenommen, allein zwischen 1950 und 1960 wuchs die Bevölkerung um 65%, wobei  50% davon MigrantInnen waren (Novy in Feldbauer 1997:270).

‚Push-Faktoren‘ für die Migration vom Lande sind dabei vor allem mangelnde Zukunftsperspektiven, die feudalen Bodenbesitzverhältnisse, Hunger, Armut  und Gewalt. ‚Pull-Faktoren‘ São Paulos andererseits sind die Arbeitsplätze in der Industrie, die moderne Kultur, die vielfältigen Ausbildungsmöglichkeiten und die Hoffnung auf ein besseres Leben.

Nach 1960 hat sich die Migration verlangsamt, aber die absoluten Bevölkerungszahlen stiegen weiter an.

 

 

 

1991 sind erstmals mehr Menschen aus São Paulo abgewandert als zugewandert. Auch die Zuwanderung in den Bundesstaat São Paulo war 1970 noch sechsmal höher als 1991.

 

 

Tabelle 2:   Bevölkerungsentwicklung der Stadt São Paulo, von

 Gross-São Paulo und dem Bundesstaat São Paulo

 zwischen 1920 und 1991

 

Jahr

Stadt São Paulo

Gross-São Paulo

Bundesstaat São Paulo

Stadt/Land

1920

579‘033

 

4'592‘188

0.126

1940

1'326‘261

1'568‘045

7'180‘316

0.185

1950

2'198‘096

2'662‘786

9'134‘423

0.241

1960

3'666‘701

4'739‘406

12'823‘806

0.285

1970

5'924‘615

8'139‘730

17'771‘948

0.333

1980

8'493‘226

12'588‘745

25'040‘712

0.339

1991

9'626‘894

15'416‘416

31'546‘473

0.305

Quelle: Novy in Feldbauer 1997:271

 

 

 

In den neunziger Jahren sind fast zwei Drittel der Beschäftigten in São Paulo Migranten. Sie werden vorwiegend in Industriebetrieben beschäftigt und nicht im Dienstleistungsbereich. Die Arbeiter können aber ihre Lohnforderungen gegen die Arbeitgeber nicht durchsetzen, da diesen stets eine potentielle Reservearmme an Arbeitsuchenden zur Verfügung steht,  die nur auf einen freien Arbeitsplatz warten; die Arbeitslosenrate liegt bei 20,6%. Das Problem der Arbeitslosigkeit ist dabei in der Peripherie deutlich grösser als im Zentrum; Schwarze sind überdurchschnittlich häufig arbeitslos.

Die Armut lässt sich aufgrund geringer Werte (7.6%) auch nicht auf eine dauerhafte Unterbeschäftigung zurückführen, sondern liegt in den niedrigen Löhnen begründet. Markante Unterschiede gibt es dabei im Einkommen weisser und schwarzer Familien, welche auf das unterschiedliche Bildungsniveau zurückzuführen sind (Novy in Feldbauer 1997:268).

Im Jahr 1985 verdienen die 25% der Bevölkerung mit den niedrigsten Einkommen nur 5.8% der Lohnsumme, während sich die 25% mit den höchsten Einkommen 61,4% der Lohnsumme aneignen (Novy in Feldbauer 1997:267).

 

Der Fortschrittsglaube wurde in den 50er Jahren von Präsident Kubitscheks Entwicklungsprogramm geprägt, welches mit staatlichen Initiativen und ausländischem Kapital ein rapides Wirtschaftswachstum förderte. Am bedeutendsten war dabei die Metallindustrie in São Paulo.

 

Tabelle 3:   Anteil des Staates São Paulo an der nationalen Industrie-produktion

 

1907

16%

1919

32%

1929

38%

1950

49%

1960

55%

1970

58%

1984

50%

 

Quelle: Caldeira 1992:29

 

Das industrielle Wachstum ist verbunden mit einer intensiven Urbanisierung und einer durchschnittlichen Zunahme der Bevölkerung von 5.5% von 1940 – 1970. Ein Grossteil davon kam aus anderen Landesteilen, vor allem aus dem Norden und Nordosten, nach São Paulo.

Die andauernde starke Zuwanderung nach São Paulo führte zu einem Mangel an Infrastruktureinrichtungen und zu grossen Wohnungs-problemen. Auf politischer Ebene wurden in den fünfziger und sechziger Jahren die Wünsche der Bevölkerung über den Gemeinderat an die Politiker herangetragen. Die Politiker wollten sich auf lokaler Ebene profilieren und verteilten die staatlichen Mittel willkürlich im Tausch gegen Wählerstimmen, die durch Nachbarschaftsvereine organisiert wurden. Diese personenbezogenen Klientelbeziehungen der Politiker zu ihrem Wahlkreis waren von grösserer Bedeutung als die vorhandenen Stadtentwicklungspläne, wenn es darum ging auf lokaler Ebene Verbesserungen herbeizuführen dabei.

 

In den frühen 60er Jahren führte eine hohe Inflation zusammen mit politischer Mobilisierung der Arbeiterklassen, Bauern und Studenten, welche ihre politischen Rechte einforderten, zur Machtübernahme durch die Militärs 1964. Deren Herrschaft, die bis 1985 dauerte, war einerseits geprägt von Intoleranz gegenüber politischer Opposition, andererseits auch von Modernisierung und wirtschaftlicher Entwicklung, mit jährlichen Wachstumsraten von 12% zu Beginn der 70er Jahre. Eine neue Infrastruktur wurde aufgebaut, nationale Gesundheits- und Sozialfürsorge wurden geschaffen und ausländisches Kapital in die Wirtschaft gepumpt. Dieser wirtschaftliche Fortschritt basierend auf hoher Auslandsverschuldung geschah aber ohne die politische Partizipation der Massen und ohne eine gerechte Verteilung des Reichtums. Dies führte dazu, dass eine zahlenmässig kleine Schicht eine sehr grosse Kaufkraft besass und mit ihrem politischen Einfluss die elitären und autoritären Gesellschaftsstrukturen verstärkte (Caldeira 1992:31).

Die fehlende demokratische Kontrolle des Staates führte dazu, dass die Qualität und Verteilung der staatlichen Sozialleistungen, Bildungsinstitutionen, öffentlichem Wohnungsbau, Verkehr und sanitären Anlagen geprägt waren von grossen Mängeln, Niedriglöhnen und Korruption.

 

 

2.2.  Formelle und informelle Arbeit

 

Die wirtschaftliche Expansion führte einerseits dazu, dass viele Arbeiter in formale Arbeitsstrukturen eingebunden und ein nationaler Markt für Konsumgüter geschaffen wurde; andererseits aber auch zur Ausdehnung des informellen und schlecht bezahlten Arbeitsmarktes für häusliche Dienstleistungen, industrielle Zulieferbetriebe oder die marginale Bauindustrie.

In den 70er Jahren basierte das wirtschaftliche Wachstum vor allem auf der Expansion des inländischen Konsumgütermarktes. Den Massen wurde mit starker Förderung von Krediten die Partizipation an diesem Markt ermöglicht. Dank dieser Politik war es möglich den heimischen Markt zu vergrössern und gleichzeitig die ungerechte Einkommensverteilung und niedrige Löhne aufrecht zu erhalten.

Die Modernisierung Brasiliens basierte also auf einer starken wirtschaftlichen Entwicklung, Verstädterung und der Herausbildung eines Marktes für Konsumgüter, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung hierarchischer Strukturen, politischer Unterdrückung und ungleicher Einkommensverteilung (Caldeira 1992:32).

Die Industrialisierung und das Wirtschaftswachstum halfen den versprochenen Fortschritt und die soziale Mobilität zu realisieren. So lange die Bereicherung der Eliten nicht gefährdet war, akzeptierten diese bessergestellten Gesellschaftsschichten die Einbindung der Arbeiterklasse in den Konsumgütermarkt.

 

Die hohe Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhne einerseits und die starke Zuwanderung andererseits führen dazu, dass viele einer ungeregelten Arbeit nachgehen. Diese zunehmende Informalisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten ist ein weit verbreitetes Phänomen der Megastädte der globalen Peripherie. Der informelle Sektor ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor geworden, der vielen Arbeitsplätze bietet. Der informelle Sektor ist aber kein Randbereich der Wirtschaft, sondern deren integraler Bestandteil. Es bestehen vielfältige Beziehungen zwischen der formellen und der informellen Ökonomie; so kommt es oft vor, dass Teile der Produktion eines Betriebes in den Bereich der ungeregelten und unterbezahlten Arbeit ausgelagert werden. Dies soll anhand einiger Zahlen für São Paulo belegt werden:

Um als Arbeitnehmer versichert und geschützt zu sein, braucht es eine vom Arbeitgeber unterschriebenen Arbeitskarte. Vor allem bei Minderjährigen und Arbeitern in Kleinstbetrieben fehlen bei über 60% die unterschriebenen Arbeitskarten. Im Dienstleistungsbereich ist jeder Zweite, im Handel jeder Dritte nicht versichert; auch bei den Hausangestellten sind 30% nicht versichert. Wer versichert ist, vor allem in der Industrie oder im öffentlichen Dienst, verdient im Durchschnitt mehr als dreimal so viel wie jemand ohne unterschriebene Arbeitskarte. Der Sektor der informellen Arbeit dient den Arbeitgebern zur Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, andererseits ist er für sehr viele Personen die einzige Möglichkeit etwas Geld zu verdienen, das zum Überleben notwendig ist.

Die in Brasilien ausgeprägte kapitalistische Ausbeutung der Arbeitskraft, die Vernachlässigung von sozialen  Problemen und Umweltschutz führt Toledo Silva (1997:181f) hauptsächlich auf ein entsprechendes Verhalten der früheren Kolonialmacht zurück. Dieses Verhalten war geprägt von Gewalt, sozialem Ausschluss und Ausbeutung der Armen. Während sich die Reichen eine luxuriöse Umgebung leisteten, lebte die Mehrheit der Bevölkerung unter unmenschlichen Bedingungen. Für Toledo Silva ist dieser geschichtliche Hintergrund eine grundlegende Voraussetzung um heute verstehen zu können, dass das Elend und die Armut grosser Bevölkerungsteile von der herrschenden Oberschicht als natürlich oder schicksalsgegeben betrachtet wird. So fehlt denn der Elite einerseits ein Bewusstsein für die Anerkennung der gleichen Grundrechte für alle Menschen und andererseits ein Verständnis um einen Sozialvertrag für die gesamte Gesellschaft.

 

 

2.3. Die Wirtschaftskrise der 80er Jahre

 

Seit den 50er Jahren glaubte man, dass der wirtschaftliche Fortschritt nie ein Ende nehmen würde. São Paulo war der Motor der brasilianischen Wirtschaft. Das Motto „São Paulo não pode parar!“ (São Paulo kann nicht anhalten!) war in den Köpfen einer ganzen Generation fest verankert. In den 80er Jahren, die auch ‚die verlorene Dekade’ genannt werden, wurde dieses Wachstum von einer starken Rezessionsphase abgelöst.

 

Zu Beginn der Krise glaubte man noch an den Fortschritt; eine Reihe politischer Aktivitäten, Gewerkschaftsbewegungen in den Industrievorstädten São Paulos und soziale Hauseigentümerbewegungen an den armen Peripherien der Stadt versprühten Hoffnung. Politische Parteien wurden wieder zugelassen, Arbeiter setzten ihre Rechte mit Hilfe der Gewerkschaften durch, die Stadtverwaltung wollte ihre Dienstleistungen und Infrastruktur ausbauen, wie dies von den Bewohnern der Peripherie gefordert wurde.

 

Hohe Inflationsraten führten aber zu einer Verarmung der Bevölkerung, zu Frustration und Pessimismus.

Die hohe Inflation führt dazu, dass die Leute von Tag zu Tag leben und dass sie ihre Langzeitprojekte aufgeben. Lohn und Mietzins werden monatlich neu angepasst; wofür man sein Geld ausgibt, hängt von täglichen Preisänderungen ab.

Die wirtschaftliche Rezession führte zu grosser Arbeitslosigkeit, dabei kann man sich seiner sozialen Stellung nicht mehr sicher sein; Fortschritt und sozialer Aufstieg sind in weite Ferne gerückt.

 

Die Wirtschaftskrise der 80er Jahre ist für die Mittel- und Unterschichten besonders hart, denn die Hyperinflation nimmt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft; die Sicherheit des Geldes geht verloren, tägliche Preisanpassungen sind die Regel. Das alltägliche Leben ist geprägt von Versuchen eine sichere Stellung zu wahren.

 

Die Politik der Regierung Sarney mit dem Plano Cruzado 1986 die Inflation einzudämmen schlug nach kurzzeitigem Erfolg ebenso fehl, wie der Versuch der Regierung Collor 1990. Der Plano Collor führte nicht nur zu einem Wiederanstieg der Inflation nach kurzer Zeit, sondern auch zu einer deutlichen Verschlechterung der Reallöhne. Dies vermittelte vor allem der Mittel- und Unterschicht das Gefühl der Verschlechterung der eigenen sozialen Situation.

 

 

Tabelle 4:   Jährliche Inflation in Prozent

 

1985

1986

1987

1988

1989

1990

1991

1062,4

145,2

229,7

682,3

1287,0

2968,0

465,0

 

Quelle: Caldeira 1992:36

 

In diesem Jahrzehnt der Inflation, Arbeitslosigkeit und Rezession hat die Armut stark zugenommen. Während das Einkommen des reichsten Prozents der Bevölkerung von 1981 13% auf 1989 17,3% gestiegen ist, nahm das Einkommen der ärmsten 50% der Bevölkerung von 1981 13,4% auf 10,4% 1989 ab (Page 1995:121). Das Bruttosozialprodukt sank von 1980 bis 1990 um 5,5% und der Realmindestlohn sank um 46%. Das durchschnittliche monatliche Familieneinkommen erlebte einen substantiellen Verlust und sank in diesen Jahren um mehr als 50%. Deshalb verarmte die Mittelklasse zusehends. Der Plano Collor vergrösserte die soziale Ungleichheit und die ungerechte Einkommensverteilung noch weiter.

Die Stadt, von der man glaubte, dass sie nicht aufhören könnte zu wachsen, wies in den 80er Jahren noch eine jährliche Migration von 1% auf.

Die 80er Jahre führten zu einer Desillusionierung, der Glaube an wirtschaftliche Entwicklung und Modernisierung ging verloren, sozialer Verfall setzte ein. Es herrschte eine grosse Unsicherheit in bezug auf die Zukunft, die eigene soziale Stellung und die sozialen Aufstiegschancen  (Caldeira 1992:39).

In diesem Kontext der Unsicherheit, Instabilität, Hyperinflation und Verarmung verlieren bisherige Konzepte und Orientierungspunkte ihre Bedeutung, ein Moral- und Wertewandel setzt ein, und in der Folge nimmt die Kriminalität stark zu.

Der Fall von Präsident Collor 1992 zeigte der brasilianischen Öffentlichkeit zudem das Ausmass der Korruption und Vetternwirtschaft auf höchster Regierungsebene auf. Collor, der 1989 angetreten war, um Wirtschaftsreformen durchzuführen, kassierte direkt und indirekt Schmiergeldzahlungen, damit bestimmte Geschäftsleute mit dem öffentlichen Sektor Geschäfte machen dürfen. Dieser Skandal führte 1992 zu seinem Rücktritt (Page 1995:121f).

Allgemein dient die Diskreditierung der politischen Akteure, die sich auf Staatskosten persönlich bereichern, der Mehrheit der Bevölkerung auch als Ausrede, um ebenfalls Gesetze zu missachten oder Steuern zu hinterziehen (Pinheiro 1996:269).

 

 

2.4. Umweltprobleme

 

Die Entwicklung São Paulos wurde im 20. Jahrhundert geprägt von einer starken Industrialisierung und einem explosive Bevölkerungswachstum. Die Investitionen im öffentlichen Bereich, beim Wohnungsbau und im Transportwesen blieben deshalb weitgehend aus oder wurden in einem viel zu geringem Masse umgesetzt; Umweltschutzprobleme wurden dabei vernachlässigt.

Über die öffentlichen Gelder wird nicht auf lokaler Ebene bestimmt. Deshalb sinkt das Interesse der Bevölkerung an der lokalen Entwicklungspolitik, was wiederum zu einer verstärkten Zentralisierung der Entscheidungen führt.

Der Graben, der zwischen der Wirtschafts- und Sozialpolitik und den Bedürfnissen der Bevölkerung besteht, führt bei der Bevölkerung zu Skepsis und Zynismus, die demokratische Kontrolle der Politik durch das Volk hat an Gewicht verloren. Die Politik wird autokratischer und zugleich nimmt die Fähigkeit zu regieren ab.

Während dem Militärregime wurden die Autopreise gesenkt und mit dem Ausbau der Strassen der Individualverkehr gefördert. Dies führte in der Folge zu einem starken Anstieg des Autoverkehrs, zu alltäglichen Staus auf den Strassen, zu erhöhter Luftverschmutzung und dadurch zu einer Verminderung der Lebensqualität. Der öffentliche Verkehr mit seinen 8500 Bussen spielt im Vergleich zu den 4 Millionen Autos eine untergeordnete Rolle. Die U-Bahn ist nur 42 Kilometer lang, verglichen mit 10'000 Kilometern Strasse.

Deshalb werden auch immer mehr Autos gekauft, was die Situation weiter verschlimmert; die Durchschnittsgeschwindigkeit auf den Strassen beträgt gerade noch 12 Kilometer pro Stunde!

 

 

                            Quelle: O Estado de São Paulo 25.5.2001

 

Abendverkehr auf der Stadtautobahn

 

Der Individualverkehr stieg innert zehn Jahren um 5% auf 43,1% (1987), während der Anteil der öffentlichen Busse um über 10% zurückging auf 42,7%. Das Busnetz wurde 1994 privatisiert (Novy in Feldbauer 1997:274).

 

Die städtische Politik kümmert sich zuwenig um ökologische und soziale Probleme; zudem ist zuwenig Problembewusstsein vorhanden, um Stadtverwaltung und –planung bürgernahe zu gestalten. Die staatlichen Angestellten wurden dazu trainiert, den Reichen zu dienen und die Armen zu kontrollieren (Dowbor 1992:4).

Dies wirkt sich in den einzelnen Wohngebieten auch auf die Ausstattung mit der notwendigen Infrastruktur aus. Die städtische Infrastruktur ist in Wohngebieten der Mittel- und Oberschicht häufiger vorhanden und qualitativ besser als in den armen Gegenden.

 

Einerseits wird die Lebensqualität durch Lärm, Abgase, schlechtes Wasser und Umweltverschmutzung beeinträchtigt, andererseits ist die städtische Infrastruktur besser als auf dem Lande; fast alle Einwohner verfügen über elektrischen Strom, über 90% der Bevölkerung hat einen Wasseranschluss und die Müllabfuhr erfasst 65% São Paulos (Novy in Feldbauer 1997:273).

In São Paulo werden täglich 12‘000 Tonnen Abfall eingesammelt, viele Mülldeponien sind übervoll, die Auswirkungen auf das Grundwasser und die lokale Bevölkerung werden nicht untersucht. Neue Deponien ausserhalb der Stadtgrenzen bedeuten aber auch erhöhte Kosten; bereits jetzt werden monatlich 12 Millionen Dollar für die Müllbeseitigung ausgegeben (Dowbor 1992:3).

 

 

Da São Paulo nicht über eine metropolitane Regierungsinstanz verfügt, haben sich folgende Schwierigkeiten bei der Stadtentwicklung ergeben:

-                     das Fehlen oder Fehlschlagen von Leitlinien und Direktiven zur Stadtplanung führte dazu, dass jede Kommune ihre eigenen Prioritäten bei Investitionsentscheiden und Aktivitäten setzt;

-                     wenn sich politische Wechsel ergeben, werden Vorhaben der politischen Vorgänger über den Haufen geworfen, was zu einer permanenten Frustration in der Bevölkerung führt (Barreto 1999:22).

-                     Programme zur Aufwertung von Quartieren und der Legalisierung von Siedlungen werden nur punktuell umgesetzt; es gibt keine längerfristigen Strategien.

-                     Die öffentlichen Unternehmen im Transport-, Elektrizitäts- und Bauwesen entwickeln ihre Programme unabhängig von sozialen Interessen, was mit der Privatisierung wohl nicht besser werden dürfte (Barreto 1999:22).

 

 

                                Quelle: O Estado de São Paulo  27.5.2001

 

zunehmende Verstädterung (in rot),

zurückgedrängte Waldfläche (in dunkelgrün)

 

Für Interessen, die über die Grenzen der einzelnen Kommune hinausgehen, wie zum Beispiel der öffentliche Verkehr, der Umweltschutz oder der Sozialwohnungsbau, gibt es keine effiziente Organisation, die sich dieser annimmt; der Bundesstaat São Paulo ist dazu nur beschränkt fähig. Die Regel ist eher die Konkurrenz unter den staatlichen Organisationen und das Bündnis mit nichtstaatlichen Akteuren. Die schwerfällige Bürokratie ist zu stark zentralisiert, ungenügend ausgebildet und reagiert nur langsam auf wichtige Anliegen (Barreto 1999:21ff). Ohne eine neue administrative Kultur können die grossen städtischen Probleme kaum erfolgreich bewältigt werden.

 

2.5. Weltstadt und Weltmarkt

 

Präsident Cardoso beschrieb die Globalisierung als unausweichlich, ebenso die negativen Seiten, die sie mit sich bringt. Der Nationalstaat verliert an Bedeutung und die Führer der peripheren Länder befinden sich im Wettstreit um Investitionsgelder und unterwerfen sich dem internationalen Finanzmarkt. Dadurch kann ein neuer Reichtum entstehen, gleichzeitig wird aber die Anzahl der von dieser Entwicklung abgehängten und in Elend lebenden Menschen zu (Freire-Medeiros 1997:797).

Der Prozess der Globalisierung wird hierbei verstanden als internationaler Verflechtungsprozess von Kapital, Arbeitsmärkten, Handel, Verkehr und Kommunikation (Bronger in Feldbauer 1997:51).

Früher waren Regionen über die Städte miteinander verbunden; die Städte waren weltweit vernetzte Kontrollzentren in einem regionalen Kontext. Mit der Globalisierung hat sich aber eine relative Loslösung der Städte von den sie umgebenden Regionen und gleichzeitig eine engere Verbindung untereinander ergeben. Dabei wird die Position solcher Städte im natinoalen Kontext gestärkt, denn die globalen Informationsflüsse brauchen eine umfassende Infrastruktur zur Kontrolle und Verarbeitung (Sassen in Hitz 1995:47f).

In den Städten werden weltweite Beziehungen verstärkt zu einem globalen Stadtsystem. Es ergibt sich dabei aber keine neue globale Hierarchie, sondern es besteht ein Nebeneinander verschiedener Ordnungen und Vergemeinschaftungsformen.

Die Globalisierung gründet einerseits auf neuen Transport- und Informationstechnologien, andererseits sind die Transformationen in der Industrieproduktion eng an die Internationalisierung der Kapitalmärkte gekoppelt.

Erst die beginnende Transnationalisierung der Wirtschaft hat somit eine Situation der globalen Konkurrenz überhaupt ermöglicht. Hierbei spielen nun die Weltstädte eine entscheidende Rolle als Orte, wo Aktivitäten, Funktionen und Informationen konzentriert und wo transnationale Akteure miteinander verbunden sind.

Städte, die aufgrund ihres ökonomischen und technologischen Wandels an Bedeutung gewannen, sind auch Zentren der Migration geworden. Es lässt sich über grosse Entfernungen hinweg eine quantitative Zunahme an Migrationsbewegungen feststellen; dies betrifft sowohl die hohen Einkommensgruppen als auch die Armutsmigranten.

In der Folge führt dies in den Weltstädten zu einer kulturellen Diversifizierung, zu einer Koexistenz verschiedener Kulturen im städtischen Kontext. Durch die starke Verbreitung der Massenmedien in den Weltstädten kommt zur realen Koexistenz auch noch eine virtuelle Koexistenz der verschiedenen Kulturen hinzu (Korff in Feldbauer 1997:25). Die Globalisierung der Kultur führt dazu, dass Waren, Informationen und Symbole, losgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext, mit unterschiedlichsten Konnotationen und neuen Bedeutungen ausgestattet werden.

Es ergibt sich daraus einerseits eine selektive globale Integration in eine internationale Gesellschaft und andererseits eine lokale Abgrenzung, die der eigenen Identitätsfindung dient, sowie eine Fragmentierung sozialer und kultureller Grenzen innerhalb der Stadt. Fragmentierung bedeutet, dass die Stadtbewohner wenig gemein haben und in Anonymität und gegenseitiger Ignoranz leben (Korff in Feldbauer 1997:33).

Globalisierung bedeutet somit keine Integration der gesamten Erde in ein Weltsystem, sondern eine globale Verknüpfung von verschiedenen Netzwerken, die nebeneinander existieren. Städte sind dabei die Knotenpunkte und Kontrollzentren einer vernetzten globalen Gesellschaft. Gerade im Bereich der Integration liegt das Konfliktpotential der modernen städtischen Gesellschaft.

 

Im Zuge der Globalisierung hat sich der Trend hin zu einer Konzentration des tertiären Sektors in den Zentren der Städte verstärkt. In den Innenstädten siedeln sich neben Verwaltung, Dienstleistungsbetrieben und Handel auch die Zentralen und das Management der Unternehmen an. Damit geht auch die Ausweitung der Niedriglohnarbeit und des informellen Sektors einher (Kipfer/Keil in Hitz 1995:82). Die unterschiedlichen Gruppen konkurrieren im städtischen Raum um Zugang zu Arbeitsplätzen und zunehmend teurerem Wohnraum. Die soziale Polarisierung wird durch die Globalisierung in den Weltstädten zusehends verstärkt.

 

Das Kriterium der Einwohnerzahl ist für die Definition einer Weltstadt nicht von entscheidender Bedeutung; andere qualitative Wirtschaftsfaktoren spielen dabei eine entscheidendere Rolle. Allerdings gibt es in der Literatur keine Einigkeit und keine befriedigende Lösung der Definition einer Weltstadt.

Bronger (in Feldbauer 1997:37) definiert eine Metropole als eine Stadt mit mehr als 1 Million Einwohnern, und eine Megastadt als eine Stadt mit mehr als 5 Millionen Einwohnern. Den Unterschied zwischen einer Megastadt in einem Industrieland und einem Entwicklungsland liegt im Ausmass ihrer funktionalen Vorherrschaft im eigenen Land. Diese ‚funktionale Primacy‘ ist in den Megastädten und Metropolen der dritten Welt viel ausgeprägter als in den Megastädten der Industrieländer; zudem ist das Qualitätsgefälle von Einrichtungen im Gesundheits- und Bildungswesen zwischen Stadt und Peripherie in den Entwicklungsländern viel grösser. Verstärkt wird die funktionale Hegemonie der Megastädte der Entwicklungsländer noch dadurch, dass ein Grossteil der internationalen Konzerne, Banken und Organisationen ihre Aktivitäten in diesen Megastädten konzentrieren.

 

Für die Forscher der Chicago School of Sociology ging es darum, den Einfluss räumlicher Faktoren auf die städtische Sozialorganisation herauszufinden; die Grossstadt galt als ein heterogenes, weitgehend strukturloses Gesamtgebilde, das durch entremdete, zweckgebundene Beziehungen seiner Bewohner gekennzeichnet ist. Weltstädte wurden als  nationale Zentren von Wirtschaft und Politik verstanden. Wirths Definition der Stadt aus den dreissiger Jahren anhand der drei Kriterien Grösse, Dichte und Heterogenität vermag der heutigen Komplexität städtischer Phänomene nicht mehr gerecht zu werden; auch das von Redfield in den vierziger Jahren vorgelegte Konzept eines Kontinuums zwischen städtischer und ländlicher Gesellschaft belässt es bei der Untersuchung von Problemen und Prozessen auf der lokalen Ebene (Kokot 1990:3f). Obwohl die Untersuchung der gesellschaftlichen Mikroebene weiterhin eine Stärke des ethnologischen Ansatzes ist, nimmt die Bedeutung von Erklärungen auf der Makroebene für die Stadtforschung weiter zu.

Deshalb setzt Clark ganz auf wirtschaftliche Faktoren um eine Weltstadt von einer anderen Grossstadt zu unterscheiden. In Weltstädten sind die  Schlüsselpersonen, -institutionen und -organisationen ansässig, die den Kapitalismus weltweit managen, manipulieren und diktieren. Aus diesem Grunde sind solche Städte von herausragender Bedeutung, was Status und Macht anbelangt, dass sie die Bezeichnung ‚Weltstädte‘ verdienen (Clark 1996:137). Die Funktion dieser Städte ist das wichtigere Kriterium als ihre Grösse.

Die Entscheidungs- und Kontrollfunktion dieser Städte zeigt sich anhand der Geschäftsaktivitäten in solchen Städten. Diese umfassen Unternehmensmanagement, Bankgeschäfte, Anwaltskanzleien, Beratungsfirmen, Telekommunikation, internationaler Transport, Forschung und Hochschulbildung. Was die Weltstädte von anderen Grossstädten unterscheidet ist, dass diese Dienstleistungen sehr häufig auf den Weltmarkt ausgerichtet sind und nicht auf den einheimischen Markt.

 

In den Weltstädten konzentrieren sich die Hauptquartiere der global tätigen Unternehmen. Dort fliessen Informationen und Daten zusammen, dort werden diese kontrolliert und weitergeleitet. Diese Befehls- und Koordinationsfunktion ist gerade durch die Entwicklung in der Telematik noch verstärkt worden. Einst separate und weit verstreute Aktivitäten können jetzt funktional integriert und konzentriert werden. Die bisherigen verzögernden Konstanten von Zeit und Raum können viel leichter überwunden werden. Das globale Netzwerk der Wirtschaft ist den Fortschritten in der Telematik zu verdanken, die Funktion und Bedeutung der Weltstädte ist dadurch noch verstärkt worden. Dementsprechend stehen Neuerungen im Telematikbereich auch zuerst in den Weltstädten zur Verfügung bevor sie ihre weitere Ausdehnung erfahren.

 

Weltstädte sind auch wichtige Zentren für internationale Organisationen und Verwaltungen, sowie der Ort, wo internationale Kongresse und Konferenzen abgehalten werden. Die Wichtigkeit und Besonderheit dieser Aktivitäten zeigt sich auch in der architektonischen Gestaltung von Büro- und Kongressgebäuden.

Die Präsenz solcher Funktionen und Institutionen macht die Weltstädte einander ähnlich; sie haben mehr miteinander gemeinsam als mit anderen städtischen Zentren im eigenen Land (Freire-Medeiros 1997:799f).

Ihre Stärke und Verbindung zeigt sich auch darin, dass diese Städte für den Reisenden untereinander leichter zu erreichen sind als weniger bedeutende Zentren im eigenen oder im Nachbarland. Die starke Transportanbindung zeigt sich zum Beispiel darin, dass es zwischen den Weltstädten mehr Flüge gibt als zu den jeweiligen regionalen Zentren.

 

Die Anzahl der Städte, die von globaler Bedeutung sind, variiert je nachdem, welche Kriterien verwendet werden.

Wenn man wie Friedman (in Clark 1996:140) eine hierarchische Liste von Städten zusammenstellt, gewichtet vor allem nach wirtschaftlichen Faktoren, oder wie Feagin & Smith  (in Clark 1996:147ff) nach der Anzahl transnationaler Unternehmen, dann zeigt sich eine Vorherrschaft von New York, London und Tokyo. Was eine Weltstadt ausmacht, ist also nicht nur ihre Grösse, sondern vor allem die Konzentration wirtschaftlicher Entscheidungs- und Kontrollmacht.

New York ist der zentrale Ort besonders vieler transnationaler Unternehmen, sowie das Zentrum der globalen politischen Macht. Zudem wird von hier aus ein ansehnlicher Teil der globalen Produktion und des globalen Verbrauchs kontrolliert.

London ist eine Weltstadt wegen der starken Rolle als Anbieter von Dienstleistungen im Finanzbereich und für Unternehmen; diese Position hat sich aus der Rolle als zentrale Drehscheibe für das britische Empire ergeben.

Tokyo hat sich seinen Status als Weltstadt zum grossen Teil selbst geschaffen, durch die Stärke der japanischen Wirtschaft und durch die Vormachtsstellung im einheimischen Markt.

Die Definition anhand der Wirtschaftsfaktoren ist jedoch nicht völlig befriedigend; die Bedeutung und das Ausmass der Macht, die von den Weltstädten ausgeht, wird leicht überschätzt, denn sie selbst werden auch von globaler Wirtschaft und Politik beeinflusst. Dies lässt die Frage offen, inwieweit die heutige Welt als wirtschaftliches und städtisches System zusammenhängt und inwiefern dieses System von ein paar kapitalistischen Knotenpunkten dominiert wird (Clark 1996:142). Es gibt noch immer viele Länder und Gebiete gibt, deren Wirtschaftssystem nicht oder nur marginal in die Weltwirtschaft eingebunden ist. 

Obwohl die wirtschaftliche Verflechtung noch nicht den gesamtenn Globus umspannt, bin ich der Meinung, dass man dennoch bei einigen Städten wohl zurecht von Global Cities spricht, zum einen wegen der Zunahme der Grösse und Bandbreite des globalen Finanzkapitals und seiner Konzentration an wenigen Orten, zum andern wegen der weltweiten Erreichbarkeit dank moderner Transport- und Telekommunikations-systemen.

 

Bronger (in Feldbauer 1997:55ff) versucht mit einer Kombination verschiedener Faktoren eine breiter abgestützte Rangliste der Weltstädte zu erreichen. Seine Indikatoren beinhalten die Hauptsitze der 500 grössten transnationalen Unternehmen, die Hauptverwaltungen der 50 grössten Banken, die grössten Börsen, das Verkehrsaufkommen der internationalen Flughäfen, die führenden Seehäfen und die Anzahl Sitze bedeutender internationaler Institutionen in einer Stadt.

Auf den ersten Rängen finden wir Tokyo, New York, London und Paris, mit Abstand folgen Osaka, Frankfurt, Chicago und Los Angeles. Dass sich in den ‚Top 30‘ nur Städte der Industrieländer wiederfinden, legt die Schlussfolgerung nahe, dass die Megastädte der Entwicklungsländer im Globalisierungsprozess lediglich als Produktionszentren fungieren und dass sich ihre Verteilungsfunktion auf die nationale Ebene beschränkt. Dies gilt auch für Städte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern wie Buenos Aires, Mexico City, Kairo, Manila, São Paulo, Jakarta, Bombay und Kalkutta. Keine dieser Städte ist also eine Global City, da sie alle nur eine dominante Stellung im nationalen oder regionalen Einflussbereich innehaben. Darin liegt auch der Unterschied zu den Metropolen der ersten Welt, denn in diesen sind die Hauptquartiere transnationaler Konzerne, Banken und Organisationen angesiedelt.

 

Die zunehmende Komplexität und Diversifizierung in den Megastädten der dritten Welt ist auch ein Ausdruck ihrer steigenden Einbindung in die globale Hierarchie der Megastädte.

Damit geht auch eine Internationalisierung der Gesellschaft und der Kultur in den Megastädten einher. Die Einbindung einer Stadt in die globale Wirtschaft und Gesellschaft erfolgt aber nie vollständig; nicht die Stadt, ihre Bevölkerung und Wirtschaft als Ganzes werden erfasst, sondern nur ganz bestimmte räumliche, soziale und wirtschaftliche Teile davon. Dies führt zu einer zunehmenden sozialen Polarisierung innerhalb der Megastädte; auf der einen Seite gibt es eine gutausgebildete, mobile und hochbezahlte Elite, die kosmopolitisch ausgerichtet ist, auf der anderen Seite gibt es eine schlecht ausgebildete und schlecht bezahlte Arbeiterklasse. Diese Bevölkerungsgruppe setzt sich zu einem beachtlichen Teil aus MigrantInnen zusammen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Städte gezogen sind. Weil diese Zuwanderung sehr stark ist, vermag die staatliche und städtische Politik kaum den Anforderungen im Bereich der Infrastruktur- und Sozialpolitik gerecht zu werden; dies auch deshalb nicht, weil die Ausrichtung der Stadtpolitik immer stärker an den Bedürfnissen der konsumorientierten Oberschicht und den Interessen der ökonomischen Wachstumsbranchen orientiert ist.

Auch in den peripheren Megastädten sind die lokalen Eliten wegen der zunehmenden Weltmarktintegration einer Internationalisierung unterworfen; mit ihrer zunehmenden Beteiligung am Weltmarkt erfolgt ihre Orientierung zusehends an diesem. In der Folge sinkt das Interesse an einer umfassenden Stadtpolitik und den sozialen Bedürfnissen eines Grossteils der städtischen BewohnerInnen wird kaum Rechnung getragen, beispielsweise mit der Vernachlässigung des öffentlichen Verkehrs.

Lopes de Souza (1993:115) sieht in den Merkmalen der Unterentwicklung - Mangel an Geldressourcen, Fehlplanungen, falsche Prioritätensetzung - das hauptsächliche Problem der Stadtverwaltungen, um mit den Problemen, die eine gewaltige und schnelle Migration in die Städte mit sich bringt, klarzukommen.

Auch Korruption und Ineffizienz der Verwaltung, sowie die schlecht geregelte Verteilung der Macht und Kompetenzen zwischen Staat, Bundesstaat und Stadtverwaltung ihren Teil dazu bei, die Lösung städtischer Probleme zu verzögern.

 

Wichtig ist festzuhalten, dass die Armut in den Grossstädten der sogenannten dritten Welt sowohl quantitativ als auch qualitativ viel grösser ist als in Städten der ersten Welt. Der Befriedigungsgrad der grundlegenden Bedürfnisse (wie Nahrung, Wohnung, Kleidung, sanitäre Einrichtungen) ist ungleich geringer, der Mangel ungleich grösser. Auch der Befriedigung der nichtmateriellen Grundbedürfnisse (wie gute Arbeitsbedingungen, Freizeit, soziale Sicherheit, persönliche Freiheiten) stehen ungleich grössere Schwierigkeiten gegenüber als in der ersten Welt (Lopes de Souza 1993:30f).

Die Schaffung von Arbeitsplätzen kann mit der starken Zuwanderung nicht Schritt halten. Die armen MigrantenInnen bleiben auch in der Stadt marginalisiert, wenn sie keine Arbeit finden. Wegen der starken Nachfrage nach Arbeitsplätzen können die Löhne von den Arbeitgebern niedrig gehalten werden, denn es steht immer eine Reservearmee an potentiellen Arbeitskräften zur Verfügung. Trotzdem sind die Arbeitsplätze und Lebensbedingungen in den Grossstädten im allgemeinen besser als auf dem Lande. Viele der Zugewanderten können aber aus strukturellen Gründen gar nicht vom industriellen Sektor absorbiert werden und bleiben dysfunktional für das kapitalistische System (Lopes de Souza 1993:71). Die Folgen davon sind Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Kriminalität.

Andererseits snd die modernen Industrien ihrerseits auch abhängig von ausländischen Investitionen und kapitalintensiven Technologien und angewiesen auf gutausgebildete ArbeiterInnen.

 

Lopes de Souza (1993:41) bezeichnet die Segregation als das durchdringendste Merkmal der heutigen Verstädterung, nämlich die Segregation von ethnischen Minderheiten, von Einkommensgruppen, im Bereich der Landnutzung und der persönlichen Aktivitäten. Die Stadt selbst wird, wie Wirth sie beschrieben hat (in Kokot 1990:3), geprägt von Oberflächlichkeit und Anonymität, die städtischen sozialen Beziehungen haben vorübergehenden Charakter. Es entstehen in der Stadt räumlich getrennte und kulturell homogene Viertel, die als funktionale, aber separate Bestandteile der Stadt angesehen werden.

Bronger (in Feldbauer 1997:58) spricht deshalb von ‚Zitadelle und Ghetto‘. Der Zitadelle entsprechen die Pracht- und Luxusbauten der Stadt; es sind dies die entstehenden internationalen Räume, wie Hotels, Bürohochhäuser, Appartementhäuser, Kongresszentren, die Teile einer globalen Gesellschaft sind; Wohngebiete werden gentrifiziert, das bedeutet, dass durch eine entsprechende Bau- und Mietpreispolitik die ärmere Bevölkerung vertrieben wird und die Wohnviertel dadurch für die vermögende Mittel- und Oberschicht homogenisiert werden. Dem Ghetto entsprechen die verarmten, marginalisierten Bevölkerungsschichten, deren Wohnviertel oft, obwohl zentral gelegen, kaum in die übrige Stadt integriert sind und die zu einem gewissen Grad dysfunktional für die Wirtschaft und gesellschaftlich abgekoppelt von der übrigen Stadt sein können.

 

Obwohl São Paulo als semiperiphere Metropole (Friedman in Clark 1996:140) für den südamerikanischen Raum von überregionaler Bedeutung ist, bleibt die brasilianische Wirtschaft insgesamt stark vom Weltmarkt abhängig.

Bis in die siebziger Jahre setzte sich das Wachstum an der Peripherie São Paulos ungebrochen fort, erst dann waren die Nachteile des Lebens in der Agglomeration so gross, dass das Landesinnere wieder an Bedeutung gewann. Novy spricht in diesem Zusammenhang von einer Polarisationsumkehr, von einer Dekonzentration im Zentrum São Paulos, und einer zunehmenden Einbindung und Entwicklung der umliegenden Gebiete (Novy in Feldbauer 1997:275f).

Nachdem die Industrieproduktion São Paulos bis in die sechziger Jahre stark ausgebaut wurde, erfolgte seit den 70er Jahren eine industrielle Dezentralisierung. Der Anteil an der brasilianischen Industrieproduktion sank in der Stadt São Paulo zwischen 1970 und 1984 von 28% auf 18,6%, während sie im gleichen Zeitraum im Landesinneren von 14,7% auf 19,8% gestiegen war. Von dieser Entwicklung profitierten vor allem die Mittel- und Grossstädte im Umkreis von 150 Kilometern um São Paulo; sie weisen überdurchschnittliche Wachstumsraten von Bevölkerung und Produktion auf. Der verstädterte Bereich hat sich entlang der Verkehrsachsen in Richtung Osten nach Rio de Janeiro und in Richtung Norden über Jundiaí und Campinas nach Brasília im Landesinneren ausgedehnt und wurde dabei von staatlicher Seite stark gefördert und profitierte von der Zusammenarbeit von Forschung und Industrie sowie einer geringeren Umweltbelastung (Novy in Feldbauer 1997:275f).

In der Region São Paulo hat der Anteil der im sekundären Sektor beschäftigten von 32,8% 1985 auf 25,3% 1994 abgenommen, während der tertiäre Sektor seinen Anteil von 48,9% 1985 auf 54,1% 1994 steigern konnte. In São Paulos Industrie gingen zwischen 1985 und 1993 über 300‘000 Arbeitsplätze verloren. Der aufstrebende Dienstleistungssektor konnte diesen Verlust nur teilweise auffangen. Das Heer der Arbeitslosen als Reservoir für Niedriglohnarbeiten hat indessen weiter zugenommen, die Arbeitslosenrate liegt 1994 bei 12,6%; nach Schätzungen arbeiten rund 800'000 Menschen im informellen Sektor (Kohlhepp 1997:14).

 

Während der Anteil an der nationalen Produktion in São Paulo zwischen 1970 und 1990 leicht zurückging, hat sich der Anteil der umliegenden Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina, Paraná und Minas Gerais von 32% auf 51% gesteigert. Es lässt sich also in der Region São Paulo eine gewisse Dekonzentration feststellen, die auf nationaler Ebene aber zugenommen hat und die, im Rahmen des südamerikanischen Wirtschaftsraumes Mercosur weiter zunehmen wird und dabei eine Reihe von Städten von Belo Horizonte, Rio de Janeiro über São Paulo und Porto Alegre bis nach Montevideo und Buenos Aires erreicht (Novy in Feldbauer 1997:277). Dieser Grossraum ist das wirtschaftliche Zentrum Südamerikas und insbesondere durch die neuen Formen der globalen Arbeitsteilung in die Weltwirtschaft eingebunden.

Nach dem Vorbild der Europäischen Union soll im Mercosur durch den Abbau von Zöllen und die Schaffung eines gemeinsamen Marktes Handel und Wirtschaft angekurbelt werden. In einem weiteren Schritt sollen auch technische Normen und Regulierungen angepasst werden; danach ist geplant, die volle Freizügigkeit von Dienstleistungen, Kapital, Personen und Arbeit zu verwirklichen und eine gemeinsame Aussenwirtschaftspolitik zu gestalten. Diese Entwicklung ist angesichts der unterschiedlichen Politik und der verschiedenen Interessen der beteiligten Länder in unabsehbare Ferne gerückt.

Was das Handelsvolumen angeht, so ist der Mercosur erfolgreich. Brasiliens Exporte haben von 1990 bis 1996 um 453% zugenommen; der Staat São Paulo allein kam für 54% dieses Volumens auf. Dies zeigt die Bedeutung São Paulos für den südamerikanischen Wirtschaftsraum.

Der Anteil der Exporte in den Mercosur macht 24% der Gesamtexporte São Paulos aus. Der Mercosur ist damit der wichtigste Handelspartner São Paulos.

Die Metropolitanregion São Paulo ist nicht nur der grösste Markt im Mercosur, sondern auch der Ort, wo die wichtigen Entscheide gefällt werden. Einige Zahlen sollen dies verdeutlichen: 16 der 20 grössten Banken des Landes haben ihren Hauptsitz in São Paulo, 7 der 8 grössten Medienunternehmen haben ihre Zentrale in São Paulo; 38% der grössten brasilianischen Privatunternehmen und 63% der internationalen Unternehmen haben ihre Hauptquartiere in São Paulo.

Diese Wirtschaftsmacht bietet eine gute Ausgangslage, um die Bedeutung São Paulos im südamerikanischen Raum weiter zu festigen und auszubauen.

 

 

 

 

3. Stadtplanung

 

 

Der städtische Raum und das soziale Leben von 1890 bis 1940 waren geprägt von Heterogenität.

Die Einwanderungspolitik bevorzugte gut ausgebildete, europäische Migranten, die in den neu errichteten Fabriken Arbeit fanden; damit wurde auch das Ziel verfolgt, die ehemaligen schwarzen Sklaven zu ersetzen und die Bevölkerung ‚weisser’ zu machen.

Der Höhepunkt der Einwanderung war 1893 erreicht, als 55% der Bewohner São Paulos aus dem Ausland stammten, danach ging die Einwanderung wieder etwas zurück. 1920 waren noch 36% der Bevölkerung im Ausland geboren.

In der letzten Dekade des 19.Jahrhunderts nahm die Bevölkerung São Paulo jährlich um 13,9% zu, aber der städtische Raum expandierte nicht in gleichem Masse.

Dominierten in der vor 1890 ruhigen Stadt vor allem Finanz- und Dienstleistungsbetriebe, die mit der Kaffeeproduktion in Zusammenhang standen, so führte die Industrialisierung zu einem chaotischen städtischen Raum. Es wurde viel gebaut, vor allem neue Fabriken und Wohnunterkünfte für die neuen Arbeiter. Fabriken, Wohnhäuser und Geschäfte waren alle nahe beieinander.

 

 

                                Quelle: FAU USP 1996

 

Villa in Higienópolis

 

Die soziale Segregation liess sich damals an der Wohnform erkennen: die Kaffeebarone und Industriellen wohnten in eigenen Villen und Häusern während die meisten Arbeiter in prekären Verhältnissen in den Mietskasernen (cortiços) wohnten. Reiheneinfamilienhäuser, meist von den Fabriken für ihr gutausgebildetes Personal gebaut, konnten sich nur sehr gut bezahlte Arbeiter leisten.

 

In einer so dicht zusammengedrängten Stadt waren die bessergestellten Schichten besorgt darum, soziale Unterschiede deutlich zu machen und die ärmere Bevölkerung zu kontrollieren. Dies geschah mit einer Diskussion über die schlechten sanitären Zustände in den Mietskasernen, assoziiert mit Unmoral und Kriminalität.

Die Oberschicht begann deshalb aus dem engen Raum des Zentrums wegzuziehen in ein neues Viertel, Higienópolis, wo sie unter sich bleiben konnten.

 

                                                                     Quelle: Ferraz de Lima 1997:48

 

Av. Higienópolis

 

Gleichzeitig wurden Massnahmen ergriffen, um die  Bevölkerungsdichte im Zentrum zu verrringern und die schlechten sanitären Zustände zu verbessern. Den sozialen Spannungen im chaotischen Zentrum sollte mit Reinheit, Öffnung und Zerstreuung begegnet werden.

 

Im Zentrum fand deshalb eine eigentliche Haussmannisierung statt: Häuser wurden modernisiert, grosse Aveniden wurden gebaut und saubere Wohnviertel entstanden (Sennett 1994); die Innenstadt wurde dadurch aufgewertet.

 

Quelle: Ferraz de Lima 1997:41

 

     Teatro Municipal 1910                                   Teatro Municipal 2001

 

BettlerInnen, StassenverkäuferInnen, MieterInnen und Prostituierte wurden vertrieben. Diese Modernisierung und Säuberung der Innenstadt wurde gegen den Willen der Arbeiter durchgeführt. Den deshalb aufkommenden sozialen Spannungen begegnete die Stadt mit einer Politik der Peripherisierung. Um das historische Zentrum herum entstanden Wohnviertel für die Mittelschicht und gross angelegte Durchgangsstrassen.

 

 

         

    Quelle: FAU USP 1996:42                                                          Quelle: FAU USP 1996:42

 

Zentrum 1935                                                 Zentrum 1950

 

Anstelle des kostenintensiven Strassenbahnnetzes, dessen Reichweite begrenzt war, wurde in den 30er Jahren ein Bussystem eingeführt; damit konnte die städtische Expansion vorangetrieben werden. Ohne diese Neuerung wäre die Vertreibung der Arbeiter aus dem Zentrum nur schwer denkbar gewesen, so aber bedeutete diese Entwicklung für die Arbeiter, dass ihr täglicher Weg zur Arbeit in die zentrumsnahen Fabriken länger wurde.

 

Rua Augusta 1968

 

Der an der Peripherie geschaffene Wohnraum diente also dazu die Wohnungsprobleme im Zentrum zu beheben und sozialen Spannungen vorzubeugen. Die Peripherie wird dabei negativ definiert, als Nicht-Zentrum, als Nicht-Vorhandensein von Infrastruktureinrichtungen, Schulen, Verkehrsmitteln und Freizeitangeboten.

Mit der Umsiedlung der Arbeiter in ländliche Randgebiete dehnte sich die Stadt immer mehr nach allen Seiten aus und die unteren Schichten wurden marginalisiert.

 

                                Quelle FAU USP 1996:45

 

Wohnblock, 40er Jahre

 

Die herrschende Klasse war aber auch daran interessiert, dass die Kaufkraft der Arbeiterschicht zunimmt, deshalb wurde der Hausbesitz als erstrebenswert propagiert, (weil damit keine Mietzinsen mehr anfallen) und staatlich gefördert. Grossen Einfluss darauf hatte das von Präsident Vargas 1941 eingeführte Mietergesetz (lei do inquilinato), welches alle Mietzinssätze einfrohr und damit den Bau von Mietwohnungen unattraktiv machte; dies führte zu einer akuten Verknappung der verfügbaren Mietwohnungen, und somit zu einem Exodus der Arbeiterklasse an die Peripherie, wo sie ihr eigenes Haus bauen sollten.

Damit wurde das bisherige Gesicht der Stadt radikal geändert und die soziale Segregation neu durch grosse Distanzen zwischen Reichen und Armen ausgedrückt. Es lassen sich vier Charakteristiken dieser neuen Struktur erkennen:

-                     Die Wohnfläche ist nicht mehr dicht konzentriert, sondern weit verstreut. Die Bevölkerugsdichte fiel von 110 Einwohner/Hektar im Jahre 1914 auf 24,5 Einwohner/Hektar 1960.

-                     Die Mittel- und Oberschichten lebten in zentral gelegenen, gut ausgestatteten Vierteln; die Armen lebten in der Peripherie

-                     Arme und Reiche besassen in der Regel ihr eigenes Haus

-                     Das städtische Transportsystem setzte auf Busse für die Arbeiterklassen, während die Mittel- und Oberschicht das Auto benützte (Caldeira 1992:234).

 

 

                                      Quelle: Ferraz de Lima 1997:170

 

Vale do Anhangabaú 1953

 

 

Dieses städtische Muster etablierte sich zur selben Zeit als São Paulo zum industriellen Zentrum Brasiliens wurde und neue, moderne Industrien (wie zum Beispiel die Autoindustrie) sich niederliessen. Damit verbunden war eine neue Welle der Migration, vor allem aus dem Nordosten Brasiliens.

 

Der Anteil der Stadtbevölkerung im Bundesstaat São Paulo hat von 1920 (12.6%) bis 1970 (33,3%) kontinuierlich zugenommen und ist erst in den 80er Jahren wieder leicht gesunken. Innerhalb der Stadt São Paulo hat sich das Bevölkerungswachstum vom Zentrum hin zur Peripherie verschoben; insgesamt schwächt sich das Wachstum ab.

 

Das wirtschaftliche Wachstum und die starke Bevölkerungszunahme führten dazu, dass in den peripheren Gebieten in den Bereichen Häuserbau, öffentlicher Verkehr und öffentliche Einrichtungen praktisch keine Investitionen getätigt wurden.

Bodenspekulanten hatten in peripheren Gegenden grosse Flächen aufgekauft und dann einen kleinen Teil davon an Wohnungssuchende weiterverkauft.

Diese Expansion städtischen Raumes wurde nicht vom Staat kontrolliert, so dass das Siedlungsmuster unregelmässig war. Bebaute und freie Flächen verteilten sich zufällig auf das grosse Stadtgebiet. Es gab dafür keinen Entwicklungsplan. Die Besiedlung erfolgte gemäss den Interessen der Bodenspekulanten, welche nur auf Profitmaximierung aus waren und die gesetzlichen Mindestanforderungen bezüglich Wohnfläche und Infrastruktur häufig missachteten. Diese illegalen Praktiken führten dazu, dass viele der Parzellen den gesetzlichen Ansprüchen nicht genügten; dabei war den Arbeitern klar, dass sie nur hier in der Peripherie die Chance haben, selbst Hauseigentümer zu werden.

 

                                                                               Quelle: O Estado de São Paulo 27.5.2001

 

Besiedlung Peripherie

 

Die Bedeutung eines Eigenheimes für die ärmere Bevölkerung liegt darin, dass der Haushalt, der die grundlegende Organisationseinheit ist, auch als Ort der Tauschwertproduktion im informellen Arbeitssektor genutzt wird, (als handwerkliche Werkstätte oder als Küche für den Strassenverkauf, etc).

 

Die ärmere Bevölkerung begann in eigener Regie und langwieriger Kleinarbeit den Bau ihrer Häuser und organisierte sich gewerkschaftlich, um von der Stadt die Bereitstellung notwendiger Infrastruktur, wie zum Beispiel Schulen, Krankenhäuser oder Kanalisation, sowie die Legalisierung ihres Landbesitzes zu fordern. Infolge dieser oftmals erreichten Legalisierung wurde das gesamte Bauland aufgewertet, und konnte so mit grösserem Gewinn veräussert werden. Einige wenige Spekulanten aus der Oberschicht konnten sich dabei stark bereichern, aber auch für viele einfache Leute ist der Traum vom Eigenheim in Erfüllung gegangen.

 

                          

Der Hausbau an der Peripherie war ein lange dauernder Prozess von Verbesserungen am Haus, der in Eigenregie (auto-construção) durchgeführt wurde. Damit hat sich das Wohnungsmuster in São Paulo stark verändert. Während der Anteil der Mieter stark seit 1920 stark abgenommen hat, konnte sich der Anteil der Hauseigentümer mehr als verdoppeln.

 

 

Tabelle 5:   Verteilung der Wohnsitze in der Stadt São Paulo, 1920 – 1980

 

Jahr

Mieter (in %)

Eigentümer (in %)

Andere (in %)

1920

     46'976  (78,6) 

       11'404  (19,4)

       1'404  (2,3)

1940 

   187'555  (67,7)

       69'097  (25,0)

     20'302  (7,3)

1950 

   264'174  (59,3)

     167'953  (37,7)

     23'290  (5,2)

1960

   439'157  (52,6)

     342'644  (41,0)

     53'134  (6,4)

1970

   486'472  (38,2)

     683'930  (53,8)

   101'877  (8,0)

1980

   824'956  (40,0)

   1060'543  (51,4)

   176'697  (8,6) 

 

Quelle: Caldeira 1992:238

 

 

Bis 1940 waren 70% der Hochhäuser im Zentrum angesiedelt; davon wurden zwei Drittel nicht zum Wohnen genutzt, sondern dienten als Geschäfts- und Bürogebäude. 1940 lebten nur 4,6% der Bevölkerung in Hochhäusern.

 

 

 

Bürogebäude im Zentrum, Praça da República und Edificio Copan

 

Seither haben sich auch die Wohnverhältnisse auch für die Mittelschicht verändert. Angehörige der Mittelschicht wruden vermehrt zu Wohnungseigentümern und begannen in  den späten 60er Jahren in neu errichtete Wohnblöcke zu ziehen. Dies wurde möglich, weil die Wohnungsbaupolitik des Staates den Markt förderte, indem sie  entsprechende Finanzierungsmöglichkeiten anbot. Mit finanzieller Unterstützung der nationalen Wohnungsbank BNH (Banco Nacional de Habitação), deren Gelder eigentlich für Familien mit niedrigen Einkommen vorgesehen waren, errichteten die Bauunternehmen neue Hochhäuser und ermöglichten der Mittelschicht somit sich eine Wohnung zu kaufen.

Diese Form des Wohnens blieb der Mittelschicht vorbehalten, weil sich die ärmeren Bevölkerung dies nicht leisten konnte.

 

Während die ärmeren Schichten ohne finanzielle Unterstützung an der Peripherie ihre Häuser selbst bauten, wurde der Mittelschicht mit günstigen Hypotheken der Erwerb einer Eigentumswohnung ermöglicht; dies ist wohl auch der Grund dafür, dass viele Leute aus der Mittelschicht ihren Traum vom Eigenheim aufgegeben haben und sich für die leichter realisierbare Möglichkeit des Wohnungsbesitzes entschieden haben.

 

 

Wohnblock in Vila Mariana

 

In der Zeit von 1977 bis 1982 wurden 80,8% aller errichteten Wohnblöcke  von Geldern der BNH mitfinanziert. Besonders in den 70er Jahren nahm die Errichtung neuer Wohnblöcke stark zu. Ein neuer Zonenplan verteuerte ab 1972 die Grundstücke im Zentrum, so dass die Expansion der Wohnblöcke vor allem im Südwesten der Stadt vor sich ging.

 

Avenida Paulista

 

Die neuen Bürogebäude und Geschäfte folgten in dieselbe Richtung und verbreiteten sich entlang der Avenida Paulista, Avenida Jardins und Avenida Faria Lima. Die Altstadt war nicht mehr das einzige Zentrum.

 

Einteilung São Paulos in 8 homogene Gebiete 1977:

 

Area I :  am reichsten    -     Area VIII :   am ärmsten

Quelle: Caldeira 1992:245

 

Die räumliche Trennung der ärmeren Bevölkerung in der Peripherie von der bessergestellten Bevölkerung in zentrumsnahen Gebieten vollzog sich zu einer Zeit grossen wirtschaftlichen Wachstums, welches in den 70er Jahren den Glauben in Fortschritt und sozialen Aufstieg stärkte, trotz der Unterdrückung der öffentlichen Meinung durch das Militärregime.

Weil die gewerkschaftlichen und sozialen Bewegungen der Arbeiterklasse an der städtischen Peripherie erfolgreich waren und zu einer Verbesserung von Infrastruktur und Lebensqualität geführt hatten, stiegen in der Folge auch die Landpreise kräftig an. Dies führte dazu, dass neu zugewanderte, arme Leute sich den Bau eines Eigenheimes nicht mehr leisten konnten. Deshalb hat einerseits die Anzahl der Favelas (illegale Barackensiedlungen auf öffentlichem Grund) stark zugenommen, und andererseits leben viele Arme als Untermieter in prekären Verhältnissen oder sind in benachbarte Städte abgewandert, wo das Preisniveau noch erschwinglicher ist.

So hat also die politische Organisation der Arbeiterklasse und die städtischen Transformationen, welche daraufhin erfolgten, zu einem neuen Muster sozialer und räumlicher Segregation geführt (Caldeira 1992:247).

 

Von den Favelas existierten in den 70er Jahren erst einige wenige im Stadtzentrum, aber nun verbreiten sie sich ausschliesslich in den peripheren Regionen.

 

                                                                     Quelle: Barreto 1999

 

1973 lebte nur 1,1% der Bevölkerung São Paulos in Favelas, 1980 waren es 2,2%,  1987 bereits 8,8% und 1993 stiegerte sich deren Anteil auf 19,4%, was etwa 1,9 Millionen Menschen entspricht (Caldeira 1996:305). Diese illegalen Siedlungen auf besetztem öffentlichem Grund, in Parkanlagen oder an Flussufern werden aus Mangel an Alternativen geduldet. Die Gesetzgebung zum Schutz der Wasserreservoirs der Stadt vor der Besiedlung der Gebiete in der Nähe dieser Reservoirs hat versagt, geschütztes Land wurde illegal besetzt und trägt massgeblich zum peripheren Wachstum der Stadt bei. Die Trinkwasserprobleme der Stadt nehmen in der Folge weiter zu. Die kommunalen Direktiven zur Stadtentwicklung seit den 70er Jahren zeigten einerseits keinen Einfluss auf das Wachstum der illegalen Siedlungen und konnten andererseits auch wichtige Investitionsentscheide nicht beeinflussen.

65% des städtischen Wohnraums sind auf illegale Weise entstanden, an der Peripherie sogar bis zu 90%, vor allem durch die Besetzung von öffentlichem Boden (Santos in Gilbert 1996:7).

 

 

Ost-West-Autobahn (Radial Leste)

 

Da die Distanzen zwischen Zentrum und Peripherie immer mehr zunehmen, ist die ärmere Bevölkerung in den peripheren Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus oder den Favelas stark auf ein funktionierendes Transportsystem angewiesen um in erträglicher Zeit zu ihrem Arbeitsplatz im Zentrum zu gelangen. Der durchschnittliche Arbeitsweg in der Metropolitanregion São Paulo beträgt 2,5 Stunden pro Tag (Kohlhepp 1997:15).

 

Als Alternative dazu bleiben für die Armen nur die grossen Mietskasernen (cortiços) im Zentrum, welche ein Leben auf engstem Raum und bei fehlenden sanitären und Kücheneinrichtungen bedeuten.

 

 

3.1.  Heterogenisierung

 

Seit Beginn der 80er Jahre gibt es einen Wandel, der das Zentrum- Peripherie-Schema überlagert und zu einem heterogenen städtischen Raum geführt hat. Dabei hat die Segregation nicht abgenommen, sondern nur seine sichtbare Form verändert. Es gibt wieder mehr Einwohner mit niedrigen Einkommen in zentrumsnahen Gebieten als in früheren Dekaden. Gleichzeitig gibt es eine Tendenz der Besserverdienenden in isolierte Enklaven in peripheren Gebieten zu ziehen.

 

Je nach Stadtteil lassen sich unterschiedliche Entwicklungen beobachten:

Viertel wie Barra Funda, Bom Retiro, Brás oder Moóca, seit den 20er Jahren traditionelle Industrieviertel, sind in den 60er Jahren zu Wohnvierteln der unteren Mittelklasse geworden. Die industrielle Entwicklung findet nun in weiter vom Zentrum entfernten Stadtteilen statt. Wer den sozialen Aufstieg geschafft hat, ist in andere Viertel weggezogen.

 

Einerseits sind viele der alten grossen Häuser sind in Cortiços umgewandelt worden und dienen der armen Bevölkerung als Wohnort, andererseits entstehen luxuriöse Wohnblocks für eine neuzuziehende reichere Bevölkerungsschicht; somit werden diese Stadtteile heterogenisiert und eine, früher unbekannte, soziale Spannung entsteht.

 

Die Bevölkerungsdichte hat in diesen Stadtteilen von 1977 bis 1987 stark zugenommen, obwohl es nur wenige Neubauten gab:

86,27& in Bom Retiro,

76,88% in Barra Funda,

54,58% in Moóca,

41,28% in Brás  (Caldeira 1992:253).

 

 

Cortiços, Sé 2001

 

Die Mittelschicht verlässt deshalb ihre Häuser und zieht in Wohnblöcke, weil diese als sicherer erachtet werden. Der Traum vom Eigenheim hat seinen Reiz verloren, und die Furcht Opfer eines Verbrechens zu werden, lässt diese Art des Wohnens für viele zum Alptraum mutieren. Andererseits ist die Nähe der Nachbarn in diesen Hochhäusern ein neuer Unsicherheitsfaktor, vor allem wenn es darum geht, die Kontakte der Kinder zu kontrollieren.

 

 

Brás 2001

 

Die Errichtung dieser neuen Wohnblöcke steht dabei im Zusammenhang mit der Fertigstellung der Metrolinie Richtung Osten und der damit verbundenen Aufwertung dieser Gebiete.

 

Eine zweite Gruppe von Stadtteilen, (Pinheiros, Perdizes, Consolação, Vila Mariana und Aclimação), in der traditionellerweise die Mittelschicht wohnt, erlebte in den 70er Jahren eine starke Bautätigkeit. Diese nahm in den 80er Jahren wieder ab, weil die Mittelschicht zusehends verarmte. Es gab in dieser Zeit auch nur eine geringe Zunahme in der Bevölkerungsdichte. Die Mittelschichten, obwohl ärmer geworden, bleiben in diesen Quartieren wohnen. Diese Entwicklung unterscheidet sich deutlich von derjenigen, der alten Industriequartiere.

 

Eine dritte Gruppe wird von den reichsten Vierteln Jardim Paulista, Jardim América und Cerqueira César gebildet. Hier lässt sich in den 80er Jahren eine Zunahme der Bevölkerungsdichte um fast 40% feststellen; dies deshalb, weil die Reichen es vorzogen in neu errichtete Apartment-Hochhäuser zu ziehen und dafür ihre Häuser aufgaben, aber in diesen zentralen Vierteln, mit ihren zahlreichen Dienstleistungsbetrieben und Geschäften bleiben wollten.

 

 

Jardins

 

Ein beträchtlicher Teil der Mittel- und Oberschichten zieht es jedoch vor, vom Zentrum wegzuziehen, was zu grossen Veränderungen in den westlichen und südwestlichen Stadtteilen führte. Hier sind einerseits die geschlossenen Enklaven und Wohnblöcke der Reichen Seite an Seite mit den Behausungen der Armen, andererseits sind diese Wohngebiete durchsetzt mit Bürogebäuden und Geschäften.

 

Nachdem, im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise, die nationale Wohnungsbank BNH 1986 ihre Funktionen einstellte, wurde der Erwerb einer Eigentumswohnung für die Mittelschicht zusehends schwieriger; deshalb orientierte sich der Immobilienmarkt an den Bedürfnissen der Reichen und errichtete viele Hochhäuser mit grossräumigen Apartments. Viele Angehörige der Oberschicht verliessen daraufhin ihre Häuser und zogen in diese Luxuswohnungen, einerseits aus Furcht vor der zunehmenden Kriminalität, anderseits wegen der modernen Ausstattung und den angebotenen Serviceleistungen in diesen Wohnanlagen.

 

 

 

4. Gewalt

 

 

Seit den 80er Jahren ist nicht nur die Anzahl der Verbrechen in São Paulo gestiegen, sondern auch die Anzahl der gewalttätigen Verbrechen; deshalb hat die Furcht ebenfalls zugenommen und hat dadurch das Leben verändert.

In den alltäglichen Gesprächen und Diskussionen ist Kriminalität ein wichtiges Thema, bei dem alle etwas mitzuteilen haben, seien es auch nur Fragmente eines Ereignisses. Geschichten werden immer wieder wiederholt und geben dem Gefühl der Gefahr und der Unruhe Ausdruck; dabei wird die Furcht verstärkt, die Gewalt verdammt oder bestaunt.

Dabei werden Meinungen gebildet und die Wahrnehmung beeinflusst. Das zufällige Vorkommen und die Willkür von Gewaltverbrechen geben den Eindruck einer chaotischen Situation, einer aus den Fugen geratenen Welt; Gespräche darüber geben den Dingen wieder eine statische Ordnung und teilen sie ein in Gut und Böse. Dies hilft dabei, mit dem Arbiträren und Unvorhersehbaren der Gewalterfahrung fertig zu werden.

 

Die Furcht vor Verbrechen und das Sprechen darüber führt nicht nur zu Erklärungsversuchen und Interpretationen der Geschehnisse, sondern dienen auch der Rechtfertigung privater und illegaler Reaktionen, wenn der Staat nicht für Gerechtigkeit sorgt. Gespräche über Gewaltverbrechen tragen in diesem Sinne noch zu einer Verstärkung der Gewalt bei. Dies geschieht in einem Kontext, wo die staatlichen Institutionen (Polizei und Justiz) nicht in der Lage sind für Sicherheit, Recht und Ordnung zu sorgen und selbst auf gewalttätige Methoden zurückgreifen. Ein Zyklus von Gewalt und Gegengewalt wird damit noch verstärkt.

 

Die Gespräche über Gewaltverbrechen bleiben aber nicht isoliert; sie werden mit Themen wie Armut, Wirtschaftskrise, Unzulänglichkeit öffentlicher Institutionen und städtischen Veränderungen verbunden und dabei in einen neuen Zusammenhang gebracht (Caldeira 1992:4,11).

 

Wer einmal Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist, der sieht die Dinge in einem anderen Licht, die Furcht verlässt ihn nicht mehr, verschiedenste Schutzmassnahmen werden verstärkt. So erfahren die Stadt, das eigene Haus und die Leute, mit denen man zu tun hat, eine neue Bedeutung, weil man selbst Opfer eines Verbrechens wurde.

Das erlebte Verbrechen ist es, welches Eindrücke neu organisiert; dabei wird häufig in ein bevor und danach, in ein gut und böse eingeteilt; der Zustand vor dem Verbrechen wird idealisiert und der Zustand danach als schlecht angesehen. Durch das erlittene Unrecht wird im Gespräch auch anderen Dingen, welche die Wirtschaftslage oder die soziale Situation betreffen, eine neue Bedeutung zugemessen und eventuell in einen neuen, dramatisierten  Zusammenhang gestellt, den es vorher nicht gab.

 

Oftmals wird die zunehmende Gewalt mit dem Entstehen der Favelas und der Zuwanderung armer Leute aus dem Norden und Nordosten Brasiliens in Verbindung gebracht. Diese werden oft als subhuman, ignorant, faul, unmoralisch und auch kriminell stereotypisiert. Die Armen werden gemeinhin als Kriminelle angesehen, auch von den Armen selbst.

Gerade die Arbeiterklasse bemüht darum, ihre soziale Überlegenheit den Neuankömmlingen gegenüber durch Abgrenzung deutlich zu machen.

Hierbei eröffnen Gespräche über Verbrechen eine Gelegenheit, mit sozialem Wandel und gesellschaftlichen Problemen auf simplifizierte Weise umzugehen (Caldeira 1992:13).

 

Das Bild des Kriminellen wird mit Armut und Arbeitslosigkeit verbunden. Dabei ist den Leuten durchaus klar, dass nicht alle Armen und Arbeitslosen kriminell sind, und dass nicht alle Kriminellen arm und arbeitslos sind. Aber diese simplifizierte Einschätzung des Kriminellen ist präsent und gibt den vielen Erklärungsversuchen einen vordergründigen Sinn.

Dem armen, arbeitslosen Kriminellen wird auch der entsprechende Raum zugeordnet, wo Verbrechen und Drogenkriminalität zuhause sind, nämlich die Favelas und Cortiços. Die Cortiços sind in Wohnungen unterteilte Häuser, wo die Familien auf engstem Raum zusammenleben müssen und wo es an grundlegendsten sanitären Einrichtungen und Küchen mangelt. Die Favelas sind auf besetztem Land errichtete illegale Barackensiedlungen; ihre Bewohner werden nicht als vollwertige Bürger anerkannt, weil sie keine Steuern bezahlen.

Die Bewohner von Cortiços und Favelas, den Orten des Verbrechens, werden als Randgruppen betrachtet, die nicht in die Gesellschaft hineinpassen und nicht zur Stadt gehören; sie werden mit den Nordestinos (Zuwanderen aus dem Norosten Brasiliens) und gestörten Familienverhältnissen assoziiert oder gelten als unsauber und moralisch schwach.

Interessant dabei ist, dass selbst die arme Bevölkerung diese Vorurteile und Stereotypen im Umgang mit noch Ärmeren benutzt, um sich von diesen zu distanzieren. Die Realität hingegen ist komplexer und entspricht nicht dieser Polarisierung; und obwohl die Arbeiterklasse sich dessen durch persönlichen Kontakt und positiven Erfahrungen im Umgang mit Favelabewohnern durchaus bewusst ist, finden sie keine anderen Erklärungsgrundlagen als diese stereotypen, widersprüchlichen Vorstellungen (Caldeira 1992:84ff).

Obwohl das Verbrechen ein generelles Phänomen ist, wird es häufig mit der starken Zuwanderung der Nordestinos in Verbindung gebracht. Die Veränderung des eigenen Viertels, die als Verfremdung wahrgenommen wird, gibt ein Gefühl der Unsicherheit, das der zunehmenden Kriminalität und den Zugewanderten angelastet wird. Vorurteile gegenüber den Nordestinos sind häufig und es gibt sie in allen Teilen der Stadt.

Die Oberschicht in Morumbi hat ein etwas anderes Bild des Kriminellen: dieser ist nicht unbedingt arm oder schlecht gekleidet, und wird mit Drogenhandel und organisierter Kriminalität in Verbindung gebracht (Caldeira 1992:94).

Generell jedoch wird das Bild des Kriminellen auch immer mit Armut assoziiert. Wer selbst arm ist und in der Nähe von Favelas wohnt, bemüht sich darum, sich selbst als ehrlichen Arbeiter darzustellen, der nichts mit dem Kriminellen zu tun hat; dies erfolgt durch den verstärkten Gebrauch von Stereotypen.

Gemeinhin wird angenommen, dass es nicht viel braucht, um kriminell zu werden:

Stress, Frustration, keine Arbeit, schlechte Freunde kombiniert mit mangelnder Moral und Bildung reichen aus, um zum Verbrecher zu mutieren. Raubüberfalle werden häufig Personen zugeschrieben, die dies zum überleben tun müssen oder um sich ihren Drogenkonsum finanzieren zu können.

Verbrechen mit übermässiger Gewaltanwendung werden als grundlos angesehen und mit Unmenschlichkeit, Perversion oder Drogeneinfluss in Verbindung gebracht (Caldeira 1992:109).

 

Wenn reiche Leute kriminell sind, wird das ihrer natürlichen Boshaftigkeit oder ihrem Schicksal zugeschrieben, denn hier können nur individuelle oder moralische Erklärungen helfen, da keine ökonomische Notwendigkeit besteht ein Verbrechen zu verüben.

Reiche Leute werden oft ausserhalb des Gesetzes situiert, da sie aufgrund ihrer sozialen Position nicht mit Strafverfolgung rechnen müssen. Dies wird nur als eine weitere Ungerechtigkeit von vielen wahrgenommen und führt zu einer pessimistischen Stimmung in bezug auf die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung.

 

Als bestes Mittel gegen schlechten Einfluss wird Arbeit angesehen, weil man dann zu beschäftigt ist, um auf schlechte Gedanken zu kommen. Autorität und Segregation gemeinsam mit Kontrolle, Beschäftigung, Separation und der Errichtung von Barrieren dienen dazu, schlechte Einflüsse jeglicher Art fernzuhalten.

 

Die Angst das nächste Opfer zu sein ist ein Gefühl, das alle Bewohner São Paulos verspüren; in öffentlichen Räumen trägt man keinen Schmuck oder teure Uhren und man versucht sich unauffällig zu verhalten und geht abends weniger aus. Häuser, Schulen, Geschäfte sind eingezäunt; Sicherheit wurde zum zentralen Element des Wohnverhaltens.

 

Kindergarten in Vila Madalena

 

Je mehr das alltägliche Leben von Verbrechen unterbrochen wird, desto mehr werden Orte, Klassifikationen und Unterscheidungen radikalisiert. Je mehr die Furcht zunimmt, desto stärker tendieren die Leute zu radikalen Lösungen. Es werden nicht nur Mauern errichtet und Fenster vergittert um seinem Wohnort zu schützen, sondern alltägliche Routinen und soziale Aktivitäten werden eingeschränkt aus Sorge um die eigene Sicherheit.

Das soziale Leben verkümmert, Begegnungen in der Öffentlichkeit werden vermieden. Die Folge davon ist eine verstärkte Segregation, welche die sozialen Unterschiede aufrechterhält und die Diskriminierung der sozial Schwächeren fortführt.

 

Die Wirtschaftskrise und Inflation der 80er Jahre führt dazu, dass man sich seiner sozialen Stellung nicht mehr sicher sein kann; das Geld verliert täglich an Wert, Langzeitplanung macht keinen Sinn mehr. Deshalb versucht man, seinen Arbeitsplatz und soziale Stellung zu sichern. Das soziale Leben ist angespannt; das Gefühl, dass grundlegende staatliche Institutionen nicht mehr funktionieren wird verstärkt durch täglich neue Fälle von Korruption in der Presse; Fälle, die selten untersucht werden und kaum Folgen haben. Deshalb sind Zweifel an der Polizei und am Justizsystem ist stark.

Die weitverbreitete Furcht vor Kriminalität, soziale Unsicherheit und Inflation und das Versagen öffentlicher Institutionen sind der Demokratie und der Beachtung der Menschenrechte nicht förderlich; im Gegenteil, dieser Kontext verstärkt die Ungleichheit, Segregation, Diskriminierung, Stereotypisierung.

Caldeira hält fest, dass trotz verheerenden Effekte der Inflation und der ungerechten Einkommensverteilung die Oberschicht der Meinung ist, dass die Armen zumindest zum Teil selbst schuld sind an ihrer Armut. Dies drückt sich wiederum in Stereotypen und Zuschreibungen aus, wie Unwissenheit in bezug auf Wählen gehen, Sparen oder Verhütung, fehlender Rationalität oder falscher Ressourcennutzung (Caldeira 1992:50).

 

Die Wirtschaftskrise der 80er Jahre ist der Hintergrund für die Zunahme von Verbrechen und Gewalt, aber genauso von Bedeutung sind auch die Unfähigkeit der staatlichen Autoritäten dem Verbrechen Einhalt zu gebieten.

Die Frustration in bezug auf die Regierung und die Politiker ist besonders gross; viele wünschen sich die Konstanz und Dauerhaftigkeit des Militärregimes zurück. Die demokratische Verfassung wurde von der Regierung Collor umgangen, indem sie wie die Militärs mit Dekreten (medidas provisórias) regierte, die erst im Nachhinein dem Kongress vorgelegt wurden und deren Folgen oft nicht mehr rückgängig gemacht werden können.

Wenn selbst die Regierung sich nicht an die Verfassung hält, wie sollen sich dann die einfachen Bürger daran orientieren? Demokratie erscheint, wie die Inflation, als eine Illusion und nicht als Versprechen für eine bessere Zukunft; Verfall und Armut sind die Realität, sozialer Aufstieg erscheint nicht mehr länger möglich.

Diese Perspektivlosigkeit und die Verarmung eines grossen Teils der Bevölkerung werden in einem direkten Zusammenhang mit der Zunahme der Kriminalität gesehen.

Verbrechen verstärken diese Wahrnehmung der Dinge; sogar wer wenig besitzt kann Opfer eines Verbrechens werden.

Gleichzeitig mit sozialem Niedergang schränken die Bewohner aus Furcht vor Kriminalität ihre Aktivitäten in öffentlichen Räumen ein und bleiben vermehrt zuhause oder in der Nachbarschaft. Diese Gleichzeitigkeit der Verarmung und steigender Kriminalität ist eine alltägliche Erfahrung.

In dieser Situation der Unsicherheit wird es als notwendig empfunden Unterschiede zu betonen und sozialen Differenzen Ausdruck zu verleihen, sei es materiell, durch die Einzäunung des Hauses (im Unterschied zu den Cortiços oder Favelas) oder symbolisch, durch die abschätzige Stereotypisierung der Armen, der Minderwertigen, die man an der Grenze der Gesellschaft sieht, deren irrationale Verhaltensweisen man gerne beurteilt. So müssen die Fernseher in den Favelas als Sinnbild für das irrationale Geldausgeben der Armen für Konsumgüter herhalten; Konsumgüter, die den bessergestellten Klassen vorbehalten bleiben sollten. Dabei sind es gerade die Fernseher, welche den Reichen wie den Armen dieselben Symbole der Konsumgesellschaft vermitteln und den Lebensstil der Oberschicht und die sozialen Unterschiede aufzeigen.

 

Der Ober- und Mittelschicht fällt es nicht leicht, die Integration der Arbeiterklasse in die Konsumgesellschaft und in die politische Arena zu akzeptieren; die Armen sollten dort bleiben, wo sie hingehören und arm bleiben, ohne Ambitionen, und den abwertenden Stereotypen entsprechen.

Indem sich soziale Positionen aber zu verschieben beginnen, wird ein Gefühl der Unordnung und Unsicherheit vermittelt, auf das die Leute mit verstärkter Segregation und Abgrenzung reagieren. Gerade bei der unteren Mittelschicht und der Arbeiterklasse findet man die stärksten Vorurteile um seine eigene soziale Position von diejenigen  abzugrenzen, die einem näher sind. Die Nähe führt also zu einer Verfeinerung der Unterschiede, die aufrecht erhalten werden sollen. (Caldeira 1992:72). Gerade die Arbeiterklasse, die selbst im Verdacht steht kriminell zu sein, assoziiert Kriminalität mit Armut und Mangel an Rationalität.

 

 

4.1.  Die Erfahrung der Gewalt

 

Die Zunahme der Gewalt ist etwas, das alle Bewohner schon erfahren haben, entweder dadurch, dass man selbst schon einmal ein Opfer wurde oder dass jemand aus dem Familien- oder Freundeskreis ein Opfer eines Verbrechens wurde.

Diese Erfahrungen sind nicht nur auf den Ort begrenzt, wo man lebt, sondern verteilen sich auch auf die Arbeitsumgebung, die öffentliche Räume und den öffentlicher Verkehr. Die Furcht vor Überfällen hält die Leute immer beschäftigt, Verbrechen geschehen überall und jederzeit.

Die Eliten fürchten sich weit mehr davor, entführt zu werden, als nur ausgeraubt zu werden. Diebstahl gehört als kleines Verbrechen schon fast zum Alltag.

Während sozioökonomische Gründe oft eine befriedigende Erklärung für Überfälle und Diebstahl darstellen, sind bei Tötungsdelikten andere Motive ausschlaggebend, nämlich persönliche Konflikte, Spannungen oder Demonstrationen männlicher Stärke, besonders gegenüber Frauen. Nebst diesen allgemeinen Erklärungen sind im Einzelfall immer auch individuelle und persönliche Gründe miteinzubeziehen.

 

Wer Opfer eines Verbrechens wurde setzt neue Sicherheits- und Alarmsysteme ein, bleibt am Abend und am Wochenende mehr zuhause und schränkt seine Bewegungsfreiheit ein. Viele Leute denken, dass es eine besonders Stärke braucht, um die Kriminalität zu kontrollieren. Deshalb erfahren private und gewaltsame Verbrechungsbekämpfung eine breite Unterstützung und ermöglichen der privaten Sicherheitsindustrie grosse Wachstumsraten; gleichzeitig nimmt die Gleichgültigkeit zu wenn es um polizeiliche Gewaltanwendung geht.

Die Verbrechenszunahme wird auch mit einer schwachen Autorität, sei es die Schule, die Familie, der Staat, die Polizei oder die Justiz, in Verbindung gebracht.

Man hat das Gefühl, dass die Autoritäten und Institutionen nicht mehr in der Lage sind ihre Aufgaben zu erfüllen und für gesellschaftliche  Ordnung und Vernunft zu sorgen. Deshalb ergreifen die Leute private Schutz- und Kontrollmassnahmen und schliessen sich ein, weil die Umgebung als zu bedrohlich empfunden wird.

Privates Wacht- und Aufsichtspersonal wird angestellt, die Häuser werden verändert und die Gewohnheiten öffentliche Räume zu benutzen werden geändert. Die gesamte Stadt erfährt durch diese Schutzmassnahmen und das Gefühl der Angst eine Veränderung, welche in neuen Formen räumlicher Segregation ihren Ausdruck findet und den Charakter des öffentlichen Lebens verändert.

 

Nicht nur die Verbrechen haben in São Paulo seit den 80er Jahren beständig zugenommen, sondern auch die Gewaltanwendung derjenigen Institutionen, die Verbrechen verhindern und die Bürger schützen sollten.

Nicht nur die Zunahme der Verbrechen, sondern besonders die Zunahme der Gewaltanwendung beunruhigt die Bevölkerung.

Diese Zunahme der Gewalt steht in einem Zyklus, der Verbrechen, gewalt-tätige Reaktionen der Polizei, Misstrauen ins Justizsystem, private gewalttätige Reaktionen und die Befürwortung der Bevölkerung für gewalt-tätige Bestrafung miteinschliesst.

 

Das Vertrauen in die Fähigkeit der Polizei, einen Diebstahl oder Einbruch aufzuklären, ist gering; deshalb werden weniger als die Hälfte aller Diebstähle überhaupt gemeldet.

Wenn es um körperliche Misshandlung bei Männern geht, sind es ebenfalls weniger als 50% der Fälle, die der Polizei gemeldet werden, hauptsächlich wegen Misstrauens gegenüber der Polizei. Bei körperlicher Misshandlung von Frauen werden gar weniger als 40% der Fälle gemeldet, vor allem aus Furcht vor Rache und aus Misstrauen gegenüber der Polizei (Caldeira 1992:115).

Entweder man fürchtet sich vor der Polizei, misstraut ihr oder sieht sie als nicht fähig ein Verbrechen aufzuklären. Offizielle Kriminalstatistiken zeigen deshalb nicht die tatsächliche Anzahl der Verbrechen auf, denn sie sind ein Produkt, das die operationelle und politische Situation der Polizei wiederspiegelt.

 

Es gibt zwei Arten von Polizei: zum einen die Zivilpolizei (Polícia Civil) und zum andern die Militärpolizei (Polícia Militar). Die Zivilpolizei kümmert sich um administrative Belange (Ausstellen von Identifikationspapieren, Registrierungen) und um gerichtspolizeiliche Belange (Kriminaluntersuchungen, Aufnahme von Beschwerden und Verbrechensmeldungen, Einleitung von Gerichtsverfahren, Herstellung von Kriminalstatistiken). Die Militärpolizei, die 1969 unter dem Militärregime entstand, ist die uniformierte Strassenpatrouille; sie ist direkt der Armee unterstellt und weist eine separate Organisations- und Ausbildungsstruktur auf. Zwischen diesen zwei Arten von Polizei gibt es immer wieder Rivalitäten und Konflikte.

Aussagen von Expolizisten der Zivilpolizei bestätigen, dass Korruption und Folter häufig und gemeinsam vorkommen. Der gewöhnliche Vorgang wird dabei in 3 Stufen eingeteilt: zuerst wird der Gefangene gefoltert damit er seine Verbrechen gesteht, danach wird ein Jurist beigezogen, der eine Ausgleichszahlung (acerto, settlement) aushandelt; diese Zahlung wird in einem letzten Schritt getätigt (und an die beteiligten Polizisten verteilt) und der Gefangene wird freigelassen und der Tatbestand im Polizeireport wird abgemildert oder fallengelassen (Caldeira 1992:118). 

 

Eine weitere, bekannte Art der Korruption ist es, der Polizei ein Schmiergeld zu bezahlen, damit sie kein Gerichtsverfahren eröffnet.

Die Zivilpolizei hält sich dabei an folgende ‚internen’ Regeln:

-                     Folter sollte keine sichtbaren Spuren hinterlassen,

-                     Personen, die der Oberschicht angehören oder keine kriminelle Vergangenheit aufweisen, sollen nicht gefoltert werden,

-                     eine Person mit krimineller Vergangenheit, die aber Geld besitzt, wird nicht gefoltert, wenn sie gleich zu Beginn für ihre Freilassung bezahlt.

 

Gefoltert wird also derjenige, der arm ist; wer Geld besitzt, kauft sich frei. Die ‚Arbeitsmethoden’ der Zivilpolizei sind nicht nur illegal, sondern sie zeigen auch eine klare Bevorzugung der Oberschicht.

 

Einbruchdiebstahl und Raubüberfälle werden entsprechend dem sozialen Status des Opfers untersucht. Wenn jemand der bestohlen wurde seinen Besitz wieder zurückbekommen will, kommt es vor, dass der Polizei ein Beitrag entrichtet wird, damit diese ‚harte’ Befragungsmethoden anwendet, um zu Antworten zu kommen. Daraus kann man schliessen, dass es in gewissen Teilen der Bevölkerung eine Toleranz gewaltsamer Polizeimethoden gibt (Caldeira 1992:121).

 

Die Verbrechen der Oberschicht, häufig Korruption und Betrug, die über die Presse der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, führen selten zu Verurteilungen und Haftstrafen. Dies wiederum lässt das hohe Niveau der ungestraften Taten erahnen und zeigt die fehlende Verantwortlichkeit des Justizsystems.

Gewaltverbrechen gegen Frauen und kleinere Delikte unter der ärmeren Bevölkerung werden von der Polizei nur unwillig aufgenommen und selten wird eine Untersuchung eingeleitet.

Kriminalstatistiken müssen vor diesem Hintergrund mit grosser Vorsicht betrachtet werden, weil Verbrechen gegen Angehörige der Oberschicht überrepräsentiert sind und Verbrechen, wo das Opfer der Unterschicht angehört, unterrepräsentiert werden. Zudem werden Verbrechen unterrepräsentiert, die von der Oberschicht verübt wurden, und Verbrechen, die von den Armen verübt wurden, werden überrepräsentiert. Ebenfalls werden schwere Verbrechen unterrepräsentiert, weil sie in den Polizeiberichten abgemildert wurden.

Somit wird die Arbeiterklasse nicht nur als die gefährliche Klasse stigmatisiert, sondern durch das Verhalten der Polizei und deren Statistiken auch tatsächlich dazu gemacht.

 

Das Problem der Statistik ist es, dass die polizeiliche Statistik die einzige Quelle quantitativer Daten ist. Man kann wahrscheinlich davon ausgehen, dass das tatsächliche Ausmass der Kriminalität von der statistisch Erfassten über die Zeit konstant bleibt; deshalb lassen sich doch einige Aussagen zu Veränderungen machen.

Am korrektesten ist wohl noch die Autodiebstahlstatistik, weil von den Versicherungen eine Kopie des Polizeireports verlangt wird, wenn Ansprüche geltend gemacht werden.

Was die Anzahl der verübten Verbrechen betrifft, so lässt sich über die 70er und 80er Jahre hinweg eine deutliche Zunahme feststellen, sowohl bei Verbrechen gegen Personen als auch gegen Eigentum:

 

     

                                               Quelle: Caldeira 1992:130

 

Diese Entwicklung hat sich in den 90er Jahren weiter verschärft. Alleine 1998 wurden 800'000 Paulistas Opfer eines Diebstahls oder Überfalls. Die Anzahl der Überfälle in der Stadt São Paulo steigt jährlich an: waren es 1996 noch 31'871, so sind es 1999 bereits 55'786; genauso rasant hat sich der Markt für Überwachugselektronik entwickelt: lag der Umsatz 1996 noch bei 211 Mio. R$, so sind es 1999 schon ca. 436 Mio. R$ (Veja SP 6.10.1999). Von 1995 bis 1998 hat sich die Anzahl der Autodiebstähle um 123% gesteigert (O Estado de São Paulo 25.4.1999)

 

Die Verbrechensrate ist dabei in Stadtgebiet São Paulos deutlich grösser als in den angrenzenden Städten:

 

   Metropolitanregion   Stadt São Paulo   andere Städte

 

Quelle: Caldeira 1992:133.

 

 

São Paulo hat dabei mehr Eigentumsdelikte aufzuweisen, während die umliegenden Städte proportional mehr Morde aufweisen. Verbrechen gegen Personen stiegen in São Paulo in diesem Zeitraum durchschnittlich um 1,75% pro Jahr, in den umliegenden Städten aber um durchschnittlich 8% pro Jahr. Die Gebiete mit den höchsten Raten der Gewaltzunahme befinden sich nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie, wo vor allem die ärmere Bevölkerung wohnt, wo aber auch die Mittel- und Oberschicht in die neuen exklusiven Wohnanlagen zieht.

Die Anzahl der Morde stieg dabei am stärksten an, sowohl in São Paulo selbst, als auch in den umliegenden Städten. São Paulo reihte sich damit in den Kreis der gewalttätigsten Städte der Welt ein. Während 1976 für die Altersgruppe der 20 – 49 Jährigen nur 4,9% der Todesfälle auf Morde zurückzuführen sind, sind es 1984 bereits 18,4%.

Tötungsdelikte stehen vermehrt in Zusammenhang mit Drogen wie Crack, welche die Hemmschwelle heruntersetzen, so dass bereits für Kleinigkeiten gemordet wird. 1980 wurde in Brasilien alle 53 Minuten jemand ermordet, 1990 waren es bereits alle 21 Minuten und im Jahr 2000 alle 13 Minuten (Veja 7.6.2000).

Die Anzahl der registrierten und der illegalen Waffen hat sich in den 80er Jahren vervielfacht.  Jeden Tag werden von der Polizei im Staat São Paulo über 100 Waffen beschlagnahmt (O Estado de São Paulo 25.4.1999).

 

Waffenlager der Polizei

 

Die zunehmende Bewaffnung der Bevölkerung, (1999 waren es 18,2%), dient dabei nicht der persönlichen Sicherheit, im Gegenteil, die Gefahr erschossen zu werden nimmt zu. In einer Studie des Sicherheitsministerium São Paulos (Secretaria da Segurança de São Paulo) zeigte sich, dass bei den versuchten Raubüberfällen die persönliche Bewaffnung keinen Einfluss darauf hat, ob man dabei verletzt wird oder unversehrt dem Verbrechen entkommen kann. Bei den durchgeführten Raubüberfällen hingegen wurden alle bewaffneten Opfer erschossen. Der Besitz einer persönlichen Waffe, ob legal oder illegal, bietet nur einen trügerischen Schutz davor, Opfer eines Verbrechens zu werden (Folha de São Paulo 19.10.1999).

Anzahl Morde / 100'000 Einwohner :

 

1985:                                                        1999:

Kapstadt              65                        Cali (Kolumbien)    88

Kairo                    56                        Vitória                 70

Alexandria           49                        Rio de Janeiro     69

Rio de Janeiro     49                        Kapstadt              68

Manila                 37                        São Paulo            56

Mexico City         28                        Recife                  53

São Paulo            26                        Brasília                 38

 

Quelle: Caldeira 1992:140                         Quelle: Veja 7.6.2000

 

Diese traurige Statistik, die sich in den 90er Jahren weltweit noch verschlimmert hat, zeigt, dass sich São Paulo ebenfalls deutlich gesteigert hat. Die Performanz der Polizei, die in São Paulo mit jährlich über 1000 Toten besonders gewalttätig ist, wurde hier noch nicht einbezogen; São Paulo würde dadurch in den Gewaltstatistiken noch schlechter dastehen.

 

Es gilt festzuhalten, dass die Gewalt nicht einfach auf eine städtische Zentren begrenzt ist, sondern dass sie an der Peripherie, in den Vorstädten genauso zunimmt. Dies widerspricht eigentlich der Vorstellung derjenigen Leute, die in die geschlossene Wohnanlagen ausserhalb der Stadt ziehen, um ein ruhigeres Leben zu führen.

 

Damit ein Verbrechen geschieht, braucht es ein Zusammentreffen verschiedener Faktoren:

-                     eine Person muss ein Motiv haben,

-                     sie muss die Mittel dazu haben, ein Verbrechen verüben zu können,

-                     es muss sich eine Gelegenheit dazu bieten und

-                     man muss sich sicher sein können, nicht erwischt zu werden.

Wenn diese Faktoren zusammentreffen, kann ein Verbrechen geschehen; das Zusammenspiel dieser Faktoren und der Verlauf der Handlung bestimmen dabei den Grad der Gewaltanwendung (CEDEC 1996:3).

Eine vom Centro de Estudos de Cultura Contemporânea erstellte Studie untersuchte die 96 Stadtbezirke São Paulos auf sozioökonomische Faktoren und das Vorkommen von Gewalt. Dabei wird eine positive Korrelation zwischen sozioökonomischer Stellung und dem Gewaltrisiko (Anzahl Todesfälle pro 100'000 Einwohner) festgestellt. Reiche Stadtteile wie Jardim Paulista, Moema, Alto de Pinheiros, Pinheiros und Perdizes weisen ein sehr geringes Gewaltrisiko auf, während die ärmsten Viertel Jardim Ângela, Parelheiros, Iguatemi und Grajaú besonders viele Todesfälle aufweisen.

 

Einteilung der 96 Stadtbezirke, in Gebiete mit hohem, mittlerem und niedrigen Gewaltrisiko:

 

                                     Quelle: CEDEC 1996:7

 

Tabelle 6:   sozioökonomische Stellung und Anzahl Todesfälle unter den 20 bis 24 Jährigen; eingeteilt in 8 Stadtgebiete, (welche den Sektionen der Zivilpolizei entsprechen):

 

Sektion

Sozio-

ökonomischer Wert

(von 1 bis 10)

Todesfälle

pro 100'000 Einw.

2 - Südosten

5,5

78,61

1 - Zentrum

5,4

56,33

3 - Westen

4,8

60,73

5 - Osten: Penha

4,5

48,97

4 - Norden

4,0

82,45

7 - Osten: Itaquera

3,2

112,73

6 - Santo Amaro

3,1

175,40

8 - Osten : Guaianases

2,8

146,62

 

Quelle: CEDEC 1996:7

 

 

Die Anzahl Todesfälle steht dabei in direktem Zusammenhang mit der Lebenserwartung. Während das durchschnittliche Alter in São Paulo 69,9 Jahre beträgt, lassen sich einzelne Extremwerte feststellen. Die niedrigste Lebenserwartung weisen Guaianases (64,8 Jahre), Brasilândia (65,5 Jahre) und Jardim Ângela (67,8 Jahre) auf. Diese Viertel gehören mit Werten zwischen 84 und 88 Morden auf 100'000 Einwohner auch zu den gewalttätigsten der Stadt. Demgegenüber ist das Risiko ermordet zu werden in den reichen Stadtteilen Jardim Paulista, Consolação und Perdizes mit Werten zwischen 2 und 9 Morden auf 100'000 Einwohner um ein Vielfaches geringer. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt hier bei 76,5 Jahren (zum Vergleich: USA 76,7 Jahre), während sie in Jardim Ângela bei 67,8 Jahren und in Brasilândia bei 65,5 Jahren liegt (zum Vergleich: Guyana 64,4 Jahre). Dies entspricht einem Wert, den São Paulo bereits vor mehr als 20 Jahren aufwies: 63,6 Jahre 1980 (Folha de São Paulo 17.10.1999).

 

 

Tabelle 7:   sozioökonomische Stellung im Vergleich mit Diebstahl und Raubüberfälle (inkl. Versuche)

 

Sektion

Sozioökono-mischer Wert (1-10)

Diebstahl Fahrzeuge

Diebstahl andere

Raubüberfall Fahrzeuge

Raubüberfall andere

2 –

Südosten

5,5

17,99

12,17

18,15

11,90

1 –

Zentrum

5,4

11,07

24,84

4,47

17,85

3 –

Westen

4,8

26,79

20,79

22,36

17,07

5 – Osten:

Penha

4,5

15,29

9,15

15,40

8,43

4 –

Norden

4,0

14,31

12,10

9,77

9,34,

7 – Osten  Itaquera

3,2

4,11

7,46

7,77

11,76

6 – Santo  Amaro

3,1

7,65

8,72

16,47

16,36

8 – Osten: Guaianases

2,8

2,78

4,76

5,61

7,29

 

Quelle: CEDEC 1996:8

 

Die sozioökonomische Stellung der Stadtgebiete zeigt hierbei einen inversen Zusammenhang mit der Anzahl Diebstähle und Raubüberfälle. In den reicheren Vierteln kommen mehr Überfälle und Diebstähle vor, dafür ist das Risiko getötet zu werden dort geringer. Dies hängt sicher auch mit den Prioritäten der Polizei zusammen, welche in den reicheren Vierteln stärker präsent ist, damit vor allem Eigentumsdelikten vorgebeugt werden kann. An der Peripherie hingegen, wo die meisten Morde geschehen, ist die Polizei mit weniger Personal und weniger Fahrzeugen vertreten (CEDEC 1996:11).

 

Diebstahlrisiko, eingeteilt nach Sektionen der Zivilpolizei:

 

 

        Quelle: CEDEC 1996:9

 

Soziologische Erklärungen verbinden kriminelle Handlungen mit Verstädterung, Zuwanderung oder Armut; für São Paulo gibt es aber noch einen weiteren, wichtigeren Zusammenhang, nämlich die Performanz und Charakteristiken derjenigen Institutionen, die für die öffentliche Ordnung zuständig sind, also die Polizei, das Justizsystem und die Gesetzgebung.

Dazu kommen noch die weitverbreiteten privaten, illegalen Massnahmen der Verbrechensbekämpfung, welche das Justizsystem unterminieren und den Zyklus der Gewalt weiter anheizen.

 

Die Gewaltzunahme im Falle Brasiliens, und São Paulos im besonderen, kann mit den sozioökonomischen Bedingungen nur zum Teil erklärt werden, soziokulturelle Gründe sind genauso wichtig. Damit sind Ansichten über individuelle Rechte, autoritäre Verhaltensweisen und die Anwendung von Gewalt gemeint.

Die Befürwortung der Bevölkerung für die Anwendung von Gewalt, der Vertrauensverlust in Justizsystem und Polizei und deren Fähigkeit Konflikte zu lösen, sind ausschlaggebend für den Anstieg gewaltsamer Verbrechen.

Caldeira untermauert dieses Argument mit einer Studie von 1987: während Eigentumsdelikte signifikant mit Variablen wie Urbanisierung, Armut, Migration und Arbeitslosigkeit korrellieren, trifft dies bei Personendelikten (Mord, Vergewaltigung, etc.) nicht zu (Pezzin zitiert in Caldeira 1992:152f).

Die Erklärungskraft sozioökonomischer Variablen nimmt also ab je gewalttätiger ein Verbrechen ist. Diese Feststellung wird durch die Entwicklung in den 90er Jahren erhärtet: bei sich entspannender Wirtschaftslage nimmt die Anzahl Verbrechen mit Gewaltanwendung weiterhin zu. 

Dennoch sind die gesamtgesellschaftlichen Probleme wie Armut, Hunger und Arbeitslosigkeit strukturelle Ursachen, welche die Zivilgesellschaft und die Demokratie schwächen und damit ihren Teil zur Verbreitung von Verbrechen und Gewalt in Brasilien beitragen (Pinheiro 2000:49).

 

In einer weiteren Studie wird deutlich, dass Gefängnisinsassen eine überdurchschnittliche Bildung besitzen und dass eine Mehrheit von ihnen zum Zeitpunkt ihrer Festnahme einen Arbeitsplatz besitzt (Brand zitiert in Caldeira 1992:154). Diese Feststellungen widersprechen damit den gängigen Stereotypen. Dies hat sicher auch mit dem zunehmendem Organisationsgrad und der Professionalisierung der Kriminalität zu tun, welche sich in vermehrtem Schusswaffengebrauch, Drogenkriminalität, gross angelegten Überfällen und der Entführung von Geschäftsleuten ausdrücken lässt.

In den 80er Jahren wurden die Polizeikräfte massiv aufgestockt, neue Technologien werden eingesetzt, neue Polizeistationen geschaffen, dennoch können diese Investitionen in die öffentliche Sicherheit den Anstieg der kriminellen Handlungen nicht verhindern. Dies vor allem deshalb, weil die Polizei selbst vermehrt zu gewaltsamen Methoden greift und in die organisierte Kriminalität eingebunden ist; deshalb bleibt es fraglich, ob sie auch wirklich in der Lage ist, Kriminalität effizient zu bekämpfen.

Es ist nicht die Anzahl Polizisten oder die Qualität der Ausrüstung, welche den hohen Stand der Gewaltverbrechen erklären, sondern die gewaltsamen und illegalen Methoden, die von der Polizei anwendet werden. Damit sinkt auch die Akzeptanz der Menschenrechte, das Vertrauen in die Justiz und ihre Fähigkeit die Rechtsordnung durchzusetzen.

 

 

4.2.  Polizeigewalt und Rechtsordnung

 

Was an der Entwicklung in São Paulo besonders auffällt, ist nicht, dass die Anzahl gewalttätiger Verbrechen zunimmt, sondern dass Polizei und Justiz dazu noch beitragen, anstatt zur Verminderung beizutragen.

Gewalt und Illegalität werden dadurch verstärkt und die staatlichen Ordnungsinstanzen vermehrt umgangen.

Es sind hauptsächlich die ärmeren Bevölkerungsschichten, die unter der Polizeigewalt zu leiden haben und die dem Justizsystem misstrauen und die Polizei fürchten. Paradoxerweise unterstützt aber gerade auch die arme  Mehrheit der Bevölkerung eine hart durchgreifende Polizei. Zusammen mit der Gewaltbereitschaft privater Wachleute, deren Anzahl stark zunimmt, wird der Zyklus der Gewalt noch weiter verstärkt.

Die Missachtung der Menschenrechte ist an der Tagesordnung; und obwohl dies ist allen bekannt ist, führt es bedenklicherweise kaum zu erfolgreichen Protesten und Reaktionen dagegen.

War der Gewaltmissbrauch und die politische Unterdrückung während dem Militärregime eine geheime Sache, so werden die Zahlen der von der Polizei getöteten Personen heute von der Polizei selbst veröffentlicht, und von der Mehrheit der Bevölkerung als Zeichen der Effizienz und Schlagkraft der Polizei gewertet.

 

Physische Bestrafung war bis zur Abschaffung der Sklaverei 1888 gesetzlich geregelt. Danach haben sich die Bestrafungsmassnahmen in der Praxis aber nicht stark geändert. Repressive, illegale Praktiken existierten weiterhin und wurden je nach politischem Bedarf mit gesetzlichen Ausnahmeregelungen gestützt. Mit der Rückkehr zur Demokratie 1985 wurd diese Gesetzgebung über den Gebrauch von Gewalt nicht aufgehoben. Massnahmen, die früher gegen die politische Opposition gerichtet waren, werden heute zur Bekämpfung der Kriminalität aufrechterhalten.

Bestes Beispiel dafür ist die Schaffung der Militärpolizei (Polícia Militar) 1969, welche die bisherigen Ordnungskräfte vereinigte und der Armee unterstellte. Die Aktionen der Militärpolizei waren gegen die Guerillabewegung und die politische Opposition gerichtet; heute wird gegen Kriminelle gleich vorgegangen, wie damals gegen Staatsfeinde.

Mit einem Zusatzartikel in der Verfassung wurde die Militärpolizei 1977 der Militärjustiz unterstellt, dies gilt auch in Friedenszeiten und bei der Wahrnehmung ziviler Funktionen. Die neue Verfassung von 1988 machte diese Ausnahmeregelung zur Norm und gibt der Militärpolizei die Aufgabe die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.

Eine spezielle Abteilung der Militärpolizei, die Todesschwadronen (ROTA), gegründet 1969 um gegen Terroristen und Bankräuber vorzugehen, galt als besonders gewalttätig und ging bereits aufgrund geringer Verdachtsmomente gegen Personen vor und hielt diese ohne Begründung gefangen; Folter wurde häufig angewandt. Diese Vorgehensweisen blieben unter dem Militärregine toleriert und ungestraft, da sie zur Erhaltung der Macht der Militärs beitrugen.  In der Zeit von 1981 bis 1989 sind von den 580 angeklagten Polizeibeamten 362 freigesprochen worden; zudem kamen viele Fälle gar nicht vor Gericht, weil sich die Opfer vor Repressalien fürchteten oder nicht genügend Beweise hatten (Caldeira 1992:170).

 

Tabelle 8:   Tote und Verletzte bei Aktionen der Militärpolizei:

 

                                  Zivilisten                              Polizisten

Jahr                     getötet     verletzt                 getötet           verletzt

 

1982                     286            74                      26              897

1983                     328          109                      45              819

1984                     481          190                      47              654

1985                     585          291                      34              605

1986                     399          197                      45              599

1987                     305          147                      40              559

1988                     294            69                      30              360

1989                     532          n.b.                     32                n.b.

1990                     585          n.b.                     13                n.b.

1991                   1140          n.b.                     78              2520

 

Quelle: Caldeira 1992:173

 

Diese Daten zeigen die deutliche Zunahme der jährlich getöteten Personen, das Missverhältnis von getöteten Zivilisten zu getöteten Polizisten und von verwundeten Zivilisten zu getöteten Zivilisten. Diese deutlichen Missverhältnisse zeigen, dass die hohe Anzahl getöteter Zivilisten nicht als Unfälle dargestellt werden können und auch nicht auf die Gewaltanwendung der Kriminellen zurückzuführen sind, denn sonst müsste die Anzahl getöteter Polizisten auch entsprechend höher sein; dies ist nicht der Fall. Das Verhältnis getöteter Zivilisten zu getöteten Polizisten ist 7,8 : 1.

Eigentlich würde man erwarten, dass mehr Personen verwundet als getötet werden, dies ist bei den Polizisten der Fall: auf jeden getöteten Polizisten kommen 17 Verwundete. Bei den Zivilisten hingegen gibt es bedenklicherweise mehr Tote als Verletzte: das Verhältnis getöteter Zivilisten zu verwundeten Zivilisten ist 3 : 1. 

Dazu kommt noch, dass die Polizei ihre Schusswaffen vor allem gegen die an der Peripherie lebenden Armen einsetzt. Junge Männer zwischen 15 und 25 Jahren werden dabei am häufigsten getötet; die Anzahl der getöteten Schwarzen ist ebenfalls überproportional zu ihrem Bevölkerungsanteil.

Die Polizei verwechselt dabei häufig gewöhnliche Arbeiter mit den Kriminellen. Hier eine klare Grenze zu ziehen fällt nicht nur der Polizei, sondern auch Teilen der Bevölkerung schwer. Das Verhalten eines Arbeiters, der der Polizei misstraut, kann von dieser leicht als verdächtig eingestuft werden und deshalb zu Repressalien führen. Häufig genannte Gründe der Polizei zu misstrauen, sind, die schlechte Ausbildung der Polizisten und die bevorzugte Behandlung von Kleinkriminellen, weil sie von denen Bestechungsgelder annimmt.

Dies ist zugleich eine fundamentale Kritik am Staat und an der Regierung, welche keine ausreichenden Finanzmittel zur Verfügung stellt, keine moralischen Werte vermittelt und häufig in Korruptionsaffären verwickelt ist. Diese eklatante Führungslosigkeit der Polizei verstärkt in der Bevölkerung das Gefühl der Unischerheit. Die schlecht ausgebildete und unzureichend ausgerüstete Polizei kann das organisierte Verbrechen nicht eindämmen, erst recht nicht, wenn sie ihre Kräfte unkoordiniert und ungezielt einsetzt. Ohne eine verschärfte Strafgesetzordnung und abgekürzte Verfahrensweisen ist auch die Justiz den heutigen Aufgaben nicht gewachsen, das Ausbleiben der Strafe ist in vielen Gerichtsfällen zur Regel geworden, weil die Verfahren zu lange dauern und viele Rekursmöglichkeiten existieren (Veja 7.6.2000).

 

Nebst der Polizeigewalt hat auch die private Gewalt stark zugenommen. Besonders zu erwähnen sind hierbei die Kategorie der  Justiceiros, Gruppen privater Wachleute, die sich häufig aus Polizisten (ausserhalb ihrer Einsatzzeit) oder Expolizisten zusammensetzen, und die vor allem in der städtischen Peripherie agieren. Manchmal werden sie von lokalen Geschäftsleuten bezahlt, um in der Nachbarschaft für Ordnung zu sorgen; manchmal sind es Bewohner eines Viertels, die sich entschlossen haben, selbst für Ordnung im Quartier zu sorgen. Die Justiceiros sind wegen ihrer unzimperlichen Vorgehensweise und Gewaltanwendung häufig in den Schlagzeilen. Deren Massnahmen im Kampf gegen die Kriminalität werden aber von der Bevölkerung begrüsst.

 

Sehr häufig wird Gewalt gedankenlos gegen Leute angewendet, gegen die nur Verdachtsmomente bestehen, und die keine kriminelle Vergangenheit haben.

Bedenklich ist nicht nur das Ausmass der illegalen Aktionen der Verbrechensbekämpfung, sondern dass diese Vorgehensweisen meistens auch unbestraft bleiben.

Verständlicherweise misstraut die Bevölkerung der Polizei und Justiz; deshalb werden alternative, private Lösungen gesucht, Justiceiros und Wachpersonal, welche Gewalt und Illegalität wiederum verstärken.

 

Die Situation der Kriminellen scheint nicht die schlechteste zu sein, denn sie besitzen die Waffen um Leute bedrohen zu können und sie fürchten die Polizei nicht, weil sie wissen, wie man diese bestechen kann.

Die Arbeiterklasse hingegen sieht sich in der Klemme: einerseits fürchten sie die Willkür der Polizei, andererseits die Bedrohung durch die Kriminellen. Dazu kommt noch die Hoffnungslosigkeit, weil Kriminelle, die ein Bestechungsgeld bezahlen, innert kürzester Zeit wieder auf freiem Fuss sind und weil das Justizsystem nicht in der Lage ist für Gerechtigkeit zu sorgen.

Dies führt zu einem Gefühl der Machtlosigkeit und Verletzlichkeit, von wo es keinen Ausweg gibt ausser privater Rache.

Damit ist klar, dass die Polizei nicht in der Lage ist, der Arbeitern und der unteren Mittelklasse ein Gefühl der Sicherheit und des Schutzes zu vermitteln. Ein Grossteil der Bevölkerung ist der Ansicht, dass man sich um Sicherheit und Gerechtigkeit selber kümmern muss; deshalb erfährt die Herstellung von Gerechtigkeit mit gewaltsamen Methoden eine grosse Unterstützung, weil die Kriminellen dies so verdient haben. Hierbei werden Gewalt und Illegalität der Polizei von der Bevölkerung in einem positiven Licht gesehen, und nicht wie sonst gefürchtet. Die Polizei soll die Verbrecher bestrafen, ohne von ihnen bestochen werden zu können; dies hat jedoch nichts mehr mit Recht und Gesetz zu tun. Die rechtsstaatliche Ordnung geht hierbei verloren und die Rolle von Polizei und Justiz wird pervertiert; dies geschieht aus einer Logik heraus, bei der der alltägliche Missbrauch der Macht, die Anwendung von illegalen und ungerechten Praktiken und das Bedürfnis der Bevölkerung nach Gerechtigkeit und Rache vorherrschen. Dies aber verstärkt den Kreislauf der Gewalt und erhöht die Chancen, selbst ein Opfer zu werden.

Die Verfassung, das Rechtssystem und damit auch Demokratie und Menschenrechte werden als Formen der Ungerechtigkeit gesehen und als Willkür von der armen Bevölkerung erfahren. Zentral hierbei ist die Tatsache, dass so viele Verbrechen ungestraft bleiben und damit das Bedürfnis nach Gerechtigkeit nicht erfüllt wird.

Angehörige der Oberschicht hingegen werden von der Polizei selten mit Kriminellen verwechselt; sie können es sich leisten, Gesetze nicht zu respektieren, da die öffentliche Ordnung zu ihren Gunsten funktioniert.

Einerseits gibt es also Opfer von Willkür, Gewalt und ungerechter Behandlung durch Polizei und Justiz, andererseits gibt es Leute, die die Mängel dieser Institutionen zu ihren Gunsten ausnützen und sich die Freiheit nehmen, ihrem eigenen Gutdünken nach zu handeln und sich nicht an Gesetze zu halten brauchen. Damit verliert die Rechtsordnung in allen Bevölkerungsschichten ihre Legitimation (Pinheiro 1998:49ff).

 

Mit der Rückkehr zur Demokratie in den 80er Jahren wollte die Regierung Montoro in São Paulo auch die illegalen Aktionen der Zivilpolizei ausmerzen. Deshalb wurde geplant die autoritäre und ineffiziente Organisationsstruktur der Polizei zu reformieren, um Korruption und Machtmissbrauch einzudämmen. Dieser Versuch zeigte aber nur kurzfristige Erfolge, so führte zum Beispiel die verbesserte interne Untersuchung von Gewaltmissbrauch zu vermehrter Bestrafung von Polizisten.

Änderungen in Verhaltensweisen und Mentalität der Polizei herbeizuführen brauchen aber ihre Zeit; wenn der politische Wille die Polizeigewalt zu kontrollieren aber nur für wenige Jahre vorhanden ist, dann ist man sehr schnell wieder zurück in den alten Strukturen.

Dass diese Polizeireform fehlschlug, sieht Caldeira vor allem in der völlig fehlenden Unterstützung durch die Bevölkerung und die Polizei selbst (Caldeira 1992:209). In einem Klima der Gewalt ist es gerade auch die Mehrheit der Bevölkerung, welche härtere Massnahmen in der Kriminalitätsbekämpfung fordert.

Indem der Staat nicht willens ist, die polizeiliche und private Gewalt wirksam zu bekämpfen und die Akteure zu bestrafen, humane Bedingungen in den Gefängnissen zu schaffen und alle sozialen Schichten vor dem Gesetz gleich zu behandeln, kommt er in eine Legitimationskrise und das demokratische Rechtssystem wird ernsthaft in Frage gestellt (Pinheiro 1998:52).

 

Massnahmen um die Gewalt zu verhindern, wie die Entwaffnung der Bevölkerung oder die harte Bekämpfung der Drogenkriminalität, haben  hingegen kaum eine Chance nachhaltig umgesetzt zu werden.

Ebenso notwendig wäre eine Strukturreform in der Polizei, die Abschaffung der Militärjustiz, der Ausbau der Gefängniskapazitäten, die Förderung der Aus- und Weiterbildung der Polizisten sowie Prämien als Belohnung für gute Leistungen.

Was teilweise umgesetzt wird, aber nur in unzureichendem Masse, sind indirekte Massnahmen, wie der Bau von Infrastruktureinrichtungen, Schulen oder die Schaffung von Freizeitmöglichkeiten, welche die peripheren Gebiete aufwerten und damit zu einer Normalisierung der Lebensumstände führen sollen.

Die Bevölkerung versucht sich durch verschiedene Massnahmen selbst zu schützen, indem sie als gefährlich erachtete Orte vor allem nachts meidet, keine Wertgegenstände oder Schmuck mit sich rumträgt, die Autotüren immer von innen verschliesst, nachts an roten Ampeln nicht anhält, die Personen in der näheren Umgebung im Auge behält und sich nicht alleine an isolierten Stellen zu befinden. Trotz diesen Verhaltensweisen kann man sich aber nicht völlig sicher sein; die Einwohner São Paulos fürchten sich ständig davor das nächste Opfer eines Verbrechens zu werden (síndrome da próxima vítima). Besonders reiche Leute geben sich Mühe in öffentlichen Räumen nicht aufzufallen; protzige Limousinen werden durch Kleinwagen ersetzt, dafür hat sich die Anzahl gepanzerter Autos von 1997 bis 1999 verdoppelt (Veja 7.6.2000).

 

 

4.3.  Sicherheit als Privatangelegenheit

 

Sicherheitsdienste nehmen in São Paulo sehr stark zu. Dies lässt sich jedoch nicht nur auf die Anzahl verübter Verbrechen und Furcht der Bevölkerung zurückführen.

Die Schaffung von Sicherheitsdiensten nahm ihren Anfang 1969 unter dem Militärregime mit dem Gesetz über die nationale Sicherheit; damit wurden alle Banken verpflichtet einen Sicherheitsdienst zu unterhalten. Damit wurde ein ansehnlicher neuer Markt geschaffen, der sich seit dieser Zeit immer weiter ausdehnte. Während früher dieser Markt der öffentlichen Sicherheit unter staatlicher Aufsicht war,  ist er heute in den Händen privater Firmen. Diese unterstehen nur geringer staatlicher Konrolle, was wiederum illegale Praktiken und Missachtung von Gesetzen begünstigt und heute eine Konkurrenz zum staatlichen Gewaltmonopol darstellt.

Der Markt für private Sicherheit expandiert kräftig und weist hohe Profitraten auf. 1986 waren 51 Betriebe in diesem Sektor registriert, 1991 waren es 111 (mit 55’700 Wachleuten); 1999 wird die Anzahl der im Sicherheitsbereich tätigen Personen auf ca. 105'000 geschätzt (Veja SP 6.10.1999). 

Sie sind gut organisiert um ihre Marktvorteile auszuspielen und preisen ihre effizienten Dienstleistungen gegenüber der staatlichen Ineffizienz.

Dazu kommen noch einmal soviele direkt bei Unternehmen oder Privaten angestellte Wachleute.

Daneben gibt es noch einen grossen illegalen Markt für Wachpersonal, das häufig schlechter ausgebildet und unterbezahlt ist, Darunter sind oft auch Justiceiros zu finden, die sich auch kleine Geschäfte und weniger vermögende Privatpersonen leisten können um mit Sicherheitsproblemen fertig zu werden.

Die Nähe einiger dieser Unternehmen zu Justiceiros und illegaler Gewaltanwendung führt aber nicht zu vermehrter staatlicher Aufsicht; dies ist angesichts der Grösse dieses Marktes eine ernsthafte Bedrohung für das staatliche Gewaltmonopol.

 

Reaktionen auf die zunehmende Kriminalität und Gewalt geschehen in São Paulo vermehrt durch private und illegale Massnahmen. Diese Verschiebung vom Legalen zum Illegalen und vom öffentlichen in den privaten Bereich führt dazu, dass das Rechtssystem zur Konfliktregulierung umgangen wird (Pinheiro 1996:275f). Auf Gewalt wird mit privater Rache geantwortet, und es gibt keine staatliche Macht, welche dem Einhalt gebietet. Damit das Rechtssystem funktionieren kann, wäre es wichtig, seine Autorität und Legitimität aufrecht zu erhalten. Dies geschieht aber nur in ungenügendem Masse. Das Rechtssystem dient den Reichen zum Vorteil und den Armen zum Nachteil; deshalb hat es in den Augen vieler seine Legitimation verloren und ist ein unwirksames Mittel um Gewalt eindämmen zu können.

Sozioökonomische Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Verstädterung oder Einkommensverteilung reichen nicht aus, um den Anstieg der Gewalt zu erklären. Vielmehr müssen die Funktionsweise von Polizei und Justiz und die tägliche Anwendung ungerechter, diskriminierender Praktiken berücksichtigt werden (Pinheiro 2000:48).

 

 

 

 

5. Segregation

 

 

In der städtischen Entwicklung São Paulos lassen sich drei Muster erkennen: das erste dauerte vom späten 18. Jahrhundert bis in die 1940er Jahre. Die verschiedenen sozialen Gruppen waren auf geringem städtischen Raum zusammengedrängt; abgetrennt voneinander durch verschiedene Arten des Wohnens.

Das zweite Muster ist die Entwicklung von Zentrum und Peripherie, wobei die sozialen Gruppen durch grosse Distanzen getrennt wurden. Die Mittel- und Oberschicht konzentrierten sich dabei auf zentrumsnahe Viertel, während die Ärmeren an die Peripherie vertrieben wurden. Diese Form dominierte von den 40er Jahren bis in die 80er Jahre.

Dem dritten Muster liegt auch das Zentrum-Peripherie-Modell zugrunde; dieses unterlief aber einen Heterogenisierungsprozess, geprägt von Gentrifizierung und Verarmung.

Die Wirtschaftskrise der 80er Jahre führte dabei zu einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten; an der Peripherie hingegen führte die Verstädterung dazu, dass auch dort die Kosten stiegen und die Ärmsten deshalb in umliegende Städte abgedrängt wurden oder sich in zentralen Gebieten, die an Wert verloren hatten, niederliessen.

Dazu kommt ein weiterer Prozess der Dezentralisierung der Oberschicht, welche dem Zentrum entfliehen wollte und sich in geschlossenen Enklaven in der Peripherie niederliess. Diesem Trend folgten ebenfalls die Einkaufszentren, Supermärkte und Bürogebäude, die sich auch in Gebieten niederliessen, wo bis anhin nur die arme Bevölkerung gewohnt hatte.

Diese neue Nähe unterschiedlicher sozialer Gruppen zeitgleich mit einer ökonomischen Krise und in einem Umfeld der Unsicherheit und Furcht vor Verbrechen führte zu neuen sichtbaren Formen der Segregation: Mauern, Zäune, elektronische Identifizierungs- und Überwachungsanlagen und bewaffnete Wachleute helfen der Oberschicht sich vom Rest der Bevölkerung abzugrenzen und soziale Interaktionen zu verhindern. Abgrenzung dient dem Zweck soziale Unterschiede zu markieren, zu verstärken, und die richtige Ordnung herzustellen.

 

Befestigte Enklaven (condomínios fechados) haben sich in São Paulo wie anderswo in Grossstädten auf der Welt herausgebildet und die Art des Lebens verändert. Befestigte Enklaven sind privatisierte, eingezäunte und überwachte Räume, welche zum Wohnen und Arbeiten genutzt werden und in denen man konsumiert und die Freizeit verbringt. Sie stellen den bisher vollkommendsten Ausdruck der Selbstsegregation dar.

Ein Grund sich abzugrenzen, liegt in der ungleichen Einkommens-verteilung, die in Brasilien besonders stark ist und die durch die Wirtschaftskrise in den 80er Jahren noch verstärkt wurde.

           

Tabelle 9:   Einkommensverteilung der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung:

 

Brasilien

1960

1970

1980

50% der Armen

17,4%

14,9%

12,7%

20% der Reichsten

54,8%

61,9%

66,1%

10% der Reichsten

39,6%

46,7%

51,0%

                     Quelle: Dowbor 1992

 

Das reichste Prozent der Bevölkerung erreichte 1988 15% des gesamten Einkommens, während die ärmeren 50% der Bevölkerung gerade mal 13% des Einkommens erwirtschafteten (Dowbor 1992:2).

Sichtbar gemacht werden die Einkommensunterschiede durch die räumliche Trennung von Arm und Reich. Hohe Mauern und Zäune, Wachmannschaften, sowie neue Überwachungstechnologien dienen dazu, die Armen, die von den Reichen als eine mögliche Bedrohung wahrgenommen werden, fernzuhalten.

 

Die Zahl der gemischten Wohngegenden hat zwischen 1977 und 1987 um über 50% von 33 auf 56 zugenommen, während sich die Anzahl reicher Wohngegenden von 13 auf 11 und diejenige armer Wohngegenden von 34 auf 25 verringerte (Novy in Feldbauer 1997:272). Die Wohnviertel der Mittelschicht hingegen verschwanden gänzlich; die Mittelschicht verarmte zusehends und vermischte sich mit der Unterschicht.

 

Für die Mittelschichten wurde der Erwerb eines Eigenheimes im Zentrum immer schwieriger; deshalb hat im Zentrum eine Nivellierung nach unten stattgefunden: die Mittelschichten ziehen eher an den Stadtrand, wo das Bauland noch erschwinglich ist, während es im Stadtzentrum nun wieder einige Viertel mit einem Bevölkerungsanteil von 40-60% an Armen gibt (Novy in Feldbauer 1997:272).

Damit hat aber nicht die Segregation abgenommen, sondern nur die physischen Distanzen. Die physischen Mechanismen, welche die Armen von den Reichen trennen, wurden verstärkt und sind in letzter Zeit immer komplexer geworden.

Ein wichtiger Grund dafür ist die zunehmende Kriminalität in den neunziger Jahren, vor allem aber die Anzahl der schweren Verbrechen. Der Anstieg der Gewalt, die Unsicherheit und die Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, haben dazu beigetragen, dass die Bürger versuchen, sich zu schützen, wo immer es möglich ist. Im Bereich der Sicherheitselektronik waren 1988 weniger als 100 Unternehmen tätig, 1998 stieg deren Anzahl auf mehr als 900 an (Veja SP 28.10.1998).

Physische Barrieren wurden überall um Wohnhäuser, Parkanlagen, Bürogebäude, Einkaufszentren und Schulen errichtet, um sie vom öffentlichen Raum, von den Strassen, abzutrennen.

Diese Anlagen haben gemein, dass sie Privateigentum zum Zweck des kollektiven Nutzens sind. Freizeitangebote, Einkaufsmöglichkeiten und Arbeitsplätze sind nur den Bewohnern solcher Anlagen zugänglich. Diese condomínios fechados (geschlossene Wohnanlagen) sind gegen innen gerichtet, ihre Zugänge werden bewacht; ihre Benutzer tendieren dazu, sozial homogen zu sein und der Mittel- und Oberschicht anzugehören.

 

Bis in die siebziger Jahre hinein waren die peripheren Regionen São Paulos die Wohngebiete der Armen. Aufgrund der günstigen Landpreise wurde dann aber stark in diese Landflächen investiert. Wohnresidenzen, Bürogebäude und Einkaufszentren wurden gebaut, so dass in den 80er Jahren die Peripherie (vor allem im Südwesten und Westen) das stärkste Bevölkerungswachstum der Region erlebte; im Zentrum ging das Wachstum hingegen markant zurück, das Gebiet wurde wegen dem riesigen Verkehrsaufkommen, fehlender Investitionen und der starken Konzentration sozial marginalisierter Bevölkerungsgruppen abgewertet. Somit begann der Trend, dass die vermögenden Bevölkerungsgruppen und der bessergestellten Schichten São Paulos von Zentrum wegziehen und in der Folge auch Dienstleistungen, Handel und öffentliche Investitionen an die Peripherie nachzuziehen.

 

Schnellstrasse im Zentrum: Av. Prestes Maia

 

 

Das Leben in solchen befestigten Enklaven wird als Statussymbol gesehen, das soziale Distanz schafft und Möglichkeiten bietet die soziale Differenz geltend zu machen. So werden in der Werbung Begriffe wie Trennung oder Schutz als prestigeträchtig verwendet. Eine eingegrenzte, isolierte Gemeinschaft in einem sicheren Umfeld und ein Leben unter Gleichgestellten gelten als Ideale, die vermittelt werden. Demgegenüber wird das Leben in der Stadt mit negativ beladenen Vorstellungen wie Verschmutzung, Verkehr, Lärm oder sozialer Vermischung assoziiert.

 

Blick vom Zentrum Richtung Süden (Aclimação, Moema, Av.Paulista)

 

In den geschlossenen Wohnanlagen mit luxuriösen Eigentumswohnungen werden innerhalb ihrer Mauern alle möglichen Dienstleistungen angeboten; es gibt Ärzte, Einkaufszentren, Sportmöglichkeiten und organisierte Kurse für jedermann. Es erscheint einem gar nicht mehr nötig, diese Umgebung überhaupt verlassen zu müssen, da die verschlechterte Lebensqualität der Stadt und das öffentliche Leben als eine schlechte Alternative zu diesen Annehmlichkeiten erscheinen.

 

Die Isolation und Distanz von der Stadt wird gleichgesetzt mit einem besseren Lebensstil. Die Sicherheit der Wohnanlagen ist dabei von entscheidender Bedeutung, um Zufriedenheit und Harmonie im Innern zu gewährleisten.

Um all diese Aufgaben für die Bewohner solcher Anlagen zu erfüllen, braucht es ein Heer von Bediensteten, Angestellten und Sicherheitspersonal. Die Verwendung von verschiedenen Angestellten für alltägliche Aufgaben wird zu einem Statussymbol.

Dabei wird in den öffentlichen Teilen der Anlagen besonders auf die Trennung der Klassen geachtet, indem zum Beispiel getrennte Eingänge und Fahrstühle für Bewohner (social) und Bedienstete (serviço) existieren, obwohl diese oftmals gleich nebeneinander sind und nicht speziell räumlich getrennt werden.

 

Die meist schlecht bezahlten Angestellten, die manchmal gleich in den Favelas jenseits der Mauern der Wohnanlagen zuhause sind, unterstehen bei ihrer Arbeit strengen Kontrollmechanismen. Denn, obwohl die Oberklasse auf diese Angestellten angewiesen ist, fürchtet sie den Kontakt zu den ärmeren Schichten.

Die Reichen stehen in einem Verhältnis zu den Armen, das einerseits von Ausweichen und Misstrauen, andererseits von Abhängigkeit und Intimität geprägt ist.

 

Diese befestigten Wohnanlagen stellen eine neue Art der Organisation sozialer Unterschiede dar, die Segregation herstellt. Caldeira macht diese Absicht an mehreren Punkten fest (Caldeira 1996:314):

 

1.                es werden physische Barrieren wie Mauern und Zäune verwendet,

2.                grosse leere Räume schaffen Distanz und entmutigen das zu Fuss gehen,

3.                private Sicherheitssysteme garantieren Kontrolle und Überwachung im Innern,

4.                die Enklaven sind abgeschlossene Lebenswelten (private universes), die in ihrer Gestaltung und Organisation gegen innen gerichtet sind

5.                die Enklaven sind unabhängige Welten, die das Leben draussen als negativ bewerten,

6.                die Enklaven vermeiden eine Beziehung zu ihrer physischen Umgebung.

 

Diese Enklaven kommen in verschiedenen Formen und Grössen vor; ihnen ist aber gemeinsam, dass sie nach innen gerichtet sind, physisch isoliert von der Umgebung, sozial homogene, private Grundstücke für kollektiven Gebrauch, deren Zugänge von Sicherheitspersonal kontrolliert werden. Damit werden neue Grenzen zwischen den sozialen Gruppen geschaffen um sie voneinander fernzuhalten.

 

Jemand, der in einer solchen Enklave arbeitet oder eine Dienstleistung erbringt, wird durch den Dienstboten- oder Hintereingang hineingelassen und muss die Rituale der Identifikation und der damit verbundenen sozialen Erniedrigung über sich ergehen lassen. Die Bediensteten und Angestellten werden dabei von Angehörigen der eigenen sozialen Schicht kontrolliert; es besteht dabei grosser Spielraum für Diskriminierungen, besonders gegen Frauen.

 

 

Der hügelige Stadtteil Morumbi symbolisiert wohl am besten diese neueren Entwicklungen. Wo früher nur Herrenhäuser und freie, grüne Grundstücke waren, steht heute eine grosse Anzahl Wolkenkratzer.

 

 

Blick über ein freies Grundstück auf Hochhäuser in Morumbi

 

 

Die billigen Landpreise führten zu einer enormen Bautätigkeit; dabei wurden mehrheitlich luxuriöse Apartment-Hochhäuser gebaut. Deshalb nahm die Bevölkerungsdichte im Gebiet Real Parque in Morumbi von 1977 bis 1987 um 558,36% zu !  Andere Gebiete in Morumbi, wie zum Beispiel  Paraisópolis, weisen auch Zunahmen von mehr als 100% auf (Caldeira 1992:257).

 

 

Hochhäuser, Real Parque, Morumbi

 

 

Nicht nur das Ausmass der Bautätigkeit war neu, sondern die Tatsache, dass vor allem geschlossene Wohnanlagen gebaut wurden.

Der erste solche Komplex in Morumbi wurde 1976 eröffnet und umfasst 16 Hochhäuser mit je 25 Stockwerken. Diese Siedlung ‚Portal do Morumbi’ hat 800 Wohnungen, die Hälfte davon mit 4 Schlafzimmern. Die Häuser sind von grossen Parkanlagen umgeben. Die gesamte Infrastruktur musste neu erstellt werden, weil diese Siedlung mitten ins Nirgendwo gebaut wurde.  Die künftige Entwicklung dieses Gebietes wurde damals aber falsch eingeschätzt, so dass die Bewohner heute mit riesigen Verkehrsproblemen zu kämpfen haben.

 

Das Gebiet an der Avenida Giovanni Gronchi mit seinen Luxusbauten steht im Kontrast zu Paraisópolis, der mit über einer Viertel Million Bewohnern grössten Favela São Paulos, die gleich nebenan liegt und wo viele der in den Enklaven Angestellten wohnen.

 

mit hohen Mauern umgebene Wohnanlage, Real Parque, Morumbi

 

 

Favela, gegenüber auf der anderen Strassenseite, Real Parque, Morumbi

 

 

Die chaotische Entwicklung in Morumbi war geprägt von wenig Planung und staatlicher Kontrolle und folgte nur den Interessen der Baugesellschaften. Morumbi ist bis heute nur mit wenigen Brücken über den Rio Pinheiros mit dem Rest der Stadt verbunden; die Strassen sind schlecht und Verkehrsstaus sind an der Tagesordnung, der öffentliche Verkehr lässt sehr zu wünschen übrig. In Morumbi fehlen noch immer kleinere Geschäfte und Einkaufsmöglichkeiten, so dass die meisten Leute auf ein Auto angewiesen sind, wenn sie etwas einkaufen wollen; dies ist nur ein weiterer Nachteil für die ärmere Bevölkerung.

 

Viele gute Privatschulen haben sich in Morumbi angesiedelt. Die Schüler werden meistens mit dem Auto zur Schule gebracht oder werden abgeholt; sie gehen aber nicht zu Fuss und benützen auch nicht die öffentlichen Busse.

Einige Viertel, wie Morumbi, erscheinen nicht unter denjenigen Stadtteilen mit den höchsten Einkommen, weil hier die Koexistenz von Reichen in ihren geschlossenen Enklaven und Armen in Favelas und Cortiços das Durchschnittseinkommen tiefer hält.

 

neue Gebäude, Av. Berrini, Brooklin

 

In anderen Stadtteilen wie Alto de Pinheiros, Vila Olímpia, Itaim Bibi, Brooklin oder entlang der Ausfallstrasse ‚Castelo Branco’ Richtung Westen, ergab sich durch die Errichtung von Wohnblöcken, Bürogebäuden und Einkaufszentren ein Nebeneinander verschiedenster Funktionen.

 

 

Ponte do Morumbi, Sicht auf neue Wohn- und Geschäftsgebäude in Brooklin

 

Dies erfolgte gleichzeitig mit einem Strukturwandel in der Wirtschaft. War São Paulo seit den 50er Jahren das grösste industrielle Zentrum des Landes, so sind diese Funktionen auf andere Teile der Metropolitanregion und des Staates São Paulo ausgelagert worden. São Paulo ist zu einem Finanz-, Handels- und Dienstleistungszentrum geworden. Diese Arbeitsplätze sind aber nicht mehr im Zentrum angesiedelt, sondern in westlichen und südwestlichen Stadtteilen, die bis anhin noch nicht urbanisiert waren.

 

Diese Gebäude sind autonome, private Anlagen, welche von ihrer physischen Umgebung ziemlich unabhängig funktionieren. In allen diesen Gebieten zeigen sich die soziale Heterogenität durch das Nebeneinander der Favelas und der geschlossenen Enklaven.

 

São Paulo ist heute stärker diversifiziert und heterogen als vor 20 Jahren. Die soziale Segregation hat neue Formen angenommen. Mit dem Entstehen der geschlossenen Enklaven, der peripheren Bürogebäuden und Einkaufszentren werden Segregation, Diskriminierung und Unterscheidungsmerkmale neu organisiert und ausgedrückt. Die neue Nähe von Arm und Reich führt zur Errichtung physischer Schranken und Kontrollsystemen um die Klassen voneinander zu trennen.

 

 

Centro Empresarial

 

Der Wunsch dem Raum des Verbrechens zu entfliehen und in einer sozial homogenen Gruppe zu leben, führte die Mittel- und Oberschichten immer weiter an die Peripherie, wo bis anhin nur arme Leute gelebt haben. Diesen wird durch die Mauern der Zugang verwehrt, oder wenn sie als Angestellte hineingelangen, dann unterstehen sie einer strikten Kontrolle und Überwachung.

Weil die geschlossenen Enklaven nur nach innen gerichtet sind, sind sie relativ unabhängig von ihrer äusseren Umgebung.

Die Errichtung solcher Enklaven führte nicht nur zu einer starken Verstädterung peripherer Gebiete, sondern auch zu einer sozialen und funktionalen Diversifikation der westlichen und südwestlichen Regionen.

Die ganz arme Bevölkerung kann sich als Folge dieses Wandels und der Wirtschaftskrise den Hausbau in diesen peripheren Regionen nicht mehr leisten und wird in die Vorstädte vertrieben oder zieht zurück in die Cortiços in zentrumsnahen Gebieten, was dort wiederum zu sozialen Spannungen führt.

Die peripheren Gebiete, in welchen vor allem die Arbeiterklasse lebt und die in den letzten Jahren zahlreiche Verbesserungen erfuhren, werden auch zusehends für die verarmte Mittelschicht des Zentrums attraktiv.

 

 

Alphaville / Tamboré

 

Nebst den geschlossenen Enklaven, die in die Höhe gebaut werden, wie in Morumbi, gibt es auch grossflächige Enklaven, die nur aus Einfamilienhäusern bestehen, welche aber nicht voneinander durch Mauern oder Zäune getrennt sind.  Diese Enklaven bildeten sich zur selben Zeit heraus, wie diejenigen in Morumbi. Die grösste und älteste solche Enklave ist Alphaville; sie wurde auf einer Fläche von 26 Millionen  Quadratkilometern, verteilt auf zwei Gemeinden, gebaut und ist in mehrere eingezäunte Wohngemeinschaften unterteilt; dazu kommen noch etliche  Geschäfts- und Bürogebäude. Alphaville ist kein fertiges Produkt, im Verlaufe der Zeit kamen und kommen noch weitere Wohngemeinschaften dazu.

 

 

           

 

Häuser in Alphaville

 

 

Die Bevölkerung von Alphaville wurde auf 20'000 festgelegt; bis 1998 stieg deren Zahl bereits auf 30’000 an, darunter zunehmend auch Angehörige der Mittelschicht. Die tägliche Fluktuationsrate lag 1991 bei 75'000 Leuten, welche in Alphaville zur Arbeit gingen, 1998 sind es bereits mehr als 150’000. Die Gewährleistung der Sicherheit ist bei solch hohen Zahlen von besonderer Bedeutung. Alphaville unterhält deshalb seine eigenen privaten Sicherheitskräfte, welche mit 300 Fahrzeugen ausgestattet sind (Veja SP 28.10.1998).

 

 

   

                               Quelle: O Estado de São Paulo 19.5.2001

 

Werbung für Alphaville: Natur, unverbaute Aussicht, luxuriöse Empfangshalle und Freizeiteinrichtungen werden angepriesen

 

 

Mauern, Zäune und andere Kontrollmechanismen gehören heute zur Grundausstattung jedes neugebauten Hauses und sind voll integriert; Zäune werden aber auch um öffentliche Parkanlagen gebaut, um den Zugang vor allem nachts zeitlich einzuschränken.

Erst in den 90er Jahren wurde es dank einem neuen Gesetz möglich, öffentliche Strassen zu schliessen, so dass nur noch die Anwohner Zugang dazu haben. Dies kommt vor allem in den Wohngegenden der Mittel- und Oberschicht vor.

 

öffentliche Strasse mit kontrolliertem Zugang, Morumbi

 

Als eine Folge der Sicherheitsstrategien wird in der Stadt der öffentliche Zugang zu Strassen und Parkanlagen eingeschränkt, genauso wie auch viele Geschäftsgebäude keinen Einlass ohne entsprechende Ausweispapiere gewähren oder noble Einkaufszentren ihre Eingänge überwachen lassen.

Die Qualität und der Umfang der Sicherheitsmassnahmen sind die neuen Statussymbole.

Diese Massnahmen gewähren aber nicht nur Schutz, sie verändern auch das Gesicht der Stadt, die Zirkulationsmuster und Verhaltensweisen in bezug auf die Benützung der Strassen und des öffentlichen Verkehrs.

Man fühlt sich leicht in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt und kontrolliert; man geht weniger aus und gesellige Aktivitäten werden eingeschränkt. Spannung und Misstrauen bestimmen die Begegnungen in der Öffentlichkeit, jeder ist suspekt und erscheint als potentieller Krimineller.

Die Sicherheitsmassnahmen und die Herausbildung der Enklaven sollen die Furcht Opfer eines Verbrechens zu werden mindern, aber gleichzeitig verstärken sie sie, weil die Mauern, Zäune und Wachleute auch einschüchtern, isolieren, trennen und Distanz schaffen.

 

                                                                       Quelle: O Estado de São Paulo 22.5.2001

 

Werbung für elektronische Überwachungsgeräte:

„Wachhunde können sich nach einer anderen Arbeit umsehen...“

 

Massnahmen gegen Verbrechen dienen so dort der sozialen Segregation, wo Arm und Reich nahe beieinander wohnen und allgemein einer Verhaltenskontrolle am Arbeitsplatz, in Banken, Schulen oder Einkaufszentren.

Indem materielle und symbolische Mauern separieren und Distanz schaffen, verstärken sie bei den Ausgeschlossenen das Gefühl der Einschränkung. Segregation und Ungleichheit prägen das öffentliche Leben auf der Strasse, aber auch in Wirtschaft, Politik und Justiz und werden bewusst eingesetzt von Eliten, die an der Macht sind.

Der Spruch ‚Für die Freunde alles, für die Feinde das Gesetz’ (para os amigos, tudo; para os inimigos a lei), der Präsident Vargas zugeschrieben wird, verdeutlicht, wie die Anwendung der Gesetze in der brasilianischen Gesellschaft wahrgenommen wird (Caldeira 1992:281).

 

Öffentliche Räume werden von den Eliten vermieden und aufgegeben. Wie man die Strasse oder öffentliche Plätze benutzt, zu Fuss oder mit dem Auto, ist zu einem Symbol für die Klassenzugehörigkeit geworden. Private Enklaven unterbinden das, was das öffentliche Leben ausmacht, nämlich die Offenheit von Strassen und Plätzen zum Zwecke der Zirkulation und der Begegnung aller Menschen, ungeachtet ihrer sozialen Zugehörigkeit. In diesem Sinne steht die Entwicklung in São Paulo im Gegensatz zu Haussmanns Ideal der modernen Stadt wo öffentliche Räume als ein Ort der Begegnung und des jedermann zugänglichen, öffentlichen Lebens genutzt werden (Caldeira 1996:315). Die städtischen Transformationen in São Paulo ersetzen demgegenüber Werte wie Offenheit und Egalität durch die verstärkte Abtrennung und Ungleichheit. Diese neue Form des Städtischen verändert das öffentliche Leben und wie die Leute interagieren.

 

 

Vale do Anhangabaú

 

Die anonyme Begegnung unter Fussgängern in öffentlichen Räumen soll unterbunden werden, Einkaufszentren werden von den Strassen ferngehalten. Die Ideale moderner Architektur und Stadtplanung, nämlich die Gestaltung des modernen öffentlichen Raumes und des sozialen Lebens um Egalität und Transparenz zu schaffen, werden aufgegeben. Entgegen der Vorstellung Sennetts (1994), dass sich das Städtische vor allem durch eine Neugier dem Fremden gegenüber auszeichnet, flieht die Oberschicht vor dem Kontakt mit dem Unbekannten. Der öffentliche Raum der Stadt, die Einkaufsstrassen und Fussgängerzonen werden nur von der Mittel- und Unterschicht benützt.

 

 

   

  Quelle: Ferraz de Lima 1997:129

 

 Rua Gen.Carneiro, Sé 1914                                   Rua Gen.Carneiro, Sé 2001

 

Die befestigten Enklaven sind nur gegen innen gerichtet, das Äussere wird ignoriert, Integration ins städtische Umfeld wird vernachlässigt. Dementsprechend wird das öffentliche Leben aus der Distanz betrachtet, als gefährlich empfunden und negativ bewertet.

 

Während die Räume der Reichen abgegrenzt und gegen innen gerichtet sind, bleibt der Raum draussen denjenigen überlassen, die es sich nicht leisten können drinnen zu sein. Die räumliche Segregation hebt damit die sozialen Unterschiede hervor. Begegnungen von Leuten unterschiedlicher sozialer Gruppen nehmen ab, man bleibt vornehmlich in einer sozial homogenen Umgebung.

Wenn in einer solchen Stadt diese Abgrenzungen dennoch überschritten werden fühlt man sich unsicher und ungeschützt.

 

 

in Higienópolis

 

 

Die in den Medien alltägliche Präsenz von Gewalt und Kriminalität in der Stadt verstärkt die stereotypen Vorstellungen von bestimmten sozialen Gruppen, denen man besser aus dem Weg gehen sollte. So werden analog zu den physischen Abgrenzungen auch die mentalen Schranken erhöht; man wird weniger flexibel im Umgang mit anderen sozialen Gruppen, die man als eine mögliche Bedrohung wahrnimmt. So wird es als ganz natürlich empfunden, dass Distanz und Ungleichheit so grosse Bedeutung zugemessen wird.

 

Die grossen Unterschiede zwischen den sozialen Schichten führten zu einer Verschlechterung des sozialen Klimas, zu einer Verrohung der Gesellschaft, zu einer Militarisierung des Alltags, zu einer Eskalation von Gewalt und Gegengewalt, zu einem Kampf zwischen der Verteidigung der eigenen Interessen und dem städtischen Lebensraum (Kohlhepp 1997:18). So erstaunt es wenig, dass die Kriminalität eine jährliche Zuwachsrate von über 7% aufweist. Neben der zunehmenden Arbeitslosigkeit tragen auch der vermehrte Drogenkonsum und der allgemeine Werteverlust zu einer Verhärtung der Fronten bei.

 

Wenn Leute anderer sozialer Gruppen nicht mehr als Mitbürger angesehen werden, ist dies nicht demokratieförderlich und kann zu einer Erosion des demokratischen Rechtsstaates führen, da die Ansprüche der verschiedenen sozialen Gruppen, die in getrennten Welten leben, nicht mehr miteinander vereinbar sind. Toledo Silva begründet die Gleichgültigkeit, mit der die Elite der verarmten Bevölkerungsmehrheit gegenübersteht mit der  Vorbildrolle der einstigen Kolonialherren (Toledo Silva 1997:181f). Diese, meiner Meinung nach ungenügende und reduzierte Erklärung, verneint die Eigenverantwortung der Eliten für die sozial prekäre Situation im heutigen Brasilien seit der Zeit der Unabhängigkeit.

 

Der mangelnde Kontakt zu Angehörigen anderer sozialer Schichten, die ständige Überwachung und Diskriminierung der Angestellten, sowie die Unkenntnis über die schwierigen Lebensumstände der Mehrheit der Bevölkerung führen bedenklicherweise dazu, dass Angehörige der Oberschicht den ärmeren Teil der Bevölkerung verachtet und sich selbst als bessere, überlegene Menschen sieht. Dieser selbstherrliche Eindruck wird durch die einseitige Anwendung der Gesetze zugunsten der Eliten und die vermehrte private Handhabung von Gewalt noch verstärkt.

 

Die Strassen und öffentlichen Räume in der Stadt sind aber nicht leer, sondern werden von den Mittel- und Unterschichten benutzt. Besonders  das historische Zentrum, die Geschäftsstrassen Avenida Paulista und Avenida Faria Lima sind tagsüber voll von Menschen, die zur Arbeit oder einkaufen  gehen.

 

Praça Anhangabaú und Viaduto Santa Ifigênia

 

 

Die Nutzung der Strassen und Plätze geschieht aber auf eine angespannte Weise, weil man sich fürchtet ausgeraubt zu werden. Deshalb trägt auch niemand Wertgegenstände mit sich rum.

Die von Caldeira beschriebene Agression bei der Benützung öffentlicher Transportmittel während den Hauptverkehrszeiten und Missachtung von Verkehrsregeln (Caldeira 1992:278) kann ich hingegen nicht bestätigen. Im Gegenteil, der Verkehr, wenn er denn vorwärts kommt, bewegt sich erstaunlicherweise in geordneten Bahnen; bei der geringsten unabsichtlichen Berührung in der Öffentlichkeit, entschuldigt man sich sofort. Dies ist eine Verhaltensweise, die ich in anderen brasilianischen Städten nicht beobachten konnte. Das hat sicher auch damit zu tun, dass sich die Paulistas besonders bemühen, nicht in unangenehme Situationen zu geraten und dabei möglicherweise Opfer eines Verbrechens zu werden.

 

Avenida 23 de Maio

 

 

Aktivitäten in der als gefährlich empfundenen Öffentlichkeit werden wenn möglich vermieden, weil die privaten Räumlichkeiten, deren Schutzmechanismen den sozialen Status ausdrücken, vorgezogen  werden; am deutlichsten wird dieser neue Lebensstil durch die befestigten Enklaven ausgedrückt.

 

Diese Enklaven werden in der Werbung als die Erfüllung der Träume präsentiert. Freie, grüne Natur und glückliche Freizeitaktivitäten vermitteln das Bild einer heilen Welt, die man sich nur noch zu erkaufen braucht.

Eine reichhaltige Ausstattung, Sicherheitssysteme und ein grosses Dienstleistungsangebot bieten einen gehobenen Lebensstil.

Die Art des Wohnens und seine Lage zeigen den sozialen Status der Bewohner auf. Dabei sind Enklaven an sich ein Zeichen von Reichtum und sozialer Distinktion, denn arme Leute können es nicht leisten, dort zu wohnen.

 

 

 

 

  

Quelle: Veja SP, Mai 2001                                                            Quelle: Veja SP, Mai 2001

 

Werbung für Tamboré 6:                           Werbung für Parque dos Manacas:

glückliches Familienleben und                      staufreie Zufahrtswege, bewachtes

  sorglose Freizeitaktivitäten                            Eingangsportal und grosszügige

 werden angepriesen                                 Freizeitanlagen werden angepriesen

 

 

Zu einer Luxuswohnung gehören mehrere Schlafzimmer, Aufenthaltsräume und Parkplätze. Generell gilt, je mehr Fläche und Räume, desto besser. Besondere Zugänge und Zimmer für Hausangestellte gehören auch zu einer Luxuswohnung; sie sind aber deutlich kleiner dimensioniert als die Räume der Eigentümer. In einem Luxushochhaus belegt eine Wohnung üblicherweise auch gleich eine Etage; somit hat man keine direkten Nachbarn, was wiederum das Gefühl der Sicherheit verstärkt.

 

 

                                         Quelle: Folha de São Paulo 26.5.2001

 

Werbung für eine luxuriöse Etagenwohnung, Domani Parque, Moema:

4 Schlafzimmer, mehrere Ess- und Aufenthaltsräume, getrennte Zugänge für Bewohner und Angestellte; eng bemessener Aufenthaltsbereich für Hausangestellte.

 

Sicherheitssysteme und Wachpersonal gehören zum Standard und verdienen häufig keine besondere Erwähnung mehr.

Gemeinschaftsanlagen, wie Swimmingpool, Fitnesscenter und Grillanlage (churrasqueira) sind unentbehrlich.

 

Diesem luxuriösen Ambiente gibt das I-House-Projekt mit seiner fortschrittlichen Technik noch einen besonderen Akzent. The innovative house, eine geschlossene Enklave bestehend aus 12 Häusern, die in einem noblen Teil im südlichen Morumbi gebaut werden wird, setzt auf Design und modernste Technik und Materialien.

 

     

   I-House Wohnzimmer                                          I-House Badezimmer

 

 

Besonders zu erwähnen sind hierbei, dass die Tür nur per Scan des Fingerabdruckes geöffnet wird, was zusätzliche Sicherheit bedeutet, oder dass die Aussenfenster sich bei Bedarf automatisch abdunkeln, dass das Badewasser per Telephon auf die richtige Temperatur eingestellt werden kann.

 

 

die Tür öffnet sich nur per Scan des Fingerabdrucks

 

Es gibt nur wenige Quartiere, die nicht mit Apartment-Hochhäusern durchsetzt sind, und deshalb bevorzugte Wohngegenden für diejenigen Reichen sind, die nicht in geschlossene Enklaven ziehen wollen und deren  Herrenhäuser dafür hoch eingezäunt und stark bewacht werden. Das Bedürfnis im eigenen Haus zu wohnen, gründet auch auf dem Misstrauen gegenüber Leuten der eigenen sozialen Schicht; diesen kann man durch Selbstisolation aus dem Weg gehen. Man hat im eigenen Haus eine bessere Kontrolle über die Kinder und den Kontakt mit den Nachbarn.

 

Villa in Morumbi

 

Im Gegensatz zum eigenen Haus wird das Leben in einer geschlossenen Enklave allgemein als sicherer betrachtet. Die Enklave bietet einen neuen, alternativen Lebensstil, der isoliert und unabhängig vom Rest der Stadt und der Gesellschaft funktioniert. Die Enklave wird als eine grüne Oase der Freizeit angepriesen, ohne Sicherheitsprobleme, Stress und Verkehr. Die Enklave ist die Antithese zur Stadt, welche mit Chaos, Vermischung sozialer Klassen, Gewalt, Verschmutzung und Lärm gleichgesetzt wird (Caldeira 1992:306).

Das tägliche Leben wird so organisiert, dass man der Stadt so weit wie möglich aus dem Weg gehen kann und in einer abgeschlossenen, homogenen Welt leben kann.

Was in den Enklaven als neuer Lebensstil angepriesen wird, lässt sich auch in der Werbung für weniger teure Wohnblöcke wiederfinden. Den Sicherheitssystemen wird hier wieder eine grössere Bedeutung beigemessen. Dienstleistungen, Qualität und gemeinsame Einrichtungen gehören auch zum Standard. Die weite, grüne Idylle der Werbung wird dann in der Realität jedoch häufig durch eine enge, graue Betonlandschaft ersetzt, wo man in Nachbarschaft mit anderen Hochhäusern steht.

Daneben ist gerade in der Werbung für weniger luxuriöse Wohnblöcke  auch die Nähe von Metrostationen und öffentlichen Einrichtungen wichtig.

 

Die gemeinsamen Einrichtungen in den Enklaven und Apartment-Hochhäusern werden aber häufig von den Bewohnern gar nicht genutzt, weil diese trotz der physischen Nähe ihrer Wohnungen den Kontakt untereinander vermeiden. Diese menschenleeren Räume dienen deshalb oft nur als Statussymbole zum vorzeigen.

 

In den Enklaven sind die angebotenen Dienstleistungen sehr diversifiziert; es kommt heute seltener vor, dass die Reichen eine Hausangestellte haben, die sich um alles kümmert, stattdessen stehen verschiedene Angestellte für unterschiedliche Aufgaben zur Verfügung. Diese zahlreichen Hilfsarbeiter sind bei der Verwaltung der Wohnanlage angestellt und unterstehen strengen Kontroll- und Überwachungsmechanismen. Sie sind meist in formelle Arbeitsverhältnisse eingebunden. Die traditionellen Hausangestellten, die zum Teil auch bei der Familie wohnen, gibt es weiterhin; auch ihre Rechte sind seit Ende der 80er Jahre gesetzlich geschützt. Die Vervielfachung der Dienstleistungserbringer im Zuge der Entstehung der geschlossenen Enklaven hat damit zu einer Ausweitung formeller Arbeitsverhältnisse geführt.

In São Paulo sind auch viele ‚flats’ entstanden, die besonders bei der Mittelschicht beliebt sind. Dies sind kleinere Wohnungen mit 1 bis 2 Schlafzimmern, für welche Dienstleistungen wie in einem Hotel erbracht werden.

Mit dieser grossen Anzahl Angestellten, entsteht das Problem der räumlichen Anordnung. Damit sich die sozialen Schichten nicht in die Quere kommen, gibt es verschiedene Aufzüge (social und serviço), die zu verschiedenen Bereichen in der Wohnung führen. Der eine Aufzug führt in den Wohnbereich der Familie, der andere in den Haushaltsbereich der Angestellten. Obwohl diese Aufzüge ironischerweise häufig gleich nebeneinander sind, wird damit die soziale Ungleichheit ausgedrückt.

Die Mittel- und Oberschichten versucht Freiheit von der Stadt, von sozialer Durchmischung und von alltäglichen Aufgaben zu gewinnen, dies geschieht jedoch nur, wenn sie sich auf die Dienste von Leuten aus der Arbeiterklasse verlassen kann. Obwohl sie den Kontakt mit den Angestellten scheuen und ihnen misstrauen, so sind sie doch auf sie angewiesen.

Der Unterschied in der Werbung für Wohnungen für Reiche und weniger Reiche liegt darin, dass Wohnungen für die Reichen nebst den sachbezogenen Inhalten vor allem eine grüne Umgebung und glückliche Menschen in ihrer Freizeit präsentieren; Sicherheitssysteme hingegen sind Standard bei allen Enklaven und Wohnblöcken und werden nicht besonders betont. Alle neu errichteten Gebäude sind mit zahlreichen Sicherheitssystemen ausgestattet, die bei der Planung bereits miteinbezogen werden. Das Bedürfnis nach Sicherheit bietet nicht nur Schutz vor Verbrechen, sondern verstärkt durch die Kontrollmechanismen und Zugangsbeschränkungen vor allem die soziale Segregation.

 

Das Leben innerhalb einer Enklave wird als problemlos und harmonisch dargestellt. In Wirklichkeit ist es aber bei weitem nicht so idyllisch wie es einem vorgestellt wird. Auch in den Enklaven gibt es Konflikte, vor allem wenn es darum geht, die innere Ordnung aufrecht zu erhalten und Regeln durchzusetzen. Gerade in grossen Enklaven, wie Alphaville, ist die innere Sicherheit ein Problem. Drogenkonsum, das Autofahren von Jugendlichen ohne Führerschein, Vandalismus und Diebstahl kommen häufig vor; eine Bestrafung folgt selten, weil die Ordnungskräfte der Enklaven missachtet werden, da sie keine öffentliche Autorität darstellen und wie Untergebene behandelt werden.

Die inneren Probleme der Enklaven werden wenn möglich nicht öffentlich bekannt gemacht, weil dies einen grossen Einfluss auf den Wert der Grundstücke haben kann; man versucht die Probleme intern zu regeln.

Indem man interne Regeln macht und anwendet, missachtet man jedoch bestehende Gesetze - ein Privileg, dass sich nur die Reichen leisten können. Diese Ausdehnung privater Sphäre auf den (halb-)öffentlichen Raum ist eine Tendenz, die erst mit der Verbreitung geschlossener Enklaven zugenommen hat.

Zunehmend gewaltsame kriminelle Handlungen können aber auch in Alphaville nicht verschwiegen werden.

In den Medien wird die Berichterstattung über Verbrechen nur manchmal von wirtschaftlichen Krisen oder Korruptionsaffären der Politiker aus den Schlagzeilen verdrängt. Die Tatsache, dass Verbrechen, Folter, Korruption und die Missachtung von Gesetzen immer und überall geschehen, führt dazu, dass diese Vorkommnisse als trivial und fast als natürlich gesehen werden und führen deshalb zu keiner besonderen Reaktion in der Bevölkerung.

 

Alphaville, Tamboré und andere Enklaven sind heutzutage für viele keine Alternative zur Stadt mehr, weil auch dort Raubüberfälle, Entführungen und Morde geschehen, verübt im Innern der Enklave, zum Teil von den Bewohnern.

Die Verkehrswege von und nach Alphaville sind häufig verstopft, die Fahrtzeit zum Arbeitsplatz in zentrumsnahen Gebieten wird unkalkulierbar. Die Vorzüge von Alphaville, nämlich die totale Sicherheit in einer grünen Umgebung ohne Mauern und kurze Fahrtzeiten über die Autobahn ins Zentrum sind heute nicht mehr gegeben. Die Bewohner von Alphaville leben heute auch in Angst vor Verbrechen, denn sie sind ziemlich ungeschützt, weil ihre Häuser nicht durch hohe Mauern und Zäune von der Umgebung abgetrennt sind. Gegen Verbrechen, die im Innern der Enklave geschehen, scheint es trotz strenger Zugangskontrollen kein wirksames Mittel zu geben.

 

 

 

Schlussbemerkungen

 

 

Der Versuch einer Erklärung der starken sozialen Segregation und der  hohen Anzahl der Gewaltverbrechen bedingt eine umfassende Berücksichtigung verschiedenster Faktoren. Was Ursache und was Wirkung ist, oder welche Veränderungen welchen Einfluss haben, das kann bei der dynamischen Entwicklung dieser Megastadt oft nur schwer kausal nachgewiesen werden.

Die Vielseitigkeit der Probleme und Verhaltensweisen der Paulistas zu verstehen, sowie das Zusammenspiel der historischen, wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Faktoren, und damit die Besonderheit dieser Stadt zu erklären, war das Ziel dieser Arbeit.

Was bleibt, sind die Fakten, eine stark segregierte Gesellschaft, eine reiche Elite, welche sich ein Leben in luxuriösen Enklaven leisten kann, und eine arme Mehrheit der Bevölkerung, wovon 870’000 Menschen in den mehr als 600 Favelas der Stadt hausen.

São Paulo weist dabei eine Kriminalitätsrate auf, wie man sie sonst nur in Bürgerkriegsländern findet. Gewaltanwendung und Sicherheitsmassnahmen nahmen in den 90er Jahren drastisch zu.

Eine gewalttätige Polizei, ein korrupter Staatsapparat, eine unwirksame Justiz, private Gewaltanwendung und organisiertes Verbrechen sind einige der Gründe dafür.

Das Bedürfnis nach Sicherheit und die Furcht das nächste Opfer eines Verbrechens zu werden beeinflussen nachhaltig die Verhaltensweisen der Menschen.

Die Stadt hat grosse Verkehrs- und Umweltschutzprobleme, es herrscht akute Wohnungsnot und ein Mangel an Infrastruktur und sozialen Einrichtungen, besonders an der Peripherie.

Die städtischen Strukturen sind dabei ineffizient und die Politik blockiert sich selbst; Massnahmen zur Verbesserung der Lebensumstände in São Paulo sind ein Tropfen auf den heissen Stein.

Die Einbindung in den Weltmarkt zementiert die wirtschaftliche Dominanz einer zahlenmässig kleinen Elite; das Wohnen in geschlossenen Enklaven zementiert die sozialen Unterschiede.

Leider sieht die Zukunft für die meisten Paulistas genauso düster aus wie die Vergangenheit.

 

 

 

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